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Gruppendynamik

Die Infragestellung von verfestigten Führungsansprüchen

  • Stefan Kühl
  • Dienstag, 19. März 2024

Seit Anbeginn hat die Frage der Führung in der Gruppenforschung eine wichtige Rolle gespielt. Besonders die Forschungen zu Teams um Kurt Lewin bezüglich der unterschiedlichen Führungsstile von Kindergruppen – autoritär, gleichgültig, indifferent und demokratisch – haben hier einen wichtigen Einfluss gehabt.

Als Abgrenzungsfolie für einen von den Gruppenforschern favorisierten demokratischen Führungsstil diente dabei besonders der autoritärere Führungsstil, der letztlich „alle Gruppenmitglieder zu einer Identifizierung mit der jeweiligen Führung“ zwinge und zu einer „Entladung von Aggressionsbedürfnissen nach außen auf negative Bezugsgruppen durch ein internes Freund-Feind-Schema“ führe.

In der frühen Gruppenforschung zur Führung wurde jedoch übersehen, dass Gruppen in der Regel durch starke Egalitätsnormen gekennzeichnet sind. Diesen zeigen sich in einer vergleichsweisen hohen Symmetrie in der Beziehung der Gruppenmitglieder untereinander – und zwar nicht nur zwischen zwei, sondern zwischen allen Gruppenmitgliedern. Wenn Carrie gleich mit Samantha ist, so die Beobachtung von John Levi Martin und Monica Lee, dann ist in einer Gruppe bei allen persönlichen Unterschieden auch Miranda mit Charlotte gleich und darüberhinausgehend natürlich auch Carrie mit Miranda und Samantha mit Charlotte.

Die Egalitätsnormen lassen es wahrscheinlicher werden, dass sich statt einer Verfestigung von Führungsrollen eher wechselnde, intuitive Führungsansprüche in Gruppen ausbilden. Gruppen sind ein typisches Beispiel dafür, dass in einem sozialen System jedes Mitglied „in der Lage ist, den Ton anzugeben, durch Einfluss auf andere Mitglieder problematische Normen zur Anerkennung zu bringen, auszudrücken, was erwartet wird“. In solchen Szenarien gelingt die Führung, wenn einem Mitglied in „ungewöhnlichen Situationen ein Vorschlag“ einfällt, der akzeptiert wird. Dabei ist gut möglich, dass sich Führung ohne „bewussten Führungsanspruch“ durchsetzt und daraus auch kein Anrecht abgeleitet werden kann, für „andere Fälle und andere Situationen“ zu dominieren.

Welche Rolle spielt Führung in gruppendynamischen Trainings und wie werden Sie thematisiert?

Die Ausbildung von Führungsrollen in gruppendynamischen Trainings

Führungsnotwendigkeit entsteht immer dann, wenn unklar ist, was in einer Interaktionssituation erwartet wird. Das kann der Fall sein, wenn eine allgemeine Unsicherheit darüber herrscht, was getan werden muss, wenn geschriebene oder ungeschriebene Regeln viel Spielraum für Interpretation lassen oder wenn Vorgaben ergänzt oder ersetzt werden müssen. In gruppendynamischen Trainings wird diese Situation künstlich hergestellt, indem die Erwartung der Teilnehmer darüber enttäuscht werden, dass es klare Ziele für ein Training geben muss, das klare Interaktionsnormen vorgegeben sind und die Trainer diese Interaktionsnormen aufstellen und durchsetzen.

Die Entsagung des Gerüsts von „etablierten Rollen“, „akzeptierten Normen“ und „fixierten Aufgabenzuweisungen“ löst in gruppendynamischen Trainings ein hohes Maß an Verunsicherung aus. Weil die wenigsten Gruppen in der Lage sind diese eine Stunde lang schweigend auszuhalten, setzt eine „oft hektische Suche nach Orientierung und Halt“ ein. Dafür müssen zwangsläufig Teilnehmer in Führung gehen, indem sie die Stille ansprechen, von eigenen Erfahrungen berichten oder Themen vorschlagen.

Die Ausübung von Führung durch eine Person kann sich in den gruppendynamischen Trainings auf eine einmalige Situation beschränken. Es kann in den Trainings vorkommen, dass eine Person durch einen Beitrag die Entscheidung in einer Situation hoher Erwartungsunsicherheit beeinflusst, ohne dass daraus die Erwartung folgt, dass diese Person auch bei der nächsten, ähnlich gelagerten Situation wieder in Führung geht. Wenn sich in einer hitzigen Diskussion eine Person als Wortführerin zeigt, führt das nicht zwangsläufig dazu, dass ihr im nächsten Gespräch wieder die gleiche Position zugestanden werden muss.

Nicht selten verstetigen sich aber in gruppendynamischen Trainings Führungsansprüche und Führungserwartungen. Wenn jemand in einem Training häufig in einer kritischen Situation in Führung geht, fangen die anderen Teilnehmer an zu erwarten, dass dies immer wieder der Fall sein wird und nehmen sich selbst zunehmend zurück. Die Person, die häufiger in Führung geht, spürt diese Erwartungshaltung nach Führung und erhält dadurch bessere Möglichkeiten einen Anspruch durchzusetzen. Der Vorrang eines Gruppenmitglieds nimmt eine „sich selbst verstärkende Sicherheit an“.

In der Literatur wird dies durch die Identifikation immer wiederkehrender Figuren in den gruppendynamischen Seminaren erreicht. In Führung gingen häufig Personen, die „Alpha-Positionen“ einnähmen und sich als Sprecher und Repräsentant in der Gruppe positionieren würden. Parallel dazu würden sich Personen auf „Beta-Positionen“ etablieren, in denen sie als Schiedsrichter, Vermittler Experte oder Kritiker wirken würden. Dies würde erst dadurch ermöglicht werden, dass sich Personen mit „Gamma-Positionen“ begnügen, in dem sie als Mitläufer, Helfer oder Unterstützer die Führungsansprüche anderer stützen würden. Jedoch gerieten Gruppenmitglieder auch auf „Omega-Positionen“, in dem sie von Personen auf der Alpha oder Beta-Position als Außenseiter, Sündenbock oder Prügelknabe markiert werden. 

Reflexivität als Mechanismus zur Problematisierung von Führungsansprüchen

Durch das gruppendynamische Setting werden die Teilnehmer in eine Situation gebracht, in der sie permanent austarieren müssen, wie stark sie die Erwartungsunsicherheit durch eigene Führungsimpulse reduzieren wollen. Dabei stehen sie vor der Herausforderung, dass sowohl ein kompletter Verzicht auf Führungsansprüche als auch eine Konzentration von Führungsansprüchen auf die eigene Person als problematisch angesehen werden kann. Wenn ein Teilnehmer überhaupt nie die Initiative ergreift, besteht die Möglichkeit zu fragen, weswegen die Bereitschaft fehlt, etwas zur Gruppe beizutragen. Wenn zu häufig versucht wird, die Erwartungsunsicherheit durch Führungsimpulse zu reduzieren und sich dadurch Führungsansprüche ausbilden, kann dies als übermäßige Dominanz in der Gruppe problematisiert werden. 

Die Selbstbeobachtung der Gruppe ist darauf ausgerichtet, die Übernahme oder Nichtübernahme von Führung in der Gruppe zu beobachten: Wer eröffnet nach einer Pause das Gespräch? Wer bringt Themenvorschläge ein? Wer greift bei Konflikten moderierend ein? Besonders wird dabei darauf geachtet, ob sich in den Interaktionen Muster ausbilden, in denen dieselben Teilnehmer die Initiative ergreifen und sich so an Personen gebundene Führungsansprüche und Führungserwartungen ausbilden. Diese Beobachtungen werden anschließend in der Gruppe thematisiert und die Ausbildung oder Nichtausbildung von Führungsrollen problematisiert.

Der Mechanismus, der diese Beobachtung und Thematisierung legitimiert, ist die Reflexivität. Diese bildet sich deswegen aus, weil gruppendynamische Trainingsgruppen nicht auf eine „gemeinsame Geschichte“, einen „gemeinsamen Entstehungsmythos“, einen „thematischen Fokus“ oder ein „kollektives Gefühl der Zugehörigkeit“ zurückreifen können. Die einzige Möglichkeit zur Vergemeinschaft besteht darin, dass „sie den Prozess der eigenen Vergemeinschaft zum Gegenstand der Vergemeinschaftung machen“.

Führung ohne Möglichkeit zur Ausbildung von Hierarchien

In der Szene der Gruppendynamiker wird seit ihrer Gründungsphase immer wieder die Hoffnung artikuliert, dass die Trainings dazu beitragen können, Alternativen zur hierarchischen Führung zu etablieren. Es geht, so der Tenor, bei den gruppendynamischen Trainings nicht um einen „Abbau von Autoritätsfixierung“ in Organisationen, sondern um das Erlernen von „Rotation der Führungsfunktion“. Dieser hierarchiekritische Diskurs ist insofern nachvollziehbar, weil das Trainings-Setting nicht in die Lage versetzt wird, die Ausbildung von Hierarchie zu simulieren.

Der Clou der Hierarchie besteht darin, dass die Führungsansprüche in Organisationen – anders als in den gruppendynamischen Trainings – nicht jeder Zeit neu ausgehandelt werden müssen, sondern in zeitlicher, sachlicher und sozialer Hinsicht generalisiert werden.  Generalisierung bezeichnet dabei den Prozess, mit dem eine Orientierung von einem Einzelereignis unabhängig gemacht, von der Tagesform befreit und gegenüber Störungen immunisiert wird.

Durch Führungsrollen werden Hierarchien zeitlich unbegrenzt hervorgebracht. Es mögen in Organisationen Modelle von zeitlich begrenzten Vertretungen von Vorgesetzten, von Interimsmanagements oder auch zeitlich befristeten Führungsaufgaben existieren. Grundsätzlich kann jedoch jedes Organisationsmitglied davon ausgehen, dass der Hierarch von heute auch noch der Hierarch von morgen ist. Niemand ist überrascht, wenn die Chefin von heute am nächsten Morgen auch noch ganz selbstverständlich ihren Assistenten um die Erarbeitung einer Entscheidungsvorlage, die Koordination eines Termins oder auch nur eine Tasse Kaffee bitten würde. Im Gegenteil – Organisationsmitglieder wären hochgradig irritiert, wenn sich die Chefin von einem Tag auf den anderen nicht mehr wie eine „Chefin“ verhalten würde.

Die Hierarchie legt darüber hinaus eindeutig fest, wie die soziale Ordnung in der Organisation erfolgt. Ein hierarchisch aufgebautes Organigramm reguliert die maßgeblichen sozialen Beziehungen aller Mitglieder und trägt so dazu bei, dass Verhalten der einzelnen Organisationsmitglieder zu koordinieren. Sicherlich gibt in Organisationen durchaus Mitarbeiter, die nicht genau wissen, welchem Vorgesetzten sie zugeordnet sind und es mag Phasen geben, in denen sich Vorgesetzte darum streiten, wer für einen Mitarbeiter verantwortlich ist. Gleichwohl kann festgestellt werden, dass solche Unklarheiten sehr schnell ausgeräumt werden. Halten sich Widersprüchlichkeiten oder Unklarheiten in der sozialen Zuordnung von Mitarbeitern, dann ist es die Aufgabe der vorgesetzten Stelle, die Sache wieder in (die) Ordnung zu bringen.

Die Verteilung von sachlichen Zuständigkeiten innerhalb einer Organisation erfolgt ebenfalls durch ihre Hierarchie. Und zwar nicht nur horizontal zwischen den Abteilungen auf der gleichen Ebene, sondern auch vertikal zwischen den einzelnen Hierarchiestufen. Dabei bleibt aber die Option erhalten, dass jedes Thema von unten nach oben gezogen werden kann (vgl. Kühl 2002, 75ff.). Zwar greifen Hierarchen nur in Ausnahmesituationen zu der Maßnahme, dezentral angesiedelte Verantwortungen an sich zu ziehen, sie behalten sich aber immer die prinzipielle Möglichkeit und das formale Recht vor, jede weiter unten angesiedelte Entscheidungssituation an sich zu reißen und einen Problembereich zur „Chefsache“ zu erklären.

Diese Mechanismen einer zeitlichen, sozialen und sachlichen Generalisierung können nur sehr begrenzt simuliert werden, weil sich in den Trainings kaum formale Mitgliedschaftsbedingungen ausbilden. Genau diese formalen Mitgliedschaftsbedingungen sind aber die Voraussetzung dafür, dass sich Führung in Form einer Hierarchie kristallisiert. In Organisationen gehört die Anerkennung der Hierarchie zu den formalen Erwartungen, denen man sich unterwerfen muss, wenn man Mitglied in ihr bleiben möchte. Die Verpflichtung der Mitglieder zur Anerkennung der formalen Hierarchie ist möglich, weil die Mitgliedschaft in Organisationen grundsätzlich mobil ist – kurz: eine Person erst durch die Beitritts- und Aufnahmeentscheidungen Mitglied wird und die Mitgliedschaft durch gegenläufige Entscheidungen wieder entzogen werden kann.

Wenn man den Mechanismus der formalen Bindung an Hierarchie simulieren wollte, müsste man in den gruppendynamischen Trainings mit der impliziten oder expliziten Drohung der „Entlassung“ aus dem Training arbeiten, sollten Führungsansprüche nicht akzeptiert werden. Doch genau dieser Mechanismus ist in den Trainings nicht vorgesehen, denn das unausgesprochene Ziel ist es, dass die Teilnehmer bis zum Ende des Trainings bleiben. Bestenfalls kann in gruppendynamischen Trainings am ehesten etwas über Hierarchien gelernt werden, wenn man die Trainer als Hierarchen begreift, die sich kontinuierlich weigern, ihre Rolle wahrzunehmen und es darauf anlegen, durch die Gruppe gestützt zu werden.

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Organisationen im Labor?

Autor
Stefan Kühl

Prof. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

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