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Matthiesen meint

Keine Ahnung wohin das alles führt

  • Kai Matthiesen
  • Donnerstag, 28. Juli 2022
Keine Ahnung wohin das alles hinführt
© Timo Müller, Die Illustratoren

Die Renaissance der Strategie in Zeiten der Orientierungslosigkeit

Was ich von Vorstandsgremien und Geschäftsführungen in den letzten Monaten sehr häufig höre: „Im Moment geht es ja gut. Dieses Geschäftsjahr wird gut. Aber nächstes Jahr und danach? Keine Ahnung, wo wir da landen. Geht es so weiter oder wird uns eine oder mehrere der großen Veränderungen so hart treffen, dass wir umsteuern, restrukturieren oder ganz neu denken müssen?“

Diese sorgenvolle Orientierungslosigkeit ist nicht nur auf eine Branche beschränkt – und COVID nicht mehr das alles beherrschende Thema. Es geht um Energieknappheit, dabei ist spätestens seit der 1972 erschienenen Studie „Die Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome klar, dass die Industrialisierung am Tropf fossiler Energien hängt. Es geht um globale Lieferketten, deren Fragilität z.B. schon bei der Chip-Knappheit nach Fukushima 2011 deutlich geworden war, und die unter der dominanten Ideologie des Just-In-Time unbeirrt weiterverfolgt wurden. Es geht um Arbeitskräftemangel, der selbst  2015 nicht als Grund für reformierte Einwanderungsgesetze geltend gemacht wurde. Es geht um die Stabilität des globalen Finanzsystems, dessen Dynamiken auch renommierte Wirtschaftswissenschaftler:innen nie durchschauten – und nein, es liegt nicht an den verteufelten Kryptowährungen, dass die Inflationsraten in die Höhe schnellen. Es geht um die Abhängigkeit von autoritären Regimen, deren Rohstoffreserven oder Absatzmärkte wir schätzten und mit denen wir reihenweise Pakte schlossen, die selbst Faust nicht eingegangen wäre.

Und bei einigen weitsichtigeren Führungspersönlichkeiten geht es noch um die Folgekosten des Klimawandels, die nicht wie die Ahr-Flut aus der staatlichen Portokasse zu bezahlen sein werden. Es geht um die neuen Monopole der Plattform-Ökonomie, die wir unter wirtschaftsliberalistischem Deckmantel Albtraum-Renditen abschöpfen lassen. Es geht um die wirtschaftlich-soziale Ungleichheit, global wie auch im eigenen Land, die Brüche und Verwerfungen neuer Dimension auslösen könnte.

Die öffentlich diskutierten Befürchtungen könnte man auf die Kurzformel bringen: „Der Wald brennt und der Ofen ist aus!“ Warum die vielen bedrohlichen Themen gerade jetzt im kollektiven Bewusstsein so viel Raum einnehmen, könnte in einer durch die COVID-Pandemie erhöhten Sensibilität liegen. Die vermeintliche Sicherheit und Vorhersagbarkeit sind erschüttert. Dabei gab es große Ungewissheiten schon immer. Meine Großeltern erzählten von Inflation und Wirtschaftskrise, von Krieg und Flucht, meine Eltern von Kubakrise und Ölschock, von Rationalisierungen durch EDV und hoher Arbeitslosigkeit; meine Generation hat den Nato-Doppelbeschluss und Tschernobyl, den Mauerfall und das Platzen der New-Economy-Bubble erlebt.

Jetzt blicken wir auf mindestens zwanzig Jahre zurück, in denen man sich in der Wirtschaftswelt schon die Ohren zuhalten musste, wenn man dem VUCA-Geschwafel entkommen wollte. Die 00er und 10er Jahre waren voll von Beschwörungen der Bedrohung durch Digitalisierung und Globalisierung. Dabei waren diese Jahre für viele Branchen ein langer ruhiger Fluss. Vieles hat sich verändert, und doch war Weniges unvorhergesehen. Brüche blieben anekdotisch und auf wenige Unternehmen, Branchen, Länder beschränkt und wurden als beherrschbar normalisiert. Enron und Lehman Brothers, AOL und Monsanto, und selbst Griechenland und Fukushima blieben Episoden. Wir haben uns nur daran gewöhnt, dass alles einigermaßen zu laufen schien. Wie gehen wir also mit der neuen Unsicherheit um?

Organisationen haben eigentlich ein gutes Mittel für den aktiven Umgang mit Unsicherheiten: Die „Strategie“. Aktionspläne für die (unsichere) Zukunft werden abgestimmt. Prioritäten werden gesetzt. Optionen werden bewertet und ausgeschlossen. Abgestimmtes Handeln in dem dafür gesetzten Korridor wird möglich. Szenarien werden entwickelt, um zu prüfen, welche strategischen Entscheidungen nicht nur einer, sondern mehreren möglichen Zukünften standhalten können. Redundanzen werden in Kauf genommen, um eine robuste, Resilienz versprechende Strategie verfolgen zu können. Man programmiert die Organisation, schafft stützende Struktur. Man setzt der Organisation und ihren Akteur:innen Scheuklappen auf, damit diese trotz Unsicherheit handlungsfähig bleiben und geradeaus laufen können.

In Zeiten, in denen alles gleich oder ähnlich bleibt, kann man auf solcherlei „Übungen“ verzichten. Dann übernehmen kluge Controller:innen und deren Budgetierungsprozesse, Rolling Forecasts und MiFris. Umsätze und Margen werden extrapoliert, ggf. gibt es noch eine eingeplante Varianz zwischen „best case“ und „worst case“, die aber möglichst nur einige Prozentpunkte betragen sollte. Dann muss nur noch der Plan möglichst genau erfüllt werden. Abweich­ungen in jede Richtung sind böse und werden vom „Gott des Controllings“ mit Bonuskürzungen bestraft. Soweit das eingeübte Spiel „strategischer Buchhaltung“. Mit Strategiearbeit hat das nicht viel zu tun.

Kommt es also angesichts der größeren wahrgenommenen Ungewissheit zu einer Renaissance der Arbeit an Strategien und Szenarien? Die Bereitschaft sollte gestiegen sein, robuste Strategien zu entwickeln, um die Handlungs­fähigkeit von Organisationen zu gewährleisten oder wiederherzustellen.

Manchmal tut sich noch ein anderer Weg auf: alles schaut auf die Führungs­person, die Sicherheit vermitteln soll. Von ihr wird dann schlicht verlangt zu sagen, wo es lang geht. Das schafft die Klarheit, die keine Führungskraft haben kann. Sicher ist es Aufgabe von Führungskräften, Unsicherheit zu absorbieren bis zur Heuchelei, wie der Organisationsforscher Nils Brunsson schreibt. Das mag für die Organisation funktional sein, für die Führenden aber nicht. Die Organisation entlastet sich auf Kosten der führenden Personen, aber nur wenn diese die Rollenzuweisung annehmen.

Wer sich dieser übergriffigen Überlastung der Organisation entziehen möchte, der oder dem bleibt die intensive Auseinandersetzung mit der Unternehmens- oder Bereichsstrategie. Mit den klugen Köpfen der Organisation werden gemeinsam Richtungen und Richtungsweisungen in einem Umfeld voller Unwäg­barkeiten entwickelt. So kann es gelingen, Unsicherheit von der führenden Person auf die Struktur zu verlagern. Durch einen multiperspektivischen Prozess bildet die Strategie die hohe Variabilität der Umwelt ab und stabilisiert die Zukunftserwartungen in einer als unsicher wahrgenommenen Welt – zumindest  innerhalb der Organisation.

Autor
Kai Matthiesen

Dr. Kai Matthiesen

hat ein besonderes Augen­merk auf die alltäglichen Aufgaben von Organisations­mitgliedern – und was von ihnen formal eigentlich gefordert ist.

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