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Podcast: Die Humanisierung der Organisation

#4 Brauchbare Illegalität

  • Judith Muster
  • Kai Matthiesen
  • Andreas Hermwille
  • Freitag, 4. November 2022

Man kann in Organisationen nicht alles regeln – und schon gar nicht richtig. Man braucht die Menschen, um die Nachteile der Formalstruktur auszugleichen. Doch gleichzeitig darf man sich nicht zu stark auf sie verlassen. Wie man die Waage findet – und was man tut, wenn sich niemand mehr an die formalen Regeln hält – darüber sprechen Judith Muster, Kai Matthiesen und Andreas Hermwille in dieser Folge.

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Andreas Hermwille: Wir haben schon darüber gesprochen, dass Menschen in Organisationen die Defizite der organisationalen Struktur ausgleichen. Was heißt das genau?

Kai Matthiesen: Nur weil man sich formale Regeln ausdenkt, werden sie nicht automatisch auch befolgt. Und zwar auch, weil der Mensch mit seiner Klugheit dazu kommt und zum Beispiel denkt: Okay, das funktioniert hier nicht so, wie wir es uns überlegt haben, das müssen wir anders machen. Das Tolle daran ist, dass der Mensch mit seinem Wesen in dieser Perspektive nicht das ist, was stört, weil er sich nicht so verhält, wie die Organisation es von ihm will. Im Gegenteil ergänzt der Mensch die organisationale Struktur produktiv, weil er sich überlegt: Wie kann ich das Beste machen aus der Organisation, die mich umgibt? Die Menschen bringen das Ganze überhaupt erst zum Funktionieren. Eine formale Organisation ohne informale Ausgleichsmechanismen würde nicht überleben.

Judith Muster: Die Organisation braucht einerseits formale Strukturen, um Erwartungssicherheit herzustellen und sich abzusichern zum Beispiel gegen Compliancevorfälle oder für bessere Qualität. Und andererseits passt das, was formal strukturiert wurde, nicht immer mit dem zusammen, was man tatsächlich erlebt, weil plötzlich der Kunde doch andere Wünsche hat oder das Schiff doch anders beladen wurde als geplant. Und dann einigt man sich situativ, weil die formale Struktur nicht für alle Evantualitäten ausgelegt ist. Gerade dadurch, dass man sagt, so soll es sein, kann man ja auch die Abweichung beschreiben und eventuell auch die Regeln neu justieren.

Der Mensch füllt die Lücken der Formalstruktur

Andreas Hermwille: Das heißt der Mensch füllt die Lücken der Formalität, indem er situativ auf den Umstand reagiert, dass keine passende formale Struktur vorhanden ist?

Judith Muster: Man kann nicht alles regeln. Auch, weil nicht alles überhaupt regelbar ist oder weil es Gesetzen wiederspricht, zum Beispiel arbeiten über die im Arbeitsschutzgesetz festgelegte Zeit hinaus. Informalität ist viel mehr als nur ein Vorschlag für bessere Regeln. Sie ist ein Ausgleichsmechanismus dafür, dass die Umwelt von Organisationen komplexer ist, als die Organisation es formal­strukturell abbilden kann.

Kai Matthiesen: Mal ist es eine schnelle Reaktion, die sich aus der Situation ergibt, mal sind es auch über die Zeit etablierte Routinen, die sich aus der Erfahrung entwickelt haben.

Informalität ist viel mehr als nur ein Vorschlag für bessere Regeln. Sie ist ein Ausgleichsmechanismus dafür, dass die Umwelt von Organisationen komplexer ist, als die Organisation es formalstrukturell abbilden kann.

Judith Muster: Von Informalität sprechen wir erst, wenn es keine einmalige Abweichung ist, sondern eine etablierte Erwartungsstruktur jenseits der formalen Struktur, die sich aus regelhafter Regelabweichung ergeben hat.

Andreas Hermwille: Geht es immer um Abweichungen? Was ist zum Beispiel mit kollegialem Austausch jenseits der formal geregelten Kontaktpunkten?

Judith Muster: Für mich ist Informalität immer eine Abweichung von der formalen Struktur. Auch Kollegialität ist eine Abweichung von dem, was formal geregelt ist, wenn zum Beispiel Kolleg*innen untereinander darüber überein­kommen, dass Karriereambitionen nicht so stark gemacht werden, wie es der Personalentwicklungsplan vorsieht.

Auch formale Strukturen können sich über die Zeit entwickeln

Andreas Hermwille: Und wie fasst man sehr offene Rollenbeschreibung zum Beispiel von Organisationen, die ihren Mitgliedern nur ungefähr sagen, was zu tun ist, weshalb sich der Ablauf auf Basis von persönlichen Erwartungen und dem eingespielten Miteinander ergibt?

Judith Muster: Formal geregelt heißt nicht automatisch schriftlich niedergelegt. Auch formale Strukturen können sich über die Zeit etablieren. Solange es mit anderen formalstrukturellen Regeln nicht im Widerspruch steht ist es Formalität, erst die Abweichung ist Informalität. Zum Beispiel funktionieren formale Zweck­programme nach dem Prinzip „alles, was nicht verboten ist, ist erlaubt“. Und Informalität ist nicht nur der reine Regelbruch, sondern auch andere Abweichungen wie zum Beispiel kollegialer Tausch in strategischen Cliquen, die sich gegenseitig in ihren Karrieren unterstützen und jenseits der formalen Zuständigkeit persönliche Ziele durchsetzen.

Kai Matthiesen: Nicht alles in der Organisation ist Schritt für Schritt verregelt, und der Mensch füllt diese Regellungslücken auf formale oder informale Weise. Am Beispiel von Zweckprogrammen: Die Entscheidungsprämisse Personal füllt ganz formal den Raum, den die Entscheidungsprämisse Programm gelassen hat. Das heißt, indem ich eine bestimmte Person auf einer bestimmten Stelle darauf ansetze, dieses Zweckprogramm auszuführen, treffe ich eine Entscheidung darüber, wie das Programm ausgestaltet wird, weil eine andere Person mit anderen Fähigkeiten das Programm anders ausfüllen würde.

Jeder Mensch füllt eine organisationale Rolle unterschiedlich aus

Judith Muster: Menschen füllen Rollen einfach unterschiedlich aus, worauf sich die Organisation immer auch einstellen muss. Wenn zum Beispiel eine neue Abteilungsleiterin eingestellt wurde mit der Erwartung, innovativ und technisch fit zu sein, kann es sein, dass man über die Zeit herausfindet, dass diese Person zwar sehr innovativ aber technisch doch nicht so fit wie gedacht ist. Und dann steuert man nach, indem man eine andere Person damit beauftragt, die innovative Abteilungsleiterin technisch zu unterstützen. Auch wenn nichts davon formal festgeschrieben ist, ist es nicht gleich Informalität, sondern einfach die Ausgestaltung der Formalität.

Kai Matthiesen: Ein Beispiel für Informalität wäre, wenn eine innovative Person im Team entscheidet, aus dem Budget, das für die Weiterentwicklung eines bestimmten Produktes vorgesehen ist, einen Teil abzuzweigen und damit eine andere Idee zu verwirklichen, die vielleicht auch im Sinne der Organisation ist, nur nicht im Sinne des ursprünglichen Budgetplans.

Andreas Hermwille: Wie unterscheidest du dann zwischen Informalität und brauchbarer Illegalität?

Judith Muster: Brauchbare Illegalität ist immer der klare Bruch mit der Regel, also dass etwas tatsächlich Verbotenes getan wird. Kollegialität ist zum Beispiel ja nicht verboten, sondern es entstehen abweichend von der Formalstruktur informale Erwartungen, die man auch noch erfüllen muss. Und diese Erwartun­gen können der Formalstruktur widersprechen, weil zum Beispiel Arbeit, die formal der Kollege machen müsste, von mir mitgemacht wird, weil der Kollege ein Kind hat das an dem Tag Geburtstag feiert.

Informale Strukturen sind oft besonders effizient, weil sie nicht formal sind

Andreas Hermwille: Wenn Mitglieder einer Organisation informale Workarounds gefunden haben, die fantastisch funktionieren – warum macht man dann nicht immer eine formale Struktur daraus?

Kai Matthiesen: Oft kommt der Erfolg einer informalen Struktur aus der Achtsamkeit, die man hat, weil es eben formal nicht erlaubt ist. Es wird gewissermaßen darauf geachtet, die informale Regel besonders gut anzuwen­den, damit niemand merkt, dass es so eigentlich nicht vorgesehen ist. Wir hatten in der Beratung mal einen Fall in einer Baufirma, wo die Bauleiter im Sommer keinen Urlaub nehmen durften, aber bei genauerer Betrachtung alle Bauleiter im Sommer Urlaub genommen haben. Dadurch, dass der Urlaub eigentlich nicht erlaubt war, haben sich die Bauleiter so gut um die Übergaben gekümmert, dass die Baustelle auch in ihrer Abwesenheit perfekt weiter lief, so dass nicht aufgefallen ist, dass die Bauleitung fehlt.

Da hat sich das Team halt zusammengesetzt und überlegt, wie man sich gegenseitig so auffangen kann, dass in den sechs Wochen Sommerferien alle einmal mit ihren Familien in den Urlaub können. Das Beharren darauf, dass im Sommer nicht in den Urlaub gegangen werden darf, und gegebenenfalls auch das Weggucken, wenn auffällt, dass jemand doch im Urlaub ist, haben dazu geführt, dass sich die Bauleiter so vorsichtig abgestimmt haben, dass wirklich nichts schief ging und die Baustelle perfekt weiter lief. Also manchmal kann es klug sein, die Informalität aufrecht zu erhalten und zu pflegen, weil es funktional für die Organisation ist.

Wenn Mitglieder formale Regeln brechen, ist die Organisation aus dem Schneider

Andreas Hermwille: Könnte man sagen, dass hier mit formaler Anordnung dafür gesorgt wurde, dass auf persönliche Erwartungsbildung als stabilisierende Struktur gewechselt wurde?

Judith Muster: Es wurde ja nicht so geregelt, sondern es hat sich eingelebt. Informalität ist leider kein Gestaltungshebel. Man kann es nicht planen, aber man kann es sich anschauen und beobachten, wie sich etwas etabliert, das am Ende für Person und Organisation funktional ist. Aber wenn man das so geplant hätte, hätte das nicht so gut funktioniert.

Andreas Hermwille: Wir hatten noch einmal fest: Bei brauchbarer Illegalität kann es auch um die organisationalen Regeln gehen, die gebrochen werden, nicht zwingend um Gesetze.

Kai Matthiesen: Es kann sich überschneiden, muss es aber nicht. Es kann sein, dass etwas, was die Organisation nicht will, auch der Gesetzgeber nicht will. Es kann aber auch sein, dass es gesetzlich legal wäre, es aber die Organisation es nicht will.

Wie Homeoffice zu mehr Beziehungsarbeit führt

Jetzt wird’s persönlich

Judith Muster: Gerade deshalb ist es so wichtig für uns, hier die Person in Anschlag zu bringen. Weil das gemeine ist: Die Organisation hat die formale Regel erlassen und wenn ich als Mitglied die Regel breche, weil ich zum Beispiel über die gesetzlich geregelte Arbeitszeit hinaus arbeite, kann ich am Ende für dieses Verhalten gekündigt werden. Und die Organisation ist aus dem Schneider, weil sie sagen kann, wir haben doch die Regel, dass nicht über die gesetzlich geregelte Arbeitszeit hinaus gearbeitet werden darf.

Kai Matthiesen: Auch wenn es für die Organisation brauchbar war, was das Mitglied illegal gemacht hat, kanndie Organisation der Person die Abweichung als Fehler zuschieben. Das ist für Organisationen sehr praktisch.

Mit dem Staubwedel durch die Organisation

Andreas Hermwille: Es gibt eine spannende These von euch, die ein bisschen daran anschließt, und zwar meint ihr im Buch, dass man die formale Regel immer mal wieder abstauben muss, damit man sich weiter an sie erinnert. Weil es passieren könnte, dass die informal eingelebte Struktur so zum Normalfall wird, dass sich Teams quasi unabhängig von der Organisation bewegen können, was die Organisation in Schwierigkeiten bringen kann, weil sie keinen formalen Zugriff mehr auf ihre Mitglieder hat. Warum funktioniert das? Und wie kann man Organi­sation damit umgehen? Einerseits möchte man ja coole Workarounds, weil die helfen, die Innovation am Laufen zu halten, andererseits möchte man natürlich auch nicht, dass sich die eigenen Abteilungen entkoppeln.

Kai Matthiesen: Ich habe immer wieder mal Beratungsprojekte, in denen die Geschäftsführung nicht mehr imstande ist, das Unternehmen richtig zu führen, weil eigentlich nichts mehr nach den formalen Regeln läuft. Formale Regeln sind ja solche, über die man auch entscheiden kann, im Gegensatz zu informalen Regeln, die sich einleben. Wenn eine Organisation aber nur noch nach informa­len Strukturen lebt, die nicht entscheidbar oder nicht entschieden sind, dann hat man als Organisationsgestalter keine Chance mehr, gestaltend einzugreifen. Wir haben auch schon Organisationen erlebt, wo es immer wieder neue formale Regelungen gab, zum Beispiel über Tarife, die aber keiner einge­halten hat, weil alle sich einig waren, dass man das anders macht. Und die Geschäftsführung und die Gewerkschaft konnte verhandeln, was sie wollte, es wurde alles letztlich anders gelebt.

Informalität löst Probleme, die die Formalität hinterlässt

Judith Muster: In solchen Situationen ist die Veränderung von Organisation massiv erschwert. In einem Beratungsprojekt hat ein Auftraggeber mal zu mir gesagt „wir haben jetzt diese neue Organisationsform durchgesetzt und es gab überhaupt keinen Widerstand“. Das ist nicht immer eine gute Nachricht. Das kann auch bedeuten, dass einfach alle sagen „okay, das interessiert mich eigentlich sowieso nicht, weil ich mich vorher schon nicht an die formale Struktur gehalten habe“.

Ich hatte auch einmal die lustige Situation, als ich in einer Organisation einen zertifizierten DIN Prozess erhoben habe. Dort hatte die Organisation einen formalen Prozess aufgeschrieben, der eigentlich schon eine brauchbare Illegalität darstellte, da er vom DIN Prozesses abwich. Und dann gab es noch den informellen Prozess, der abgebildet hat, wie es eigentlich lief.

Andreas Hermwille: Wie erkennt man,bestenfalls bevor man einen neuen Prozess entwickelt, dass man sich die Informalität gerade gefährlich von der Formalität entkoppelt hat?

Kai Matthiesen: Wenn man eine Abweichung zwischen dem, was man eigentlich organisieren wollte, und dem, was tatsächlich stattfindet, feststellt, dann muss man sich immer überlegen, ob man vielleicht bestimmte Informalitäten formali­siert oder unterbindet oder weiter bestehen lässt. Das ist auch unser Job als Beraterinnen, das zu erkennen.

Judith Muster: Dinge, die man in der Informalität findet, sind meistens Lösungen für Probleme, die die formale Struktur hinterlässt. Für irgendwen sind diese Lösungen auf diese informale Weise immer brauchbar funktional. Und wenn man jetzt die Organisation gestalten will, muss man diese Probleme, für die die Informalität funktional ist, anders lösen, sonst wird man die Informalität nicht auflösen oder verändern können.

Dr. Judith Muster

verfolgt den Anspruch, dass eine gute soziologische Analyse immer auch witzig sein sollte.

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Kai Matthiesen

Dr. Kai Matthiesen

hat ein besonderes Augen­merk auf die alltäglichen Aufgaben von Organisations­mitgliedern – und was von ihnen formal eigentlich gefordert ist.

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Andreas Hermwille

freut sich wenn er eine Frage findet, die Geschichten als Antwort haben.

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