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Die Bürde des Entscheidens

Das Midas-Gold der Moderne

  • Günther Ortmann
  • Freitag, 17. Mai 2024
Der Riese Zufall

Dass nichts mehr via Religion und Tradition festliegt; dass alles so-und-auch-anders möglich ist: eben das also heißt im Fachjargon der Soziologen Kontingenz. Es gilt als Signum der Moderne. Man kann es, und das war auch die erste Reaktion, als Freiheit begrüßen – als Befreiung aus religiöser oder traditioneller Enge.  

Inzwischen ist man nachdenklicher geworden. Dass alles auch anders möglich ist, dass nichts selbstverständlich-so-und-nicht-anders gemacht werden muss, bedeutet ja: Dauernd muss man sich entscheiden. Die Freiheit der Kontingenz impliziert den potenzierten Zwang zur Entscheidung. Niklas Luhmann hat Kontingenz daher „das Midas-Gold der Moderne“ genannt. Tradition, Üblichkeit, Konvention, einmal vom Blitz der Reflexion berührt, zerfällt. Wie wir unsere Kinder erziehen; wie wir mit werdendem Leben umgehen; wann jemand als tot gilt; wie wir arbeiten: es muss entschieden werden, weil es unentschieden ist.  

Als ob das nicht schon schlimm genug wäre, scheint für die Moderne zu gelten, was Luhmann auf die Formel gebracht hat: Alles ist anders möglich, und nichts kann ich ändern.  

Nicht: nichts ändert sich, aber: nichts kann ich ändern. Die Freiheit, welche die Moderne mit der einen Hand gibt, scheint sie mit der anderen zu nehmen. Sie öffnet Fenster zu möglichen Welten und schlägt uns, die wir hinaus wollen, die Tür vor der Nase zu. Der Befreiungsschlag „Gott ist tot“, eröffnet nur den Blick auf eine zwiespältige Einsicht: Der Mensch ist das Tier, das selbst die Linien zieht, über die es stolpert; das sich in selbstgemachten Entscheidungskorridoren und systemischen Blockaden verstrickt, Determinantenstaus, für die es inzwischen viele wissenschaftliche Namen gibt, alle von großer metaphorischer Bewandtnis: inertia (strukturelle Trägheit), Rigidität, Erfolgsfalle, die Blockaden der Mikropolitik („resistance to change“), circuli vitiosi, Sklerose, lock in (Verriegelung, siehe unten), straight jacket (Zwangsjacke), Trajektorien (Flugbahnen), die Defektionsketten der Spieltheorie (in Gang gehalten, ironisch genug, durch ein biblisches „Wie du mir, so ich dir“), soziale und technologische Schließung, Kosten- und Entscheidungsremanenz, dissipative Strukturen, Hyperzyklen, Selbstorganisation.  

„Sesam öffne dich, ich möchte hinaus.“ (Stanislaw Jerzy Lec)  

Erstmals in: Kunst des Entscheidens. Velbrück Wissenschaft Weilerswist 2011.
Wir danken dem Verlag für die Erlaubnis, den Text hier neu zugänglich zu machen
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Günther Ortmann

Prof. Günther Ortmann

war zuletzt Professor für Führung an der Universität Witten/Herdecke im Department für Management und Unternehmertum.

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