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Datenbasiertes Entscheiden

Data-driven Management bringt nicht mehr Objektivität - nur andere Argumente

  • Zeljko Branovic
  • Sebastian Barnutz
  • Montag, 22. November 2021
Data-Driven Management bringt nicht mehr Objektivität
© plainpicture/Lubitz + Dorner

Um möglichst rationale und objektive Entscheidungen zu treffen, setzen viele Unternehmen auf data-driven Management: Was entschieden wird, soll faktenbasiert sein und nicht mehr durch persönliche Wünsche oder Meinungen verwischt werden. Dabei können nur die wenigsten Datenerhebungen wirklich klar zeigen, welche Entscheidung richtig ist.

Was für Menschen das Streben nach Glück ist, ist für Organisationen das Streben nach Rationalität: Es ist das ultimative Ziel, dass Entscheidungen und Handlungen so logisch und fundiert wie möglich sein sollen. Bauchgefühl und Intuition gibt es natürlich auch – aber ist nur das notwendige, zeitsparende Übel. Sie passen nicht in die formalen Anforderungen einer Organisation. Man kann ins Protokoll der Vorstandssitzung nicht schreiben „Grundlage für die Entscheidung, das Budget der R&D zu erhöhen, ist die optimistische Stimmung innerhalb des Vorstands.“

Es muss immer eine Legitimation geben, die entweder auf vergangenen Ereignissen oder erwarteten Effekten beruht – also etwas, das beobachtbar ist und am besten durch Daten quantifizierbar.

Im Streben nach Datafizierung steckt auch der Wunsch nach Ruhe in der Organisation, und dem Ende von unnötigen Streitereien. Wenn man endlich die objektive Entscheidungsgrundlage hat, die eindeutige Beschreibung des Problems, die ganz harten Fakten – dann sollte es doch endlich möglich sein darüber zu sprechen, was zu tun ist und nicht dabei stehen zu bleiben, über die Lage zu diskutieren.

Das schwer erfüllbare Versprechen des data-driven Management

Unabhängig davon welche Methoden zum Datensammeln genutzt werden und worauf das Sammeln zielt (vielleicht auf die eigene Organisation, um Entscheidungswege und Teamprozesse zu optimieren, vielleicht auf die Umwelt, um besser zu verstehen, welche Produkte warum wann gekauft werden), ist die Verbindung aus gesammelten Daten und dem Ableiten der Entscheidung erstaunlich schwer.

Nur weil man Ergebnisse hat, also Symptome kennt, weiß man noch nichts über ihre Ursachen, an denen Entscheidungen ansetzen sollten. Und auch ein perfekter Datenpool kann zwar zeigen, wo Daten korrelieren, aber es muss sich daraus noch kein Zusammenhang ableiten.

Unternehmen stehen also vor einem methodischen Wahrheitsfindungsproblem – wie man Beobachtungen von sich und der Umwelt in etwas Orientierendes übersetzt, an dem sich das Unternehmen ausrichten kann.

Daten dienen zur Legitimierung strategischer Entscheidungen

Nehmen wir eine Brauerei. Weil der Biermarkt schrumpft und Preise unter Wettbewerbsdruck geraten, will das Unternehmen den Markt nach alternativen und möglichst lukrativen Geschäftsfeldern scannen. Alles ist für die Geschäftsleitung denkbar, selbst ein radikaler Umbau des Geschäftsmodells. Für eine solch weitreichende Entscheidung aber braucht die Unternehmensführung verlässliche Daten, um die Richtungsänderung argumentativ untermauern zu können.

In den meisten Fällen geschieht jetzt das Folgende: Entweder man bittet die Vertriebsmannschaft mit ihren exklusiven Kundenkenntnissen um ihre Einschätzung – oder es werden umfassende Marktforschungen in Auftrag gegeben, die Potenziale und Positionen der Marktteilnehmer:innen ausloten sollen. Manche Unternehmen setzen auch auf agile Innovationsmethoden oder Design-Thinking-Workshops. Oft werden etwa externe Leitungen oder auch unternehmensfremde Teilnehmer:innen dazu geholt, die die inneren Logiken und Selbstverständlichkeiten der Organisation noch nicht verinnerlicht haben und denen es leichter fällt, Ideen zu haben und Vorschläge zu entwickeln, die außerhalb der Routine liegen. Eine zunehmend populäre Form der Informationsgenerierung eröffnet sich mit Big Data, also dem großflächigen Erfassen von Daten auf einem Gebiet. Wo mithilfe von Daten Korrelationsmuster zu sehen sind, sind individuelle Einschätzungen nachrangig.

Die Suche nach objektiven Fakten beginnt mit subjektiven Interessen

Bei dieser Suche nach dem Weg in die vielversprechendste Zukunft wird in vielen Organisationen aber etwas übersehen: Daten- und Wissensgenerierung scheint zwar über objektive und der Manipulation nicht fähiger Programme stattzufinden. Aber es geht nicht um das Entdecken von echten, beobachtbaren Gegenständen oder verborgenen Geheimnissen, die man bloß aufdecken und verstehen muss. Jede Erhebung wird geplant, durchgeführt bzw. beauftragt, und ausgewertet – und bei jedem Schritt spielen die Entscheidung der Akteure eine große Rolle. Es wäre naiv zu glauben, dass sie sich diese entgehen lassen – denn mit Daten und ihrer Analyse öffnen sich für die Mitglieder reale Einflussmöglichkeiten.

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Eine Blackbox verändert die Organisation

Man kommt diesen am besten auf den Grund, wenn man die Schritte einer Datenerhebung nacheinander betrachtet: Zu Beginn steht ein Anlass, der den Wunsch nach Daten auslöst – wie etwa der schrumpfende Absatzmarkt für Bier. Bei der Beschreibung des Anlasses oder des Problems legen die Akteure bereits die Blickrichtungen und damit die Prämisse fest, was zur Untersuchung infrage kommt. Damit wird auch vorentschieden, wo Veränderungen überhaupt möglich sind.

Im nächsten Schritt folgt die Entscheidung, welche Arten von Daten erhoben und welche Messverfahren genutzt werden sollen. Für beides gibt es keine sachlich einfache Antwort, weil verschiedene Methoden und Blickrichtungen verschiedene Vor- und Nachteile bieten. Verbraucherbefragungen können Potenziale zeigen, sind in ihrer Prognosekraft aber ungenau. Verkaufszahlen sind objektiv, nur erfährt man nichts über die Motivation der Käufer. Auch dies ist kein einfaches Abwägen eines Für und Wider, sondern eine Machtfrage darüber, welche Informationen in der Organisation für wen strategisch nützlicher sind.

Bereits die Methodenwahl hat weitreichende Konsequenzen

Wer welches Verfahren präferiert, wird durch die lokalen Rationalitäten der Akteure bestimmt, also eigenen Interessen, Vorgaben zur Zielerreichung oder professionellen Werten. Sie haben jeweils eigene Grundüberzeugungen und Annahmen darüber, was als sinnvolles Vorgehen gilt. Lokale Rationalitäten formen sich im Laufe der Zeit durch den Arbeitsalltag, die Zusammenhänge, in denen man sich bewegt und die Probleme, mit denen man immer wieder zu tun hat. Es verfolgen also nicht nur diejenigen, die Datensammlungen und Marktinformationen beauftragen, strategische Interessen. Auch auf der Ebene der Generierung und Auswertung fließen diese in Form der lokalen Rationalitäten mit in den Prozess ein. Datenerhebungen bieten besondere Gelegenheiten, um Einfluss zu nehmen auf die Zukunft des Unternehmens, der Abteilung oder den eigenen Arbeitsbereich.

Begonnen bei der Frage der Richtung und Methode handelt es sich also um einen mikropolitisch höchst bedeutsamen Prozess. Er birgt weitreichende Konsequenzen dafür, wie später mit diesen Daten umgegangen wird, wer die Deutungshoheit über sie erlangen und wer in die Defensive geraten kann.

Datenkompetenz zeigt sich vor allem in Machtspielen

Liegt die Auswertung schließlich vor, kommt es zu einer Verschiebung der Machtressourcen. Wer seine Anliegen am besten mit den Daten vereinen kann, gewinnt. Natürlich sind die Ergebnisse auch für jene wirkmächtig, die sie nicht gutheißen. Sie müssen sich zu ihnen verhalten – etwa indem man die Schwächen der Methode aufzeigt oder auf andere Marktuntersuchungen verweist, deren Ergebnisse besser zu den eigenen Zielen passen.

Man kann sich dies gut an der eingangs erwähnten Brauerei anschauen. Zuerst bringt die Produktion Datensätze ins Spiel: Wenn man nur noch die fünf lukrativsten Biersorten herstellt, könne man die Effizienz der Produktion um 8 % steigern. Das Marketing geht in ein Design-Thinking-Projekt mit Großkunden, und kommt zu einem anderen Ergebnis: Um mehr Kunden in die Getränkemärkte zu ziehen, muss man mehr mit Craft-Beer und gebrauten Limonaden arbeiten. Die dazugehörige Marktforschung bestätigt, dass Kunden den dreifachen Flaschenpreis für diese Erzeugnisse zahlen – allerdings würden jeweils nur kleine Mengen absetzbar sein. Die Produktion gerät unter Druck, ihren Vorschlag zugunsten des Marketingvorschlags aufzugeben. Sie fordert im Gegenzug Daten zur Produktionsauslastung für die Produktion von Brauerzeugnissen in kleinen Mengen ein, da sie sich erhoffen, dass diese Zahlen ihre eigenen Ziele unterstützen werden.

Daten bringen nur neue Argumente – keine neue Objektivität

Wenn Abteilungen oder Organisationseinheiten sich in dieser Weise mithilfe von Daten angreifen und den Angriff wiederum mit eigenen Daten parieren, ist das kein Grund zur Beunruhigung oder zur Klage. Im Gegenteil: Dies ist eher Normalität. Data literacy bedeutet, kritisch mit Datensätzen umgehen zu können – ihre Operationalisierung für die eigenen Zwecke ist dabei eine logische Folge. Daten zeigen nur selten einen klaren Sachzwang auf, der nur eine Richtung und nur Möglichkeit des Handelns zulässt.

Auch im data-driven Management wird mal also weiterhin Argumenten, Gegenargumenten, Kompromissen und Deals begegnen – und das Streben nach Rationalität noch eine Weile weiter gehen.

Autoren

Dr. Zeljko Branovic

interessiert sich besonders für die Wirkung neuer Technologien aufs organisationale Miteinander.

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Dr. Sebastian Barnutz

ist besonders interessiert daran, wie Organisationen mit starken Compliance-Vorgaben zwischen Formalität und Informalität verhandeln.

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