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Warum Digitalisierungsprozesse scheitern

Digitale Ernüchterung

  • Kai Matthiesen
  • Zeljko Branovic
  • Dienstag, 10. August 2021
Digitale Ernüchterung
© plainpicture/Lubitz + Dorner

Mit Digitalisierung wird alles besser! Dieses Mantra hat viele Organisationen durch die mühselige digitale Transformation getrieben. Doch auf die erste Euphorie über die neuen Möglichkeiten folgte oft Ernüchterung, wenn die Umstellung nicht die erwünschten Innovationen mit sich brachte – oder die Situation sogar verschlechterte. Wie aber findet man einen Umgang mit Digitalisierung, der auch zu nachhaltigen Verbesserungen führt? Wir sagen: nur mit Problembewusstsein und guter Führung!

Von abstrakter Euphorie zu konkreten Herausforderungen

Wie wir Kunden durch den Workflow schicken? Dafür gibt es natürlich ein Tool! Man muss allerdings noch separat eine Mail an die Buchhaltung schicken, denn die nutzen das Tool nicht. Und die Planungssoftware, die wir angeschafft haben? Ganz fantastisch. Man verwendet sie zwar nur, um am Anfang zu koordinieren, wer was tun soll, und danach ist sie eine Art teure PowerPoint-Präsentation – aber für die beiden Zwecke ist sie gut!

Wo in Organisationen Prozesse und Kommunikationswege digitalisiert werden, gibt es oft dieses Schicksal der digitalen Geisterstädte zu beobachten. Man hat viele gute Tools angeschafft – aber eingesetzt werden sie kaum, oder nicht wie intendiert. An die Phase digitaler Hochgefühle schließt sich eine der allgemeinen Enttäuschung an: Eine Zeit, in der sich Unternehmen fragen, weshalb sie denn trotz fortschrittlicher Technologien nicht vorankommen. Wieso ihre digital upgedatete Organisation nicht agiler, sondern komplexer als zuvor erscheint. Und weshalb die Signale der Außenwelt nicht effizienter aufgenommen, sondern zusehends missinterpretiert werden.

Woran liegt das? Die Antwort ist einfach: Man hat die Organisation vergessen. Meist fehlt es nicht an den passenden Daten oder Technologien, sondern am Problembewusstsein dafür, dass Digitalisierungsprozesse auch Restrukturierungsprozesse sind. Wer Digitalisierung ohne die Tücken der entsprechenden Organisation denkt, in der sie umgesetzt werden soll, wird feststellen, dass digitale Prozesse lähmen, statt zu beschleunigen. 

Digitalisieren heißt restrukturieren 

Digitale Technologien greifen tief in die formalen und informalen Strukturen einer Organisation ein. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn digitale Transformationsprozesse nicht immer als begrüßenswerte Revolution, sondern auch mal als Umsturz der Verhältnisse wahrgenommen werden. Es kommt zu mehr oder weniger ausgeprägten Immunisierungsreflexen der beteiligten Organisationseinheiten – oder gar zur vollständigen Abwehr der geplanten Strukturveränderungen. Die Mechanismen der Gegenwehr zu unterschätzen ist ein erster, großer Verhinderer von Digitalisierungsprozessen.

Meist fehlt es am am Problembewusstsein dafür, dass Digitalisierungsprozesse auch Restrukturierungsprozesse sind.

Zeljko Branovic

Ein wichtiger Faktor, um die Abwehrreflexe der von Digitalisierungsprozessen betroffenen Organisationseinheiten zu verstehen: Daten allein sind weder eindeutig noch objektiv. Wer Daten zur Entscheidungsgrundlage erklären kann und die analytische Deutungshoheit über sie gewinnt, hat gute Chancen, damit auch seine Macht auszubauen, woraus wiederum Machtverschiebungen in der Gesamtorganisation folgen. Wer die Konsequenzen, die vermehrte Datennutzung für eine Organisation hat, nicht mitdenkt, ist auf die Verteidigungsmechanismen dagegen nicht vorbereitet.

Digitalisierung betrifft alle, wird aber am Rand geparkt

Nehmen wir an, eine Organisation beschließt, die Position eines Chief Digital Officers (CDO) zu schaffen und diesen mit der Erhebung und Analyse von geschäftsrelevanten Daten zu beauftragen. Er erhält durch die Kontrolle der Entstehung und Analyse von Daten, die zum Teil vorher in Abteilungen wie dem Vertrieb lagen, eine ganze Reihe Machtmittel an die Hand. Zum einen kann er entscheiden, welche Daten überhaupt erhoben werden, und legt damit fest, worauf man sich in Zukunft berufen muss. Zum anderen liegt auch die Deutungshoheit der erhobenen Daten zuerst meist bei jenem, der die Datenquellen bestimmt und versteht.

Auf diese Weise verschiebt die Einführung eines CDO-Postens nicht nur Machtverhältnisse, sondern ordnet auch Zuständigkeiten und Verantwortung in der Gesamtorganisation neu. Jeder Versuch, die Datenerhebung, -nutzung und -analyse auszuweiten oder zu zentralisieren, birgt deshalb sowohl Zündstoff für die Machtspiele einer Organisation als auch viel Potenzial für Gegenbewegungen, die das geplante Digitalisierungsvorhaben direkt oder indirekt aushebeln. Die anderen Mächtigen der Organisation haben ein Interesse daran, den CDO ohne echte Macht am Rand geparkt stehen zu lassen.

Vergleichbare Probleme zeigen sich, wenn Digitalisierung projektförmig umgesetzt werden soll – als befristet eingerichtete Abteilung mit dem Ziel, die ganze Organisation zu verändern. Mit diesem Auftrag bräuchten Digitalisierungsprojekte eigentlich höchste formale Aufmerksamkeit. Stattdessen werden sie als quer zur Organisation liegende Projektstruktur ausgegliedert, ohne die Beauftragten mit den Kompetenzen auszustatten, um das gesamtorganisationale Herz zu adressieren. Da Digitalisierung in der Regel aber Auswirkungen bis in die kleinsten Selbstverständlichkeiten des Arbeitsalltags hat, wäre das notwendig.

Ein ganz einfaches Beispiel wäre die Umstellung der Unternehmenskommunikation auf app-basierte, digitale Infrastrukturen. Digitale Tools können nur dann analoges Arbeiten ablösen, wenn die neue Struktur nicht parallel oder gar quer zur alten verläuft. Sie muss auch im Kern der Organisation implementiert werden, wofür es entweder Weisungsbefugnisse braucht oder andere Einflussmittel, um für die entsprechende Compliance der beteiligten Organisationseinheiten zu sorgen. 

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Organisationen brauchen ihre toten Winkel

Für den Erfolg von Digitalisierungsvorhaben ist somit zentral, sensibel für die Auswirkungen möglicher Strukturveränderungen zu sein, die der digitale Transformationsprozess mit sich bringt. Es führt kein Weg daran vorbei, bei bevorstehenden Transformationsprozessen direkt mitzuprüfen, ob und wie stark in Strukturen eingegriffen werden muss und welche Folgen aus diesen Eingriffen resultieren. 

Was die Organisation braucht und was ihr hilft, unterliegt damit einer systematischen Analyse des Einzelfalls. Dazu zählt auch die Option, Dinge an den Formalstrukturen und etablierten Prozessen vorbei zu regeln, wenn es nötig ist. Diese informalen Nischen sind sowohl für Mitarbeitende als auch für Organisationen unverzichtbar. Digitale Technik aber ist eng mit der Formalstruktur verknüpft und damit wenig sensibel für abweichende informale Praktiken. Im Gegenteil: War es früher möglich, Außerplanmäßiges jenseits der Vorschriften zu regeln, landet dies heute häufig vollautomatisch in den digitalen Akten. 

Ein zweites, großes Hindernis, dass Digitalisierungsvorhaben überwinden müssen, sind demnach die informalen toten Winkel der Organisation, die von der digitalen Transformation betroffen sind. Digitale Technologien wirken auf Informalität wie ein lichtstarker Suchscheinwerfer. Je stärker die Notwendigkeit der schriftlichen Dokumentation, desto geringer die Chancen für informale Strukturen im Schatten zu bleiben. Wer hier nicht aufpasst, sorgt dafür, dass die zunehmende Digitalisierung nicht etwa ein Verschwinden von Informalität, sondern vielmehr ein verstärktes Abschirmen derselben fördern. Im Extremfall entkoppeln sich formale Prozesse (so, wie’s nach außen ausschaut) und reale Arbeitsabläufe (so, wie’s tatsächlich gehandhabt wird) im Unternehmen immer weiter.

Für eine erfolgreiche Digitalisierung braucht es geschickte Führungskräfte

Für erfolgreiche Digitalisierungsprozesse braucht es demnach nicht nur ein Problembewusstsein für mögliche Stolpersteine, sondern auch gute Führung, um über die kritischen Momente im Digitalisierungsprozess hinweg zu leiten. Wenn durch Digitalisierung Rollen, Einflussmöglichkeiten und Macht neu verteilt werden, ist in den seltensten Fällen direkt und unmissverständlich klar, in welche Richtung es nach der Transformation genau gehen soll. 

Wirkmächtige Führung sorgt für Orientierung in eben diesen Situationen, in denen die bestehenden formalen und informalen Strukturen einer Organisation nicht genug Orientierung bieten. Sie schließt die Regelungslücke zwischen erprobten Strukturen und neuem Arbeiten, sorgt für Zwischenlösungen und verschafft der Organisation Atempausen, um sich umzuorientieren, sich anzupassen und herauszufinden, welche Strukturen für sie tragfähig sind. Es kann beispielsweise darum gehen, für die Akzeptanz neu implementierter Regeln oder Strukturen zu sorgen. Genauso gut kann es notwendig sein, Abweichungen von ebendiesen Regeln durchzusetzen (oder zumindest aufzupassen, dass informale Workarounds nicht blockieren, sondern die Regelungslücken der Formalstruktur sinnvoll ausgleichen).

Im besten Fall gelingt es, die Herausforderungen der Digitalisierung für die individuelle Organisation zu konkretisieren. Herauszufinden, was wirklich zählt und hilft. Und dieses Wissen in notwendige Reorganisationsmaßnahmen umzusetzen. Nur mit geschickter Steuerung kann man analoge in digitale Strukturen übersetzen, Akzeptanz für neue Arbeitsweisen herstellen und die meist projektförmigen Digitalisierungsvorhaben in die Kernstruktur der Organisation implementieren. Auf diese Weise wird Digitalisierung für die Organisation nicht nur beherrschbar, sondern zu einem echten Wettbewerbsvorteil.

Autoren
Kai Matthiesen

Dr. Kai Matthiesen

hat ein besonderes Augenmerk auf die alltäglichen Aufgaben von  Organisationsmitgliedern – und was von ihnen formal eigentlich gefordert ist.

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Dr. Zeljko Branovic

interessiert sich besonders für die Wirkung neuer Technologien aufs organisationale Miteinander.

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