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Theoriediskussion

Brauchen Organisationen Gewaltenteilung?

  • Günther Ortmann
  • Donnerstag, 21. Februar 2019
Gewaltenteilung in Organisationen
© plainpicture/Lubitz + Dorner

Selbstverständlichkeit hat eine ganz eigene, stillschweigende Kraft. Sie macht, dass wir auch von Merkwürdigkeiten kaum Notiz nehmen, und kaum etwas trägt mehr zur Trägheit von Organisationen bei, als dass die gewohnten Verhältnisse uns selbstverständlich sind.

Da hilft manchmal der vielzitierte, aber nicht leicht zu praktizierende fremde Blick. Wenn man, um gleich zu meiner Sache zu kommen, mit dem fremden Blick des Juristen und gar der Verfassungsrechtlerin auf die hierarchischen Verhältnisse in Unternehmen blickt, dann könnte eine Merkwürdigkeit auffallen, die dort – aber nicht nur dort, sondern fast überall – in das milde Licht der Selbstverständlichkeit getaucht ist. Es könnte – und sollte! – in seiner ganzen Befremdlichkeit ins Auge stechen, dass in Unternehmen, anders als im Rechtswesen, die Rollen des „Gesetzgebers“, des „Anklägers“ und des „Richters“ von ein und derselben Person ausgeübt werden – vom Vorgesetzten. Und nicht nur das, sondern diese Manager sind auch noch Nutznießer in allen diesen Rollen, angereizt durch Entgelt-, Bonus- und Karrieresysteme, die ihre Interessen sogar systematisch mit ihren „Fällen“ verknüpfen sollen. Im Falle von Richter*innen an Gerichten würde man von Befangenheit sprechen. Es wäre ein bisschen wie beim Dorfrichter Adam in Kleists Zerbrochnem Krug, der ja über eine Tat – das Zerbrechen des Krugs – zu Gericht sitzt, die er selbst begangen hat.

Es sollte ins Auge stechen, dass in Organisa-tionen, die Rollen des Gesetzgebers, Anklägers und Richters von ein und derselben Person ausgeübt werden – von Vorgesetzten.
Günther Ortmann

Günther Ortmann

In Unternehmen also sind die „Gesetzgeber“ ganz selbstverständlich zugleich „Ankläger“ und „Richter“, und dass „Gesetze“ – die organisationalen Regeln – im Zuge und durch die Art ihrer Anwendung modifiziert, situativ ent- oder verschärft, suspendiert, aufgehoben oder neu geschaffen werden können, dient dort Opportunitäten und Zweckmäßigkeiten, notwendiger Flexibilität und lokalen Rationalitäten. Den Richtern als Anwendern der Gesetze dagegen ist das verwehrt oder jedenfalls, aus guten Gründen, stark erschwert. Sie sollen unbefangen sein, befangen weder durch Eigeninteresse noch durch sonst wie partikularistische Gesichtspunkte, während im Falle der Manager deren Eigeninteresse gerade Wasser auf die Mühlen der Organisation ist und sein soll.

Das gilt als notwendig, weil andernfalls sein Opportunismus, wie die neue Institutionenökonomik dazu sagt, Drückebergerei und/oder andere Formen der „Ausbeutung“ des Unternehmens durch die Manager nahelegen würde. Daran sieht man, dass Befangenheit auch in Unternehmen doch nicht ganz unproblematisch ist. Die organisatorische Remedur zielt dort aber nicht, wie im Recht, auf Barrieren wider eigennützige Befangenheiten, sondern nur auf Interessenangleichung bei weiter bestehender Befangenheit. Die ist okay, solange die Interessen der „Arbeitgeberinnen“ gewahrt sind. Leicht zugespitzt: Befangenheit der „Gesetzgeber/Ankläger/Richter“ ist so geradezu Programm.

Die Juristen haben ein sonst recht ungebräuchliches Wort für den Fall, dass Gesetze – und das gilt eben auch für organisatorische Regeln – mit ihrer Anwendung vermengt, dass die Grenzen zwischen beiden eingeebnet werden: „Verschleifung“. Man denke dabei durchaus an das Schleifen von Festungsmauern. Zwar müssen auch im Rechtswesen Gesetze in einem gewissen Maße mit ihrer Anwendung verschliffen, nämlich den besonderen Umständen des Einzelfalls angepasst werden. Aber die Jurisprudenz sieht da erhebliche Gefahren – Stichwort: gesetzesveränderndes Richterrecht –, und sie legt großen Wert auf, um mit Niklas Luhmann zu sprechen, Interdependenzunterbrechungen: Die Interdependenz zwischen Regeln und ihrer Anwendung soll nicht getilgt, wohl aber an manchen, heiklen Stellen unterbrochen sein.

Die Barriere, die im Recht die Gewalten der Gesetzgeber, der Anklägerinnen und der Richter teilt, heißt eben deshalb ‚Gewaltenteilung‘, und in Zeiten der Kaczyńskis, Orbáns, Erdogans und Salvinis lernen wir diese ehrwürdige Institution wieder neu zu schätzen. (Vorher drohte sie Opfer dessen zu werden, was Arnold Gehlen „Hintergrunderfüllung“ genannt hat: Wir haben ihr nur noch wenig Beachtung geschenkt, weil ihre Funktion selbstverständlich erfüllt wurde, sie daher selbstverständlich geworden und in den Hintergrund unserer Aufmerksamkeit gerückt war.)

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Dieses neu erwachte Bewusstsein könnte heute ein Anlass sein, über Gewaltenteilung auch in Unternehmen neu nachzudenken. Dort ist die Frustration, die Wut oder die Resignation auf Seiten derer groß, die den Entscheidungen der organisationalen „Gesetzgeber“, „Ankläger“ und „Richter“ untergeben und unterworfen sind – Entscheidungen, die wegen deren Befangenheit oft unsachgemäß und unfair ausfallen oder, auch das Gegenstand erheblichen Ärgers, einfach vermieden werden.

Gefragt sind daher: neue Formen innerorganisatorischer Gewaltenteilung, die den Gesichtspunkten der Sachgerechtigkeit und Fairness mehr Raum geben. Diese müssten Befangenheitsbarrieren errichten, inmitten organisationaler Hierarchien, jedoch mit einer anderen Verteilung der Rollen von Gesetzgebern, Anklägern und Richtern zwischen oben und unten. Das, versteht sich, ist nicht leicht. Es kann nicht am grünen Tisch ausgedacht werden.

Im Zuge der Erprobung neuer, agiler Arbeitsformen, ausgelöst nicht zuletzt von IT-Abteilungen, die IT-Projekte in einem Scrum-Framework durchführen, wird damit experimentiert, die Fach- von der Personalkompetenz und -zuständigkeit zu trennen. Hier handelt es sich um eine Form der Interdependenz-unterbrechung und Teilung jener Gewalt, die zuvor der Abteilungsleiter auf sich vereinigte, mit dem möglichen Resultat der Minimierung bekannter Interferenzen und einschlägiger personalpolitischer Befangenheiten der Abteilungsleiter (aber vielleicht mit Folgeproblemen wie z. B. mangelndem Fachbezug personalpolitischer Entscheidungen). Scrum-Projekte erproben bekanntlich noch weiterreichende Formen der Arbeits- und Gewaltenteilung: die Aufgabenteilung zwischen dem Scrum Master und dem Product Owner, vor allem aber die täglichen oder wöchentlichen Scrums, in denen weitgehend hierarchiefrei und in Zusammensetzungen quer zu Abteilungsgrenzen Fortschritte, Rückstände, Schwierigkeiten, Dringlichkeiten und Zuordnungen der Projektarbeit erörtert und entschieden werden sollen. Auch das schließt Verschleifungen nicht aus, setzt sie aber besserer Sichtbarkeit, Kommunizier- und Korrigierbarkeit aus. Man darf es vielleicht als einen der ersten neueren Ansätze zu organisationaler Demokratie verstehen, die Befangenheits- und Verschleifungsunterbrechungen  mit in die Interaktionsmikrologie einbaut (und nicht nur auf immer neue Partizipationsgremien abschiebt) .[1]

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[1] Mehr dazu bei G. Ortmann: „Verschleifung als Problem organisationaler Entscheidungen: Hierarchie, Selbstreferentialität und Gewaltenteilung in Organisationen”, in: Managementforschung 28 (1), 2018, S. 151-177.

Autor
Günther Ortmann

Prof. Günther Ortmann

ist Professor für Führung an der Universität Witten/Herdecke im Department für Management und Unternehmertum.

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