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Strategiearbeit in Theatern

Vergiss es!

  • Alexander Keil
  • Donnerstag, 30. Mai 2024

Wenn Kulturinstitutionen Resilienz erwerben wollen, müssen sie zuerst einmal lernen, zu vergessen.

Spricht man dieser Tage mit Intendant:innen deutsprachiger Theater, Konzerthäuser, Festivalbetriebe oder Museen begegnet man ihnen in der Regel mit ziemlichen Sorgenfalten auf der Stirn. In den Gesprächen taucht eine Zeitrechnung vor der Corona-Pandemie und eine danach auf. Vor der Corona-Pandemie erschien die Innenwelt der Kulturinstitutionen, die ohnehin bereits komplex genug war, als steuerbar. Man hatte sich darauf geeinigt, welche Herausforderungen als nächstes zu lösen seien, etwa: Wie sichere ich die Finanzierung für das nächste große Leuchtturmprojekt? Wie gelingt uns der Sprung auf die Shortlist der nächsten (inter-) nationalen Leistungsschau?

Für diese Herausforderungen gab es analytische Beschreibungen aus mehreren Perspektiven, die zu Lösungsansätzen und in der Regel auch Lösungen führten. Die Außenwelt schien vertraut. Nach der Corona-Pandemie hingegen, stellen sich für Kulturinstitutionen ganz neue Herausforderungen, die in Ausmaß, Komplexität und Interdependenz alles übersteigen, was selbst sehr erfahrene Führungskräfte zu bewältigen gewohnt sind.

Diese Vielzahl unbekannter Variablen im Innen und Außen der Kulturinstitutionen verkompliziert die Problemlösung oder verunmöglicht sie gar, und betrifft einige der Grundfesten auf unterschiedlichen Ebenen: Die Grundfinanzierung der Häuser wird genauso tangiert wie deren programmatische Ausrichtung und Profil bis hin zu der Frage, ob das was, sie seit vielen Jahren mit höchster Fachexpertise tun, überhaupt (noch) das Richtige ist. Plötzlich scheint man die Interessen und Bedürfnisse seines Publikums nicht mehr zu verstehen. Erstaunt reibt man sich die Augen ob des überraschend offen zu Tage tretenden Antisemitismus‘ einiger Kulturakteur:innen. Man ängstigt sich vor den Ergebnissen des Superwahljahres 2024. Nur äußerst zögerlich wagt man sich daran, neue Ansätze zur Realisierung kultureller Teilhabe zu testen. Dieser nicht abschließenden Liste von globalgalaktischen Problemen ließen sich noch viele mehr hinzufügen.

Man hat sich stillschweigend darauf geeinigt, dass die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Bedingungen, unter denen man heute Ausstellungen produziert, Konzerte veranstaltet oder Theater aufführt, untragbar und verwirrend sind. Zugleich breitet sich eine begründete Angst davor aus, dass man das, was man seit langem tut, in einer nahen Zukunft so nicht mehr wird stemmen können.

Aber man tut noch nichts: Eher wird sich gesorgt, gezetert, gewerweißt und letztlich doch: geschwiegen. In einem Zustand zwischen Schockstarre, Stress, krampfhaftem Festhalten am vormals Bewährten und leise nahendem Abschiedsschmerz wird in einer hochtourig laufenden Produktionsmaschine auf die immer gleiche Art und Weise gestrampelt und gekämpft. Noch arbeitet man sich daran ab, dass sich die Welt überhaupt weiterdrehte. Nur unter dem Siegel der absoluten Vertraulichkeit wird in kleinsten Runden darüber gemutmaßt, wie lange das über Jahrzehnte etablierte und erfolgreiche Standardmodell einer klassischen Kulturinstitution (vorrangig männlicher, westeuropäischer Prägung) noch zu tragen vermag.

Das Problem der klassischen Kulturinstitutionen heute ist demnach ihr lautes Schweigen über ihre Zukunft. Sie sind momentan (noch) nicht bereit, um über diese nachzudenken und adäquate Gestaltungsentwürfe aus sich selbst heraus vorzubringen. Dafür benötigen die dort tätigen, hoch spezialisierten Fachexpert:innen Wissen darüber, wie man sich die sich verändernde Umwelt aneignet, woran es derzeit noch mangelt. Das liegt wiederum daran, dass die Organisationen selbst noch nicht über die notwendigen Routinen verfügen, um sich und ihr Schaffen regelmäßig und gelegentlich grundsätzlich zu hinterfragen.

Über Jahre blieb das Kerngeschäft unangetastet, während Neues anbaute

Während Jahrzehnten wurde das Leistungsspektrum von Kulturinstitutionen immer komplexer und differenzierter. Bei nahezu unverändertem Kerngeschäft baute man, meist auf Aufforderung der Träger, hier und da Neues an: In einer Welle geriet so das Thema Kunstvermittlung in den Fokus. Fortan sollte sich nicht mehr nur allein das kunstgebildete Publikum von den Programmen angesprochen fühlen, sondern die breite Bevölkerung. In einer zweiten Welle galt es, die eigenen Marketing- und Kommunikationsaktivitäten auszubauen sowie den Institutionen social-mediale Abbilder zu geben. Eine weitere Welle nahm ihren Lauf in der Professionalisierung von Fundraisingaktivitäten. Die Anpassung und Optimierung dieser Einzelaspekte und Teilfunktionen von Kulturinstitutionen war immer auch ein Kraftakt. Abteilungen wurden gebildet oder aufgestockt. Das Fachwissen wurde mühsam aufgebaut und etabliert.

Dadurch sind Kulturinstitutionen Expertinnen (geworden), wenn es um Fragen der Bewahrung, Inszenierung und Vermittlung von Fachwissen und dem Anstoßen von Diskursen geht. Und so blieb das Kerngeschäft selbst jedoch unangetastet: eine Ausstellung blieb eine Ausstellung, eine Theaterinszenierung eine Theaterinszenierung, ein klassisches Konzert ein klassisches Konzert. Selten bis nie traute man sich, aus sich heraus den Zweck dieser Institutionen neu auszuloten, zu verhandeln und zu beschreiben. Schnell landet man bis heute bei dem Argument, Kunst sei ein Selbstzweck. Dies genüge, um diesen Institutionen eine Daseinsberechtigung zu geben. Wer weiterfragt, macht sich verdächtig, entweder der Kunst unverständig zu sein oder diese abschaffen zu wollen. Entstanden sind dadurch über die Jahre eher gewucherte als strategisch gestaltete Organisationen. Das ist ein bisschen, wie wenn man das eigene Haus nie aufräumt, sondern immer nur Neues hineinträgt. Damit schützt man die Institutionen einerseits vor dem politisch-gesellschaftlichen Veränderungsdruck.

Andererseits verbaut ein solches Denken auch das Eröffnen eines unglaublich potenzialträchtigen Lernfeldes: Denn Resilienz zu erwerben heißt für Kulturinstitutionen, einen Moment lang zu vergessen, was man ist und wie man arbeitet. Für einen Moment lang begibt man sich in einen noch unbeschriebenen Raum mit weißen Wänden und verlernt aktiv, was das alles überhaupt soll (Kulturinstitution sein), um sich in einem nächsten Schritt (ein Stück weit) neu zu erfinden.

Strategiearbeit ist ein Mittel, um in einer komplexen Umwelt für Orientierung zu sorgen

Die Organisationssoziologie betrachtet nicht nur die Organisation als solches als gestaltbar, sondern auch ihren Zweck. Im besten Fall unterstützen die Mittel einer Organisation das Erreichen ihres Zwecks. Verschwimmt jedoch der Zweck einer Organisation über die Zeit, rücken die Mittel in den Vordergrund und es kommt zu einer Zweck-Mittel-Verdrehung, wie etwa: Theater sind dafür da, um Theaterinszenierungen zu produzieren. So aufgeschrieben, klingt der Satz merkwürdig kurz gegriffen und ist es auch. Denn es fehlt der dahinter liegende Zweck des Theaters. Man könnte fragen: Welche über die Kunst hinaus gehende, weitere Funktion übernimmt es für eine ganz konkrete regionale Bevölkerung? Welche Rolle will es im dortigen Diskurs spielen?

Es drängt sich damit verbunden förmlich die Frage auf: Warum sind Kulturinstitutionen heute überhaupt da? Welchen Beitrag leisten sie in unserer Gesellschaft? Welche Rolle(n) nehmen sie ein? Erst danach kann man die Folgefrage stellen: Wie müssten sie sich strukturell und organisatorisch aufstellen, um diesen Zweck zu erreichen?

Wirtschaftsorganisationen oder auch öffentliche Verwaltungen ringen um diese Deutungen typischerweise in Rahmen von regelmäßig wiederkehrender Strategiearbeit. Für sie ist es der Normalfall sich regelmäßig darüber zu verständigen, welchen Zweck sie erreichen wollen und welche Aufstellung es hierfür braucht.

Doch was leistet Strategiearbeit genau? Die Umwelt von Organisationen ist theoretisch unüberblickbar und komplex. Ihre Zukunft ist nicht vorhersehbar. Im Rahmen von Strategiearbeit sorgt man für Handlungsfähigkeit mit Blick auf eine unvorhersehbare, unbestimmte Zukunft. Die temporären Annahmen, die man über die Zukunft trifft, helfen dabei, sich zu orientieren. Damit Organisationen also ins Handeln kommen und handlungsfähig zu bleiben, konstruieren sie ein für sich schlüssiges Bild dieser Umwelt, sie kreieren ihren Ausschnitt. Dabei wägen sie z.B. ab, welche Stakeholder einflussreich sein werden und daher besondere Aufmerksamkeit erlangen sollen. Sie treffen Annahmen darüber, wie sich diese Stakeholder in Zukunft entwickeln könnten, welche Interessen sie möglicherweise vertreten werden und wie sich die Organisation hierzu positioniert. Solche Strategien funktionieren dann wie eine Art Scheuklappen, die man sich aufsetzt, um sich zu fokussieren.

Für Kulturinstitutionen bedeutet das, einmal die landläufigen Annahmen über die Zukunft in Frage zu stellen und sich einen Moment lang gedanklich von der Umwelt zu entkoppeln. Oder wie Sibylle Berg im gleichnamigen Theaterstück so schön behauptet: “Es sagt mir nichts, das sogenannte Draußen.” Es gilt daher, zurückzublicken und sich darüber zu verständigen, wie sich die für die Kulturinstitutionen entscheidenden Akteur:innen in der Umwelt veränderten. Zugleich blickt man nach vorn und trifft Annahmen darüber, wie sich deren Interessen und Handeln in Zukunft verändern werden. Beim Übereinanderlegen dieser Erkenntnisse entwickelt man ein Bild davon, wie man sich künftig zu diesen Entwicklungen positionieren will. Konkret: Was nimmt sich vor? Was tut man bewusst nicht (mehr)? Welche Entwicklungen will man beobachten, um sich darüber ein genaueres Bild zu machen? 

Resiliente Kulturinstitutionen gestalten ihr Verhältnis zur Umwelt anstatt nur zu re-agieren

Organisationssoziologisch betrachtet, sind Strategien formale Zweckprogramme, die einer Organisation Ziele und Richtungen vorgeben. Dabei wirken Sie dreifach: Sie beeinflussen die Außendarstellung einer Organisation z.B. auf Websites oder in Programmvorschauen. Sie verändern die formale Verfasstheit der Organisation, z.B. mit Blick auf Hierarchien, Arbeitsteilung, Prozesse oder die Beschreibung von Stellen. Schließlich nehmen sie indirekt Einfluss auf die Organisationskultur und das WIE des miteinander Arbeitens.

Strategiearbeit sorgt deswegen für Resilienz, weil man sich in der Flut externer Erwartungen und Informationen abschottet und überlegt: Was tun wir? Und noch viel wichtiger: Was tun wir alles nicht? Sie legt temporär fest, was richtiges Handeln ist und wo man als Organisation nicht hinschaut. Aber man muss diese Annahmen auch im Auge behalten und regelmäßig überprüfen, ob sie noch richtig sind. Hat man keine Strategie, kommt man aus dem Reagieren auf die Umwelt nur noch schwer heraus, denn man reagiert dann auf alles, weil alles gleich wichtig ist. Das macht Organisationen und ihre Mitglieder kirre.

Was bedeuten diese Überlegungen nun mit Blick auf Resilienz? Im allgemeinen Sinne bedeutet Resilienz die Fähigkeit, schwierige Situationen dauerhaft zu überstehen und krisenfest zu sein. Für Kulturinstitutionen hat Resilienz viele Schichten, die es Stück für Stück zu bearbeiten gilt: Resiliente Kulturinstitutionen entwickeln die notwendigen Fähigkeiten, ihr Verhältnis zur Umwelt zu gestalten anstatt einfach nur zu re-agieren. Das bedeutet, Umweltveränderungen laufend zu beobachten und mit Blick auf das Verhältnis von Zweck und Mittel kritisch zu reflektieren. Dies setzt voraus, dass man der Organisation und ihren Mitgliedern selbst Ressourcen (z.B. die hierfür notwendige Zeit, Finanzen und Wissen) sowie Entwicklungsmöglichkeiten (z.B. in Form von geistigen Freiräumen) zu diesen Themen zugesteht. Gerade weil Organisationsentwicklung im Umfeld von Kulturinstitutionen noch nicht weit verbreitet ist, lohnt es sich, zu überlegen, wie man hierzu mittelfristig eigenes Wissen aufbaut, gemeinsam mit anderen Akteur:innen Netzwerke bildet oder sich punktuell Expertise hinzu holt.

Das hohe Commitment der Mitarbeitenden zu ihren Kulturinstitutionen, ihre hoch spezialisierte Fachexpertise und Kreativität sind die denkbar besten Voraussetzungen, um jeweils kontextbezogen neue Strategien zu erarbeiten und diese mit den Stakeholdern auszuhandeln. Nicht immer wird es einen ganz neuen und großen Wurf brauchen, um sich als Kulturinstitution erfolgreich zu positionieren. Häufig hilft bereits die Beschreibung von Umweltveränderungen und das vergemeinschaftete Wissen rund um Lösungsansätze dabei, die Mitarbeitenden auf gemeinsame Ziele auszurichten und so mit vereinten Kräften und in ruhigeren Fahrwassern zu arbeiten.

Autor
Alexander Keil

Alexander Keil

freut sich am meisten über soziologische Tricks, die bessere Partizipation ermöglichen.

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