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Rezension

Organisationen endlich verstehen?

  • Sven Kette
  • Kai Matthiesen
  • Freitag, 17. März 2023
Organisationen verstehen
© chaofann

Rezension zu: Henry Mintzberg (2023): Understandig Organizations…Finally! Structuring in Sevens. Oakland, CA: Berrett-Koehler. 244 S. 29,69 EUR.

Henry Mintzberg, einer der profiliertesten Organisations­forscher der Gegenwart, hat ein neues Buch vorgelegt – sein einundzwanzigstes! Es stellt in Aussicht, Organisa­tionen endlich zu verstehen. Wir haben es gelesen und berichten davon, wer sich was von diesem Buch versprechen darf.

Henry Mintzberg gehört zu einer kleinen Gruppe von Personen, die sich scheinbar mühelos in mehreren Welten zugleich bewegen. Seine Texte und Ideen beeinflussen seit mehr als 40 Jahren den organisationswissenschaft­lichen Diskurs; zugleich sind sie aber auch für die Organisationspraxis in hohem Maße anschlussfähig und werden breit rezipiert. Vor diesem Hintergrund blicken an Organisationen Interessierte mit Freude und Spannung auf das Erscheinen seines jüngsten Buchs: „Understanding Organizations…Finally! Structuring in Sevens“.

Ein Buch mit Geschichte

Das Buch schließt an Mintzbergs berühmtes Werk „Structure in Fives“ aus dem Jahre 1983 an und stellt nach Selbstauskunft des Autors ein „Update“ (ix) der früheren Publikation dar. Als solches setzt es sich aber auch in mehrfacher Hinsicht von dem früheren Buch ab.[1] So fällt schon in formaler Hinsicht auf, dass dieses Mal nicht die Zahl fünf im Zentrum steht, sondern die sieben – ein Umstand, den Mintzberg selbst gleich zu Beginn des Buches thematisiert und auf den wir noch zu sprechen kommen werden. Gleiches gilt mit Blick auf eine zweite Auffälligkeit: Der Untertitel des aktuellen Buchs verweist nicht mehr auf die (statische) „Structure“, sondern lässt mit der Formulierung „Structuring“ eine gewisse Dynamisierung erkennen bzw. erwarten. Ein dritter Unterschied betrifft schließlich den Anspruch des Buchs. Während Mintzberg die genannten früheren Bücher als Synthetisierung organisationswissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung begreift, will das aktuell vorliegende Buch eine Synthetisierung der (praktischen) Erfahrungen des Autors mit Organisationen zusammenführen (ix). Dieses Anliegen – das sei bereits jetzt gesagt – schlägt sich weniger in den Inhalten nieder als in der Form, wie diese präsentiert werden.

Viel Bekanntes…

Der Text selbst gliedert sich in sieben Teile, welche insgesamt 20 Kapitel umfassen. Hinzu kommt ein einleitendes Kapitel, das dem ersten Teil vorangestellt ist und allgemeine Gründe für die Beschäftigung mit Organisa­tionen anführt. So etwa die Tatsache, dass alle relevanten gesellschaftlichen Teilbereiche maßgeblich von Organisationen durchzogen sind. Möchte man die gegenwärtige Gesellschaft verstehen, ist es daher vielleicht nicht die schlechteste Idee, ein Verständnis von Organisationen zu entwickeln.

Die insgesamt fünf Kapitel des ersten und zweiten Teils schaffen ein kategoriales Fundament, welches Leser:innen, die frühere Texte von Mintzberg kennen, wohl vertraut erscheinen dürfte: Mintzberg benennt fünf Haupt­bestandteile, aus denen jede Organisation bestehe (operativer Kern, Linienmanager, strategische Spitze, Technostruktur und unterstützende Einheiten), sechs Koordinationsmechanismen (direkte Kontrolle, wechselseitige Abstimmung sowie die Standardisierung von Arbeit, Outputs, Fähigkeiten oder Normen), acht Designelemente, die Mintzberg als Ansatzpunkte für die Organisationsgestaltung betrachtet (die Reichweite, der Formalisierungsgrad und die Ausbildungserfordernisse von Stellen(inhabern), der horizontale und vertikale Zuschnitt von Organisationseinheiten sowie deren jeweilige Größe und schließlich Möglichkeiten der (De-)zentralisierung, der Bedeutung von Planung und der Ermöglichung von Verbindungen zwischen den Organisationseinheiten um eine Integration sicherzustellen). Hinzu kommen vier situative oder Kontingenzfaktoren, die maßgeblichen Einfluss auf die Ausgestaltung des Organisationsdesigns haben (Alter und Größe der Organisation, das im operativen Kern verwendete technische System, die Organisationsumwelt sowie Machtverhältnisse).

Bereits im zweiten Kapitel führt Mintzberg aber auch eine konzeptionelle Neuerung ein. Um eine Überbetonung hierarchischer Strukturen zu vermeiden, schlägt der Autor vier Möglichkeiten vor, Organisationen „zu sehen“ (18ff.). Je nachdem, in welchem Verhältnis die organisationalen Teile zueinander stehen, erscheint die Organisation dann entweder als eine Kette linearer Sequenzen, als ein Hub mit einem koordinativen Zentrum, als Netzwerk (informaler) Kontakte oder als ein Set relativ unabhängiger nebeneinander stehender Einheiten. Beeindruckend ist in diesem Teil auch, wie es dem Autor gelingt, bekannte Theorie-Elemente auf prägnante Weise zusammenzufassen. So etwa zum Thema Strategie (28ff.).

Der dritte Teil des Buches entwickelt aus den zuvor präsentierten Elementen und Koordinationsmechansimen vier Grundformen von Organisationen: das persönliche Unternehmen mit einer Führerperson im Zentrum eines Hubs; die programmierte Maschine, für die eine sequentielle Verkettung typisch ist, die professionelle Vereinigung („professional assembly“), welche als Set relativ unabhängiger Einheiten charakterisiert werden kann, sowie die Projektorganisation („project pioneer“), die in wesentlichen Hinsichten als Netzwerk strukturiert ist. Der vierte Teil ordnet jeder dieser Grundformen eine zentrale Kraft („force“) zu: Effizienz im Falle der programmierten Maschine, Kompetenz im Falle der professionellen Vereinigung, Kollaboration für die Projektorganisation und Konsolidierung mit Blick auf das persönliche Unternehmen.

Zudem beschreibt Mintzberg drei weitere Kräfte, die einerseits in allen Grundformen relevant seien bzw. werden könnten und die zugleich auch zum Ausgangspunkt für die Bildung drei weiterer Organisationsformen gemacht werden (Kapitel 13-16): Die divisionale Form entsteht aus der Kraft der Separierung; die Gemeinschaft („Community Ship“) aus der Kraft einer verbindenden Kultur und die Politische Arena basiert auf konfliktiven Kräften.

…und manches Neues

Wenngleich Mintzberg – in wechselnder Ausführlichkeit – zu allen Formen Vor- und Nachteile diskutiert und Bedingungen benennt, unter denen diese Formen entstehen und prosperieren, sind die ersten 168 Seiten des Buches doch stark von Begriffsarbeit und Begriffsästhetik geprägt. Die interessantesten Kapitel sind daher die verbleibenden fünf der Teile VI und VII. Hier löst der Autor das im Untertitel angedeutete Versprechen ein, sich nicht allein auf die idealtypische Bildung statischer Strukturformen zu beschränken, sondern einen dynamischen Blick auf Organisationen zu entwickeln – und dies in synchroner wie diachroner Perspektive. Diskutiert wird zum einen das Phänomen der Hybride (178ff.). In der wirklichen Welt entsprechen wirkliche Organisationen nicht (oder allenfalls sehr selten) einer der sieben beschriebenen Formen. Stattdessen bilden sich Mischformen. Solche Hybridisierungen können dann mehr oder weniger reibungslos verschiedene Kräfte in sich vereinen oder diese nebeneinander einhegen. Aber nicht allein die Vermischung verschiedener Formen sorgt für Komplexität, sondern auch der Umstand, dass Organisationen ihre Formen und Formkombination im Laufe ihrer Existenz wechseln können – manchmal auch müssen. Dabei lassen sich Grundtendenzen erkennen. So etwa, dass praktisch alle Organisationen als persönliche Unternehmungen starten und sich erst im Verlaufe ihres Wachstums zu einer der anderen Formen hin entwickeln. Oder die Einsicht, dass Organisationen jeglicher Form in Krisenzeiten dazu tendieren, sich temporär der Form des personalisierten Unternehmens anzunähern (182ff.).

Der letzte Teil des Buches führt schließlich über die sieben Grundformen gänzlich hinaus und diskutiert jüngere empirische Entwicklungen. Hierzu zählen unter anderem das Aufkommen von Plattformorganisationen, die Inanspruch­nahme von Leiharbeitern oder verschiedene Formen der interorganisationalen Kooperation, die allesamt als Ausdrucksformen von sich auflösenden Organisationsgrenzen verstanden und analysiert werden.

Analogien haben ihre Grenzen

Und nach der Lektüre – hat man Organisationen verstanden? Diese Frage ist nicht ganz leicht zu beantworten, weil die Antwort maßgeblich davon abhängt, was man zuvor bereits über Organisationen wusste; vor allem, über welche organisationstheoretischen Vorkenntnisse man bereits verfügte. Ganz fraglos bietet das Buch einen hervorragenden Kompass, um sich in der komplexen Welt von Organisationen zu orientieren. Hierbei ist die Fülle der Kategorisierungen, die das Buch auf den ersten 168 Seiten anbietet von kaum zu überschätzendem Wert. Sie zwingen geradezu dazu, das Klein-Klein der Alltagsprobleme für einen Moment zurückzustellen und stattdessen die großen Linien in den Blick zu nehmen. Zwar mag die Fülle an Kategorien und Unterkategorien, die Mintzberg einführt, zunächst verwirrend wirken – vor allem, wenn man zuvor nichts von Mintzberg gelesen hat. Gleichzeitig ermöglichen der sehr gefällige Schreibstil sowie die zahlreichen Analogien (vor allem zum Sport und zum Tierreich) doch eine zügige Lektüre, während der sich die Inhalte nie sperrig anfühlen.

Mindestens zwei übergreifende Einsichten lassen sich aus der Lektüre gewinnen – und sie sind ein sehr gutes Fundament für das Verständnis von Organisationen.

  • Erstens bedeutet Organisation unvermeidbar, Spannungen und widerstreitende Kräfte (im Sinne Mintzbergs) fortwährend handhaben und austarieren zu müssen.
  • Hieraus folgt zweitens, dass es keinen „one best way“ für die Gestaltung von Organisationen geben kann. Je nach Kontext sind andere Strukturierungen erforderlich und erfolgversprechend. Diese Einsicht ließe sich noch dahingehend zuspitzen, dass es überhaupt keinen „best way“ gibt, sondern allenfalls brauchbare Wege, die mit je eigenen Folgeproblemen daherkommen. Die Herausforderung besteht dann darin, diese Folgeprobleme vorzudenken und sich für jene Struktur zu entscheiden, deren Folgeprobleme am ehesten tragbar erscheinen.

Gerade damit ist aber auch schon die Grenze des mit dem Buch erreichbaren Verständnisgrades markiert. All die Analogien und letztlich auch die idealtypischen Formen haben ein recht grobes Auflösungsvermögen. Wenn man genau hinschaut, sind Organisationen eben weder Bienenstöcke noch Football-Teams. Die Kapitel über Hybridisierungen weisen zwar auf Graustufen hin und wirken damit der Tendenz allzu großer Vereinfachungen entgegen. Zugleich fallen sie aber auch vergleichsweise knapp aus, so dass auch am Schluss nicht recht deutlich ist, was aus dieser Einsicht folgt: Inwiefern entstehen aus Hybridisierungen und Formwechseln neue Probleme, was sind die Ansatzpunkte diese zu bearbeiten – und welche Folgen handelt man sich hierdurch konkret ein? Letztlich bleiben die Dinge allzu oft unverbunden nebeneinanderstehen, Zusammenhänge und Mechanismen mithin zu schwach ausgeleuchtet.

Im Kern ist es ein Set von Kategorien und Schubladen, das Mintzberg anbietet. Dieses hilft, für eine erste Sortierung. Ein tiefergehendes Verständnis der bunten Empirie wird durch die teilweisende verwirrende Fülle an Klassifizierungen aber nicht unbedingt möglich. Hierfür bräuchte es eher Begriffe, die noch eine Ebene tiefer liegen und damit flexibler nutzbar sind. Diese hätten den Vorteil, nicht allein als ‚Sortierregel‘ für die Zuordnung von Idealtypen zu gebrauchen zu sein.

Um selbst eine Analogie zu bemühen: Das Buch liefert ein sehr überzeugendes und vielfältig einsetzbares Vokabular, jedoch keine elaborierte Grammatik zum Verständnis von Organisationen. Das schmälert nicht unbedingt die Qualität des Buches, ordnet aber dessen Reichweite ein.

Mintzberg plus X

Jede Theorie hat unvermeidbar ihre blinden Flecke und Zugangsbarrieren. Ganz grundsätzlich hat Warren Thorngate (1976)[2] einmal darauf hingewiesen, dass jede Theorie nur zwei von drei Kriterien zugleich erfüllen könne: Einfachheit, Genauigkeit, Allgemeinheit. Das Buch von Henry Mintzberg ist, wie seine vorherigen, vor allem einfach und allgemein. Gerade darin hat es seinen unverkennbaren Wert. Es schafft Ordnung und damit Orientierung, die gerade auch für Praktiker und Manager unmittelbar ein Gewinn darstellen dürfte. In was für einer Organisation befinde ich mich überhaupt? Wie hätte ich die Organisation gern? Warum ticken ‚die‘ in der Software-Entwicklung so anders? Zu all diesen Fragen lassen sich mit Hilfe des Buchs von Henry Mintzberg schnell überzeugende Antworten und Einschätzungen finden.

Schwieriger wird es, wenn man auf der Grundlage dieses Buches Organisationsveränderungen konkret gestalten möchte – wenn es also darauf ankommt, konkrete Wege von einer Form zur anderen zu finden, zu entscheiden, ob es einen Formwechsel oder eine Formerweiterung (Stichwort: Hybridisierung) braucht und abzuschätzen, welche Probleme man sich damit jeweils ganz konkret einhandelt. Um auch auf diese Fragen Antworten zu finden, bräuchte es eine Theorie, die allgemein und genau ist. Die Organisationswissenschaften kennen auch solche. So wäre etwa die Systemtheorie mit ihrem abstrakteren Begriffsapparat ein entsprechender Kandidat. Auch diese Theoriewahl hat ihren Preis, den Thorngate ebenfalls klar benennt: Auf Einfachheit darf nicht hoffen, wer konkrete Veränderungen nachhaltig zur Wirkung bringen möchte. Der Zumutungsgehalt der Systemtheorie ist damit also deutlich höher, es sind dies aber auch die Chancen, für die eigene konkrete Herausforderung eine brauchbare Lösung zu entwickeln.

Ein Buch für jede:n – mit unterschiedlichen Ertragsaussichten

Zum Schluss – wem ist dieses Buch nun zu empfehlen? Die einfache Antwort lautet: jedem! Allein die Lektüreerträge werden sich durchaus unterscheiden. Für Mintzberg-Erstleser ist das Buch uneingeschränkt und unbedingt zu empfehlen. Es liefert einen kompakten Überblick über Mintzbergs zentrale Kategorien und Ideen – und all dies in hervorragend zugänglicher Weise. Bei entsprechendem Interesse lässt sich sein Werk von hier aus rückwärts erschließen. Vor allem aber bietet es Orientierung, die sich praktisch sofort nutzen lässt.

Für diejenigen, die bereits andere Texte von Mintzberg gelesen haben (vor allem „The Structuring of Organizations“, „Structure in Fives“ oder das Kompendium „Mintzberg on Managment“) wird sich sehr vieles als Wiederholung darstellen, auch wenn manche Formen neu benannt (etwa project pioneer statt bisher innovative organization) oder in ihrem Status neu einsortiert werden (die divisionale Form ist nun keine Grundform mehr).

Auch für Mintzberg-Kenner interessant sind aber seine Überlegungen zu neuen Organisationsformen im hinteren Teil des Buchs. Dass diese Ausführungen sehr knapp ausfallen und damit Raum für das eigene Weiterdenken lassen, muss man nicht unbedingt als Schwachpunkt sehen.

[1] „Structure in Fives“ ist seinerseits eine auf Praktikerperspektiven und -fragestellungen abgestimmte Version seines stärker wissenschaftlich orientierten Buchs „The Structuring of Organizations“ von 1979.
[2] Siehe hierzu auch die kompakte Darstellung in Weick 1985: 54ff.

Literatur

Mintzberg, Henry (1979): The Structuring of Organizations. A Synthesis of the Research. Englewood Cliffs: Prentice-Hall.

Mintzberg, Henry (1983): Structure in fives. Designing effective organizations. Englewood Cliffs, NJ: Prentice-Hall.

Mintzberg, Henry (1989): Mintzberg on management. Inside our strange world of organizations. New York: Free Press.

Thorngate, Warren (1976): ‚In General‘ vs. ‚It Depends‘. Some Comments on the Gergen-Schlenker Debate. Personality and Social Psychology Bulletin 2, 404–410.

Weick, Karl E. (1985): Der Prozeß des Organisierens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Autoren
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Dr. Sven Kette

ist Senior Consultant bei Metaplan und forscht, lehrt und publiziert an der Universität Luzern zu organisationssoziologischen Themen.

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Kai Matthiesen

Dr. Kai Matthiesen

hat ein besonderes Augen­merk auf die alltäglichen Aufgaben von Organisations­mitgliedern – und was von ihnen formal eigentlich gefordert ist.

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