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SXSW-Konferenz 2023

Auf das Neue!

  • Judith Muster
  • Lars Gaede
  • Christoph Koch
  • Dienstag, 4. April 2023
Amy Webb auf der SXSW 2023
© SXSW

Wie geht es weiter? Was wird wichtig? Fünfmal food for thought, frisch mitgebracht von der bedeutendsten Technologie-Konferenz der Welt.

Am 12. März 1987 begann im texanischen Austin die erste „South by Southwest“, abgekürzt: SXSW. Ronald Reagan war US-Präsident, die Musik-CD der neue heiße Scheiß und das Internet noch eine Handvoll vernetzter Uni-Rechner. 177 Bands traten an vier Märztagen in 15 Clubs auf – für gerade mal 10 Dollar Eintritt. Heute ist die „Southby“, wie sie vor Ort nur genannt wird, zu einem Millionen-Dollar-Unternehmen geworden. Es geht längst nicht mehr nur um Musik. Auch die Film-, Bildungs- und Tech-Branche sind zu Gast.  Rund 70.000 akkreditierte Teilnehmende, Hunderte von Vorträgen, Interviews und Panelgespräche – zehn Tage Dauerdiskurs. Und egal, ob es im Detail um Psychedelics, Weltraumschrott-Recycling oder die neueste AI-Anwendung geht: Über allem, was im Rahmen der SXSW in Austin passiert, schwebt die Frage: Wie geht es weiter? Was kommt als nächstes? Und wie gehen wir damit um? Wir haben aus den Tausenden Prognosen und Gedanken, Beobachtungen und Analysen fünf zentrale Einblicke ausgewählt und erläutert, was sie für Organisationen bedeuten.

We will no longer search the internet. The internet will search us.

Amy Webb

Die quantitative Zukunftsforscherin Amy Webb ist seit Jahren ein wichtiger Bestandteil des SXSW-Lineups und eröffnete die diesjährige Konferenz mit dem Gedanken, dass das Internet wie wir es kennen, an sein Ende gekommen sei. Waren es bisher immer größere Mengen von Online-Inhalten, die Firmen – mal besser, mal schlechter – kartografierten und durchsuchbar machten, kehre sich der Spieß nun um. Je mehr Daten von den Nutzerinnen und Nutzern verfügbar seien, um so leichter sei es möglich, dass KI-Systeme diese auswerten und automatisch Inhalte ausspielen, von denen ihre Kalkulationen sagen, dass sie genau die richtigen für die Situation sind. Webb wies in ihrer Präsentation darauf hin, dass sich unser Begriff von Daten erweitern wird: von Text oder Bildern hin zu Gerüchen oder Details wie der Frage, ob im Hintergrund gekocht wird, während wir uns in einem Videocall befinden.

Für Organisationen bedeutet dies nicht nur, die eigenen Strategien und Geschäftsmodelle auf diesen Paradigmenwechsel vorzubereiten. Sondern auch, sich selbst noch stärker als bisher eine eigene Ethik der Daten zu verordnen. Welche Signale sollen und dürfen genutzt werden und welche sind tabu? Wie werden Einwilligungen eingeholt – und selbstverständlich auch: Was passiert mit den Daten, die gesammelt werden? Auch wenn Amy Webb eindrucksvoll zeigt, was technisch möglich ist und wahrscheinlich bald Wirklichkeit werden wird: Am Ende wird entscheidend sein, welche Fragen an die Daten gestellt werden. Gibt es chemische Geruchsmoleküle, mit denen sich Krankheiten wie Demenz oder Alzheimer früh identifizieren lassen? Lassen sich produktive und zufriedene Teams basierend auf Informationen zusammenstellen, die bislang nicht dafür herangezogen wurden? Was bedeutet es für unsere Identität, wenn wir in virtuellen (Arbeits-)Umgebungen fast alle unserer äußerlichen Merkmale von Geschlecht oder Körpergröße bis zu Kleidung oder Stimme ablegen und beliebig neu wählen können? Solche Fragestellungen zu entwickeln wird Aufgabe der Menschen in Organisationen bleiben. Um die Antworten hingegen kümmert sich die Technik.

AI is always what machines can’t quite do yet.

Mike Bechtel

Der oberste Zukunftsforscher der Unternehmensberatung Deloitte stützte sich auf den sogenannten „AI Effect“: Ursprünglich von Larry Tesler (dem Erfinder des Copy-und-Paste-Mechanismus) postuliert, besagt dieser, dass AI immer das ist, was gerade noch nicht geht. Als 1996 der IBM-Schachcomputer Deep Blue gegen den Großmeister Garry Kasparov antrat, hielten viele Beobachter einen Sieg der Maschine gegen den Menschen für unmöglich. Nachdem Deep Blue gewonnen hatte, hieß es dann plötzlich, die Schachregeln seien ja sehr rigide. Soooo schlau sei der Rechner also nun auch nicht. Als 2011 ein IBM-System namens „Watson“ eine Quiz-Partie „Jeopardy!“ gegen mehrere menschliche Kandidatinnen und Kandidaten gewann, bot sich dasselbe Bild. Vorher: Skepsis. Hinterher: Die Maschine habe halt blitzschnell Sachen im Internet nachgeschaut. Soooo beeindruckend sei dies nun wirklich nicht. „Was gestern unmöglich erschien, wird heute banalisiert“, so Bechtel in seinem Vortrag. Das gleiche gilt für die derzeitigen Fortschritte im Bereich generative KI: Statt vorwiegend mathematische Aufgaben übernehmen KI-Systeme immer kreativere und komplexere Aufgaben. Doch die Reaktion ist in vielen Fällen zu kritisieren, dass ein Mensch in einem detailreichen, ausgefallenen und in Sekunden erstellten Computergemälde sechs Finger hat.

Bechtel verglich die digitalen Assistenzsysteme, die gerade entstehen, mit dem Stab an Bediensteten in der Serie „Downton Abbey“. Dort müsse Hausherr Lord Gratham auch nicht jedem einzelnen Bediensteten vom Chauffeur bis zum Kammerdiener en detail sagen, was sie zu tun hätten. „Er sagt einfach nur: ‚Ich muss heute Nachmittag in die Stadt!‘ – und alle wissen sofort, was ihre jeweilige Aufgabe ist.“ Und so wie ein eingespieltes und treues Team von Hausangestellten im viktorianischen England schon vorab ahnte, wann der Hausherr vermutlich das nächste Mal in die Stadt fahren würde, werden auch die KI-Systeme der nahen Zukunft immer besser voraussagen können, was die Wünsche und Bedürfnisse ihrer Nutzerinnen und Nutzer sind. Und diese proaktiv erfüllen – oder dies zumindest anbieten. Welche Implikationen ergeben sich daraus für Organisationen?

Auf der SXSW-Konferenz lässt sich gut beobachten, wie sich die technischen Möglichkeiten im Bereich KI von Jahr zu Jahr weiterentwickeln. Für die meisten Organisationen ist es deshalb unerlässlich, diese rasanten Fortschritte nicht als irrelevant für das eigene Feld abzutun oder als spinnerte Ideen hochspezialisierter Entwicklungsteams zu verstehen, sondern sich selbst neugierig und lernend mit den neuen Möglichkeiten auseinanderzusetzen. Ein guter Start können dabei der frei verfügbare Deloitte-Report von Mike Bechtels Team sein. Oder Amy Webbs umfangreiches Dossier „Emerging Tech Trend Report“, das sie nach ihrer SXSW-Keynote zur Verfügung stellte.

The culture of hyperconnectivity is the culture of disconnection.

Esther Perel

Wie es denn sein könne, dass wir 1.000 Online-Freunde hätten, aber nicht wüssten, wen wir darum bitten sollen, unsere Katze zu füttern. Das fragte die Psychologin und erfolgreiche Podcasterin Esther Perel in ihrem Vortrag zu den Auswirkungen der Hyperdigitalisierung auf unser Leben und unsere Arbeit. Was macht es mit uns, wenn wir mit unseren Kolleginnen und Kollegen stundenlang slacken und über Videocalls sogar in ihre Wohnungen schauen können – aber sie unter Umständen noch nie persönlich getroffen haben?

Digitale Kommunikation verändere unsere Erwartungen an unsere Mitmenschen, so Perels These. Apps, Chats und Bots erzeugen durch ihre permanente Verfügbarkeit wohlmöglich unrealistische Vorstellungen von dem, was Freundinnen, Partner, Kolleginnen oder Auftragnehmer leisten können – beziehungsweise wollen.

Für Unternehmen wird es immer wichtiger, klare Regeln für die Kommunikation festzulegen.

Welche Kanäle eignen sich wofür am besten? Wer hat wann worüber erreichbar zu sein? Wie signalisiert man, dass man gerade wirklich nur im Notfall ansprechbar ist? Und wie schafft man es, dass bei allen Slack-Runden, perfekt abgestimmten Kalendern und reibungsloser digitaler Technik das Überraschende, Ungeplante, das „Unknowable“ nicht auf der Strecke bleibt? Ein automatisiertes Leben ohne Risiken eliminiere alle möglichen Fehler und schwäche unsere sozialen Muskeln, so Perel, die wir für erfolgreiche Beziehungen so dringend brauchen. Organisationstheoretischer ausgedrückt könnte man sagen: Digitale Kommunikationsmethoden schreiben sich durch ihre Gestalt und Möglichkeiten tief in die formalen und informalen Erwartungsstrukturen der Organisation ein. Ob wir das wollen oder nicht. Eigentlich ist uns das klar, aber es ist gut, daran erinnert zu werden. Was elementare Beziehungen prägt, prägt auch organisationale. Zum Beispiel kann eine Mail plötzlich unkollegialer wirken als eine Slack-Nachricht. Es kann opportun sein, Dokumente erst intern abzusichern bevor man sie auf einem gemeinsamen Server ablegt.

Es war bislang ein zentraler Vorteil von Organisationen, dass sie über ihre Strukturen selbst entscheiden können. Über viele Teile der eingesetzten Interaktionstechniken entscheidet die Organisation inzwischen jedoch nicht mehr selbst, sondern die Kommunikationstechnologien von Microsoft, Slack, Zoom oder der Workflow der Google-Suite. Dies kann man jedoch ändern, indem man ihre Implikationen zum Thema macht, anstatt darauf zu vertrauen, dass sich schon „irgendwie ergibt“ wie man die Kommunikationstools nutzt.

Productivity is for robots not for humans.

Kevin Kelly

Auch der Tech-Visionär Kevin Kelly nahm sich in seinem Vortrag dem auf der gesamten Konferenz stark präsenten Themas „Generative AI“ an. Der Mensch überschätze sich regelmäßig, wenn es darum ginge, welche Tätigkeiten für Maschinen zu komplex seien. Zu Zeiten des Eisenbahnbaus galt das Einschlagen von Schwellennägeln als etwas, das eine Maschine unmöglich leisten könnte. Später dachte man dasselbe über das Erkennen von Gesichtern oder über das Malen eines Kunstwerks. Generative AI – also das Erstellen von Texten, Bildern oder Videos mit Werkzeugen wie ChatGPT oder Midjourney – werde sich dabei aber nicht als Jobkiller erweisen, sondern als nützlicher Praktikant oder Assistenz. Ein „Universal Personal Intern“, der gute (wenn auch oft generische) Grundlagen liefere, die der Mensch dann verfeinern und ergänzen müsse. Berufe werden sich zweifellos verändern. Letztlich werden es aber wie bei bisherigen Automatisierungsschritten auch, die einfachen, repetitiven Aufgaben sein, die am leichtesten an die KI zu delegieren sind. Die dadurch frei gewordenen Kapazitäten können für wahre Kreativität verwendet werden. Denn diese sei das, womit Menschen ihre Zeit verbringen sollten, so Kelly. Produktivität sei für Roboter.

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OpenAI Co-Founder Greg Brockmann zu ChatGPT, DALL-E
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Für Unternehmen erwächst eine Notwendigkeit, sich frühzeitig und intensiv mit den Möglichkeiten von generativer KI zu befassen. Denn getreu dem alten Programmierer-Motto „Bullshit in, Bullshit out“ macht es bei den KI-Modellen einen großen Unterschied, wie gut die sogenannten Prompts geschrieben sind, die ihre Arbeit in Gang setzen. Gute Prompts zu schreiben, die zu den gewünschten Ergebnissen führen – ob das nun ein Text, eine Melodie oder eine Grafik ist – wird zu einer sehr wichtigen Fähigkeit werden. Es mag eine mediensoziologische Binsenweisheit sein, aber: Wissen führt zu mehr Wissen. Nur, wer genug weiß, kann kluge Fragen stellen. Und Firmen, die ihre Mitarbeitenden früh damit Erfahrungen sammeln lassen, werden eindeutig im Vorteil sein.

Young people don’t talk about the, Metaverse’ – that is a term only Boomers use.

Sofie Hvitved

Während auf der letzten SXSW-Konferenz noch sehr viel über das Metaversum gesprochen wurde, war es in diesem Jahr dazu vergleichsweise ruhig. Doch das heißt nicht, dass das Thema komplett abgeschrieben wäre. Das Metaversum wird kommen, da waren sich die meisten Beobachter einig. Nur eben nicht morgen. Und wie schon beim „Information Superhighway“ der Neunziger ist es wahrscheinlich, dass sich der ursprüngliche Name am Ende nicht hält. Und dass die virtuelle, allzeit verfügbare, grenzenlose und immersive Online-Welt am Ende ein wenig anders aussieht, als sie Mark Zuckerberg sie heute vorzeichnet. Für Unternehmen bedeutet dies, dass sie die Technologie auch dann im Blick behalten sollten, wenn sie aus dem Rampenlicht verschwunden ist. Denn oft sind die Täler des Hype Cycles die Phasen, in denen am meisten passiert. So war beispielsweise laut Google Trends das Thema „Autonomes Fahren“ in den Jahren 2017 bis 2019 deutlich stärker im Gespräch (und den Suchanfragen) als aktuell. Doch genau in den letzten paar Jahren machte die Technologie große Fortschritte: In ausgewählten Gebieten von San Francisco, Phoenix und Austin fahren die ersten Robo-Taxis des Anbieters Cruise (in Zusammenarbeit mit General Motors) und Mercedes-Benz hat als weltweit erster Hersteller eine sogenannte Level-3-Zulassung erhalten: Dabei dürfen Fahrende zum ersten Mal den Blick von der Straße abwenden – und beispielsweise einen Film ansehen oder eine Videokonferenz durchführen. Bislang allerdings nur bei Tageslicht und bis Tempo 60.

Fazit

Jahrelang war die Devise „Move Fast And Break Things“ der Silicon-Valley-Startups ein vermeintliches Leitmotiv, wie sich moderne Unternehmen zu verhalten hätten. Agile First-Mover ohne Rücksicht auf Verluste. Dinge machen, einfach weil die Technologie sie ermöglicht. Ohne zu fragen, ob sie nötig, sinnvoll oder von den Menschen gewünscht sind. Wer bremst, verliert. So klang es aus den Incubators and Accelerators, aus den Pitchdecks und Venture-Capital-Runden.

Doch mittlerweile scheint sich der Zeitgeist gedreht zu haben. Immer öfter hört man Abwandlungen wie “Move Far And Build Things“. Während niemand auf Innovationen verzichten will und kann, sollen diese heute auf intelligente, nachhaltige und ausgewogene Weise stattfinden. Unternehmen sollen auf Resilienz und Sicherheit achten, Regeln und Gesetze befolgen – und ihre Produkte und Services im Sinne der Nutzenden planen, ausgiebig testen und immer wieder anpassen. Ein Fortschritt mit Verantwortung und Augenmaß, sozusagen. Denn während im März 2023 im texanischen Austin die SXSW über die zahlreichen Bühnen ging, passierten parallel zwei Dinge: Die Silicon Valley Bank, Heimat vieler Startups und Risikokapital-Firmen, ging bankrott. Und GPT-4 wurde vorgestellt. Die neueste Version des „Motors“, der Software wie ChatGPT antreibt, erzielte bei der amerikanischen Zulassungsprüfung für Anwälte einen Wert von 75 Prozent. Deutlich mehr als die 62 Prozent, die menschliche Prüflinge durchschnittlich erzielen. Und gut genug, um in den obersten 10 Prozent aller Kandidatinnen und Kandidaten zu langen. Aber nun gut: Soooo schwierig ist so eine Anwaltsprüfung nun auch nicht…

Autor:innen

Dr. Judith Muster

verfolgt den Anspruch, dass eine gute soziologische Analyse immer auch witzig sein sollte.

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Lars Gaede

verwendet seine journalistische Trickkiste jetzt mit Vorliebe, um Organisationen zu durchleuchten.

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Christoph Koch

ist Journalist (brand eins, Süddeutsche Zeitung Magazin, GEO, u.v.a.) und SPIEGEL-Bestsellerautor (u.a. „Ich bin dann mal offline“, „Digitale Balance“, „Was wäre, wenn …?“).

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