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Neue Formen der Zusammenarbeit

Wie viel Präsenz braucht man noch?

  • Wiebke Gronemeyer
  • Montag, 11. Oktober 2021
Wie viel Präsenz braucht man noch?
© plainpicture/Lubitz + Dorner

Teamwork ohne gemeinsames Büro? Was als Krisenmodus begann, wird für viele Organisationen jetzt zum Alltag. Diese fünf Fragen helfen bei der Arbeit im neuen Setting.

Ein Team zu leiten, dessen Mitglieder nicht am gleichen Ort arbeiten, war mal eine Herausforderung, die nur einen kleinen Kreis von Führungskräften betraf. Doch über Distanz zu führen, zu koordinieren und zu kollaborieren ist zur alltäglichen Aufgabe geworden, die nun viele betrifft und auch weiter Bestand haben wird. Denn wo gezeigt wurde, dass gemeinsames Arbeiten von Zuhause oder unterschiedlichsten Orten der Welt funktioniert, müssen Organisationen damit umgehen, dass Mitglieder diese Arbeitsweise auch weiterhin erwarten.

Auch wenn Führungskräfte inzwischen eine gewisse Routine in der Führung digitaler Teams haben, sollte man die geschaffenen Strukturen noch einmal hinterfragen, wenn jetzt eine neue Normalität beginnt. Wo hat man Prozesse gebaut, die unnötig geworden sind – und wo sind neue Lücken? Welche Folgen hat es, wenn nur Teile der Belegschaft in die Büros zurückkommen, andere weiter von zuhause arbeiten und wieder andere situativ wechseln wollen?

Was die Situation noch verändert: Führungskräfte müssen nicht mehr nur digitale Teams effektiv steuern, sondern auch ein Konzept entwickeln, wie man hybride Teams koordiniert – also solche, die sich teilweise im Büro, teilweise im Home Office oder flexibel zwischen beidem bewegen. Mit folgenden fünf Fragen wird diese Konzeptentwicklung leichter:

1. Wie stellt man Chancengleichheit für Führungsimpulse her?

Wenn eine Teamleitung und ein Teil des Teams wieder gemeinsam vor Ort arbeiten, andere aber gänzlich remote, besteht die Gefahr, dass diese als Satelliten behandelt werden. Das kann zuerst ein Problem für klassische Top-Down-Orientierungen werden, wenn es darum geht zu beurteilen, ob das Teammitglied mit den betrauten Aufgaben gut vorankommt, ob es Missverständnisse gibt – oder ob es Irritationen gibt, die die Arbeit erschweren. Was Teamarbeit aber erst effektiv macht, ist der umgekehrte Weg der Führung, die sogenannte „Unterwachung“: Teammitglieder orientieren ihre Leitung und weisen sie diplomatisch darauf hin, wenn diese auf dem Holzweg ist.

Ist man am gleichen Ort, kommt es ohne Planung zu genug Anlässen für Orientierungen beider Art. Für Mitarbeitende außerhalb der kurzen Wege braucht es dagegen institutionalisierte Feedbackschleifen. Eine Möglichkeit ist es, Regelmeetings mit festen Elementen zu versehen, die unabhängig der sonstigen Agenda Raum zum Äußern von Befindlichkeiten oder salopp, „Dingen, die einen beschäftigen“, zu äußern.

Nun kommt es noch darauf an, dass ein solcher Ort auch für ehrlichen Austausch und Führungsimpulse genutzt werden kann. Dies passiert, wenn man tatsächlich Interesse an Aussagen zeigt und nochmal nachhakt, wenn wieder nur „Mir geht es gut, ich freue mich aufs Projekt“ als Antwort kommt.

2. Wo kann man Mittelfreiheit gewähren und aufs Ergebnis warten?

Sobald diese Möglichkeiten der wechselseitigen Orientierung stehen, kann man sich fragen: Wie viel Kontrolle ist darüber hinaus noch nötig? Wo kann man vielleicht noch weiter gehen und Mitarbeiter:innen, die nur fürs Operative verantwortlich waren, auch in planende Verantwortung bringen? Die Arbeit mit dezentralisierten Teams ist die gute Gelegenheit,  Micro-Management abzuschaffen. Man kann es sich wie den Einstieg in agile Prozesse vorstellen – nur im kleineren Rahmen: Mittelfreiheit, Selbstorganisation und eine zumindest weniger eingreifende Hierarchie helfen dabei, die Arbeit effizient zu halten. Statuskontrollen sind sehr zeitaufwändig und bedeuten mehr Verantwortung für Vorgesetzte als immer nötig ist. Indem man Aufgaben verteilt und sich auf dem Weg zum Ergebnis anspielbar hält, sonst aber aus der Erfüllung raushält, gewinnt man als Leitung Zeit und als Teammitglied Flexibilität in der Bearbeitung.

Wichtig ist dabei, für tatsächlichen Orientierungsbedarf immer noch ansprechbar zu sein. „Ich vertraue Euch“ darf nicht „Kommt ohne mich klar“ bedeuten. Und gelieferte Ergebnisse verdienen eine Würdigung, die über ein Daumen-Emoticon im Chat hinaus geht.

3. Wo sind feste Strukturen weiter nötig?

Während also in den Arbeitsabläufen Spielraum entsteht, sind vor allem für die Kommunikationskanäle genaue Entscheidungen hilfreich. Damit es nicht dazu kommt, dass man den einen Teil des Teams zwischen Tür und Angel, den anderen gar nicht informiert, sind zum Verteilen relevanter Informationen die digitalen Kanäle vorzuziehen.

Weiterhin ist es sinnvoll, Kanäle und Tools zu qualifizieren. Welche Inhalte kommen über welchen Kanal? Wie vermittelt man Dringlichkeit? Wann soll das ganze Team eine Nachricht bekommen, wann nur eine einzelne Person? Während FYI-Nachrichten keinen eindeutigen Adressaten brauchen, ist es bei Anweisungen der erste Schritt ins Missverständnis, wenn sie ohne Bezugsperson abgegeben werden. Bei einer Aufforderung an alle fühlt sich in der Regel niemand verantwortlich.

4. Wie wirkt man den Fliehkräften entgegen?

Unabhängig davon, ob die Pandemie überwunden ist oder nicht, endet für viele Organisationen nun der Krisenmodus – oder er wurde schon beendet. Dafür hat es nicht immer eine offizielle Erklärung gebraucht, in den meisten Fällen ist es ein Ausschleichen des Krisengefühls gewesen, dass durch Arbeitsalltag überstrichen wurde. Damit enden auch die Krisenmechanismen der Kohäsion, die trotz voneinander distanzierten Arbeitsweisen den Zusammenhalt gestärkt haben.

Die informalen Netzwerke werden jetzt wirklich auf die Probe gestellt, wenn alle von Video-Calls durch die Arbeit genervt sind, sodass informale Treffen und Geselligkeiten lieber nur vor Ort stattfinden oder ganz ausfallen. Für die nicht vor Ort arbeitenden Kolleg:innen gibt es natürlich weiter die bekannten Möglichkeit des weniger als anstrengend empfundenen Telefons – doch dies kann die Möglichkeiten der anlasslosen Begegnung und vor allem, des spontanen Hinzufügens weiterer Diskutant:innen, nicht bieten.

Es ist entsprechend wichtig zu beobachten, wie es den Mitgliedern „an den Rändern“ der Organisation, die am wenigsten Einbindung ins Geschehen vor Ort haben, mit ihrer Situation geht. Hier kommt es auf Fingerspitzengefühl an, denn mit einer Anfrage in formalem Rahmen bekommt man auch formale Antworten – und erfährt vielleicht nicht, dass die „Fear Of Missing Out“ stärker ist oder Mitglieder sich als abgehängt beobachten.

5. Wie viel gemeinsame Anwesenheit wird wirklich gebraucht?

Die Sehnsucht nach Begegnungen stuft vielerorts die Arbeit über Distanz zum notwendigen Übel herunter. Während Krise und neue Normalität einen fließenden Übergang bilden, muss man nun aufpassen, welche erprobten Strukturen dabei aufgegeben werden. Meetings, die auch Emails sein können, dürfen weiter Emails bleiben. Und bei Treffen, in denen Entscheidungen getroffen werden kann man genauso fragen: Ist es wirklich nötig, auf Anwesenheit zu beharren? Welche Vorteile ergeben sich daraus? Wie viel Anlasslosigkeit, spontane Begegnung, gemeinsames Denken über echtem Papier, wird tatsächlich benötigt?

Wenn man diese Qualifikation vornimmt, bevor Mitglieder in die Organisation zitiert werden, die normalerweise nicht vor Ort arbeiten, kann man Frustrationserscheinungen vermeiden, da man die Zeit seiner Mitglieder wertschätzt. Und wenn es nur ein Bauchgefühl ist, dass es endlich wieder schön wäre, alle an einem Ort zu haben – dann sollte man die Agenda wenigstens um einen Punkt ergänzen, der Anwesenheit zwingend erforderlich macht. Wichtig: „Es gibt Kuchen“ reicht nicht.

Autorin

Dr. Wiebke Gronemeyer

hat ein Faible für Konflikte zwischen besonders sturen Parteien und die Mechanismen, wie sie zu Kompromissen kommen.

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