Wir schauen uns heute die Organisationsstruktur von Valve an. Das ist ein Softwareunternehmen, vielen vielleicht nur bekannt als Entwickler des „Killerspiels“ Counterstrike. Die betreiben außerdem aber die weltweit größte Plattform für Computerspiele, „Steam“. Mittlerweile zehn Jahre ist es her, dass ihr Handbuch für Neueingestellte „versehentlich“ veröffentlicht wurde.
Skript zum Gespräch
(Das Skript gibt den Gesprächsverlauf und Inhalt wieder, ist aber gekürzt und an einigen Stellen zum leichteren Verständnis vom Wortlaut abweichend überarbeitet.)
Andreas Hermwille: Man kann hier auch von einem gut geplanten PR-Coup ausgehen, weil es sehr viel Aufmerksamkeit bekommen hat. Ich halte es trotzdem für einen interessanten Gegenstand, weil man hier eine sehr deutliche Selbstpositionierung lesen kann, wie sich eine Organisation strukturell aufstellt. Es gibt außerdem viele Berichte von Mitarbeitenden darüber, welche Folgen diese Entscheidungen für die Struktur und für das Dasein in der Organisation haben.
Herr Kühl, ich habe jetzt einige Stellen aus diesem Handbuch mitgebracht, und mein Vorschlag ist, dass ich Ihnen die eine oder andere Stelle vorlese und Sie geben Ihre Einschätzung, ob das tatsächlich klappt und wenn ja, zu welchen Kosten. Was halten Sie davon?
Stefan Kühl: Es ist immer schwierig, über eine Organisation zu sprechen, die man selbst nicht gut kennt. Aber auf der anderen Seite fühlen wir Organisationswissenschaftler uns sicher genug, aufgrund von bestimmten Selbstdarstellungen oder bestimmten Selbstbeschreibungen der eigenen Organisationsstruktur Aussagen zu treffen. Von daher können wir das machen.
Organisationsanalyse entlang des Handbuchs für neue Angestellte
Andreas Hermwille: Valve macht es Ihnen einfach, denn im Gegensatz zu anderen Organisationsbeschreibungen, die ich schon mal gesehen habe, findet man hier recht deutliche Worte, was man denn strukturell macht und welche Effekte das haben soll.
Ich fange mal vorne an, nämlich bei der strukturellen Grundentscheidung quasi: denn das Unternehmen Valve nennt sich „radikal flach“. Und der Auszug aus dem Handbuch dazu lautet dann folgendermaßen:
„Eine Hierarchie eignet sich ideal, um einen bekannten und wiederholbaren Ablauf zu gewährleisten. Sie vereinfacht das Planen und eine große Gruppe von Personen lässt sich leichter von oben nach unten hin leiten, weshalb zum Beispiel militärische Organisationen besonders auf Hierarchie bauen. Aber wenn man als Unterhaltungsunternehmen, das das letzte Jahrzehnt damit verbracht hat, die intelligentesten, erfindungsreichsten und talentiertesten Menschen auf der Welt ins Boot zu holen, diese Menschen an einen Tisch setzt und ihnen alles vorschreibt, dann sind 99 % ihres Wertes verschwendet. Wir brauchen Wegbereiter und das bedeutet, eine Umgebung zu schaffen, in der diese Menschen gedeihen können. Deshalb ist Valve flach. Wir haben keine Managementebene. Niemand muss sich gegenüber jemand anderem verantworten.“ (S.12)
Funktionieren erfindungsreiche Menschen tatsächlich besser in flacher Hierarchie?
Stefan Kühl: So pauschal kann man es nicht sagen. Natürlich funktionieren auch erfindungsreiche Menschen in einer steilen Hierarchie, wenn die Hierarchie dafür sorgt, dass diese erfindungsreichen Menschen das machen können, was sie machen wollen und entsprechend Geld haben.
Wenn man einen brillanten Vorstandsvorsitzenden hat, der seine brillanten Leute einfach machen lässt und den Geld zur Verfügung steht, dann ist das zwar eine Hierarchie, aber führt dazu, dass diese Leute gut funktionieren. Natürlich gibt es auch ein anderes Modell, dass brillante Leute funktionieren in quasi Hierarchie freien Organisationen, wo sie ihre eigenen Nischen schaffen, in welchen sie dann entsprechend agieren können.
Besitzverhältnisse führen zu hierarchischen Strukturen
Ich glaube nicht, dass diese Organisation keine Hierarchie hat. Spätestens in dem Moment, wo man auf die Kapitalstruktur von solchen Organisationen schaut, sieht man, dass es einige Personen gibt, die deutlich gleicher sind als andere Personen – weil sie an der Kapitalstruktur Besitz halten. Was stimmen mag, ist, dass jenseits dieser Hierarchie der Kapitalbesitzer oder Geschäftsführer, die sicherlich auch in dieser Organisation existieren, vielleicht vergleichsweise wenig zwischen Hierarchieebenen existieren. Aber der Effekt kann sein, dass Entscheidungen wie zum Beispiel Budget-Entscheidungen oder Ressourcen-Entscheidungen eher zentralisiert getroffen werden und der entsprechende Geschäftsführer oder der Vorstandsvorsitzende solche Entscheidungen dann an sich ziehen.
Das hängt jedoch ein bisschen von der Größe der Organisation ab. Bei bis zu 100 Mitarbeitern lässt man es laufen und wenn es drauf ankommt, springt die Geschäftsführerin oder der Geschäftsführer direkt drauf an. Wenn es deutlich mehr sind, dann bilden sich so was wie eine formale Zwischenhierarchien aus. Es gibt dann bestimmte Personen, die an Stelle des Geschäftsführers faktisch Entscheidungen treffen und das darauf basieren, dass sie im besonders engen Kontakt zu ihm stehen oder besonders lange in der Organisation sind. Man hat eine informale Hierarchieebene, keine formale.
Andreas Hermwille: Zwei Ergänzungen an der Stelle: Erstens arbeiten nach aktuellem Stand 360 Mitarbeitende in der Firma und es gibt formal eine Hierarchiestufe – das ist der CEO. Zweitens gehört die Firma sich selbst. Das heißt, es ist keine Aktiengesellschaft und es gibt keine Stakeholder, die finanziell beteiligt sind.
Stefan Kühl: Und das heißt, es gibt einen extrem starken CEO, der in letzter Konsequenz zentralistisch Entscheidungen treffen kann, wenn es zum Beispiel der Firma plötzlich extrem schlecht geht. Und bei 360 Mitarbeitenden gibt es eine informelle Zwischen-Hierarchie-Ebene, die aber im Organigramm nicht abgebildet wird. Das hat sicherlich Vorteile. Man kann versuchen, sich dadurch zum Beispiel bestimmten Beurteilungsprozessen zu entziehen, aber hat natürlich auch den Nachteil, dass man Willkür stärker ausgesetzt ist.
Auch diese Organisation wird die Herausforderung haben, bestimmte Personen, die diese Anforderung an Brillanz und die Besten in ihrem Feld nicht mehr erfüllen, dann loszuwerden. Und das sind dann vermutlich eher erratische Entscheidungen, die getroffen werden, wo man selbst überrascht ist, dass plötzlich eine bestimmte Person darüber entscheidet, dass man in dieser Organisation nichts mehr zu suchen hat. Von daher hat es sicherlich Vorteile, aber auch aber auch Nachteile.
Mitglieder entscheiden selbst, auf welche Projekte sie gehen
Andreas Hermwille: Hier kann ich Ihnen dazu direkt eine weitere interessante Stelle aus dem Handbuch benennen, die fragt: Wie wird entschieden, wo Geld investiert wird? Und wie wird Leistung bewertet? Das Handbuch sagt unter der Überschrift „Wie entscheidet Valve, woran im Unternehmen gearbeitet wird?“ folgendes:
„Wir warten, bis jemand sagt, dass das das Richtige ist und danach lassen wir diese Person andere Leute für ihr Projekt zusammenstellen. Wir glauben daran, dass wir alle diese Wahl treffen können und dieser Glaube hat sich immer bewahrheitet. Aber anstatt einfach daran zu glauben, dass wir alle das Richtige tun, stellen wir unsere eigenen Entscheidungen oft auf die Probe.“
Stefan Kühl: Es klingt so, als wenn die Ressourcen Zuteilung darüber stattfindet, dass eine Person eine Idee hat und dann zurückgreifen kann auf das Personal, was in der Organisation vorhanden ist. Und wenn die Idee toll ist und die Personen das Gefühl haben, dass das irgendwie auch ihr eigenes Fortkommen in der Organisation befördern kann, sie mit ihren personalen Ressourcen da mitgehen. Schwierig wird es natürlich, wenn man nicht alles selbst machen kann und beispielweise noch 5 Millionen dafür braucht, um externe Leistungen einzukaufen.
Personalressourcen werden zu einem internen, umworbenen Markt
Die Frage ist, ob man auch die gleichen Möglichkeiten hat, sich diese 5 Millionen einfach vom Konto des Unternehmens zu nehmen. Vermutlich ist das nicht ganz so einfach. Das heißt, es ist erstmal nur eine Zuordnung von Personalressourcen, die da stattfindet, aber da sicherlich in der Variante, die anders ist, als man es gewohnt ist. Es wird nicht nur „oben“ ein Personalschlüssel aufgeteilt, sondern die Personen können sich selbst zuordnen.
Und was man jetzt als Organisationswissenschaftler oder als Organisationsberater machen würde, wäre sich eben genauer anzuschauen, wie genau dieser Mechanismus der Zuordnung von Personen stattfindet: Wie ist dieser Markt, wo sich Personen zuordnen? Was passiert mit Projekten, die sich zum Beispiel totlaufen? Werden die dann irgendwie von selbst aufgelöst oder entsteht da ein Druck? Oder geraten die Mitarbeiter:innen in die Situation, dass ihnen nahegelegt wird, sich was anderes zu suchen oder zu kündigen?
An der Stelle ist die Frage nach der persönlichen Flexibilität innerhalb dieser Organisation beziehungsweise nach dieser selbst organisierte Zuordnung von Personen zu bestimmten Projekten sicherlich ein zentraler Fokus, den man als Organisationswissenschaftlicher und – berater einnehmen würde.
Disruptive Innovationen werden unwahrscheinlicher
Andreas Hermwille: Damit schließen wir ein bisschen an unsere vorige Folge über Ziel-Offenheit versus Ziel-Geschlossenheit an. Das ganze Prinzip von „Es gibt eine gute Idee und dann finden sich Leute, die gemeinsam mit auf diese gute Idee springen“ funktioniert nur, wenn für die Mitarbeitenden zum einen die Flexibilität da ist, sich eine gute Idee auszudenken und zum anderen da ist, um ihre Zeit darin zu investieren. Was wären Nachteile davon, dass man so viel Flexibilität vorhalten muss? Was kann dann noch passieren, wenn Mitarbeitende keine Ziele von oben bekommen?
Stefan Kühl: Das so zu organisieren, ist für diese Organisation vielleicht gar keine schlechte Idee. Wenn man sich das Produkt anschaut, so wie es von Ihnen beschrieben wurde: Es gibt zum einen eine Plattform, wo bestimmte Computerspiele drüber gespielt werden können und zum anderen werden gleichzeitig ein Teil dieser Computerspiele, die da stattfinden, entwickelt. Wenn jetzt ein bereits gut etabliertes Computerspiel lediglich neue Feature bekommen soll, kann diese Form der Selbstorganisation „Ah, ich habe jetzt eine Idee für eine neue Welt, die da gebaut werden könnte“ an der Stelle vergleichsweise gut funktionieren. Was diese Organisation aller Wahrscheinlichkeit nach in dem Modell nicht hinbekommen würde, wäre wirklich grundlegende Sprung-Innovationen – also ein völlig anderes Produkt.
Meine Vermutung ist, dass Valve vor 10, 15 Jahren einmal eine geniale Idee hatten, wodurch sie mit dieser Plattform in diesem Bereich eine quasi Monopolstellung erreicht haben. Und darauf ruht sich diese Organisation in gewisser Weise aus. Solange jetzt nicht ein grundlegender Technologiesprung kommt oder diese quasi Monopolstellung nicht in Frage gestellt wird, kann sie sich dieses Prinzip dieser instrumentalen Innovation vermutlich ganz gut leisten. Ich vermute, dass es gute Gründe gibt, weswegen dieses Modell sich in dieser Organisation über so einen langen Zeitraum halten konnte.
Andreas Hermwille: Niemand wird Ihnen glauben, Herr Kühl, dass Sie sich nicht mit dieser Firma beschäftigt haben. Das ist eine verdammt gute Beschreibung der Position.
Organisationen in Monopolstellungen verhalten sich vergleichbar
Stefan Kühl: Das ist vermutlich ähnlich wie bei der Firma Microsoft, als sie den Windows-Markt beherrscht und extreme Puffer hatte, um lange Zeit auch nicht optimal zu performen. Die Organisationen, die eine quasi Monopolstellung haben, sind sehr privilegiert, aber haben dann meistens einen radikalen Bruch, wenn zum Beispiel eine Technologie-Revolution stattfindet.
Bei Microsoft oder auch bei Valve wird es vermutlich so sein, dass in dem Moment, in dem es jetzt wirklich einen Technologie-Bruch gibt, dieses Modell sofort eingestellt wird und viel zentraler überlegt wird: In welche Richtung stecken wir jetzt alle Ressourcen? Und dann hat auch nicht der einzelne Mitarbeiter oder die einzelne Mitarbeiterinnen mehr die Möglichkeit, sich auszusuchen, in welchen Projekten sie arbeitet. Es ist eine Wohlfühl-Position, in der man sich diese inkrementellen Innovationen leisten kann.
Andreas Hermwille: Diese Limitierung ist wirklich kennzeichnend für Valve. Fans der Firma beklagen sich darüber, dass das Spiel „Half Life“, mit dem die Firma groß geworden ist und erst die Finanzen für die Plattform gelegt hat, keine Weiterführung erhält. Seit Jahren spricht man darüber, dass der dritte Teil kommen soll, aber der wird nicht fertig. Das ist keine inkrementelle neue Entwicklung, sondern man muss etwas Neues schaffen. Und das scheint nicht zu funktionieren.
Stefan Kühl: Dass zum Beispiel kleine Varianten in den existierenden Spielen möglich sind, könnte vermutlich an der Struktur liegen. Aber wenn man jetzt zum Beispiel ein Computerspiel mit einer komplexen Programmierung und ein paar Millionen Codes auf eine neue Version setzen möchte, dann müssen Ressourcen aus sehr viel verschiedenen Teams gebündelt und da reingesteckt werden. Und das kriegt man über so eine Struktur von selbstorganisierten Teams nicht hin, sondern da muss man irgendwie eine Steuerungsinstanz haben.
Und wenn die Organisation sagt :“Naja, wir haben aber eigentlich keine keine Hierarchie – wer soll diese Steuerungsinstanz sein?“ kann das an der Stelle nur der Geschäftsführer sein, der dann aber plötzlich hierarchisch durchbrechen muss. Oder er muss irgendwie eine Zwischenhierarchie eingeschoben bekommen, die dafür zuständig ist. Das heißt, man könnte vermuten, dass sich bei dem Spiel genau das negativ auswirkt – dass man auf eine Mittelhierarchie verzichtet hat, die dann dafür zuständig ist, zum Beispiel so ein Release-Datum hinzukriegen.
Selbstorganisation führt zu strukturkonservativem Verhalten
Andreas Hermwille: Für mich bleibt es nach wie vor faszinierend, dass diese Form von Selbstorganisation zu Struktur-Konservativismus führt: Wenn Leute selbst entscheiden können, was sie tun, führt es dazu, dass sie risikoavers sind. Im Alltag geht man immer davon aus, dass es die Hierarchie ist, die uns aufhält. Das ist so ein gesellschaftliches Verständnis von Organisationen: Hierarchie würde Menschen in Organisationen davor stoppen, etwas zu tun. Am Ende stoppen sie sich aber selber.
Stefan Kühl: Ich würde nicht sagen, dass die einzelnen Personen risikoavers sind, sondern dass die Organisation zum Affekt hat, dass sie in Bezug auf grundlegende Veränderungen risikoavers ist. Es kann sehr gut sein, dass zum Beispiel jedes einzelne Organisationsmitglied gerne in ein Risiko gehen möchte und geht. Aber das Einzelrisiko führt nicht dazu, dass die Gesamtorganisation dann plötzlich in einen riskanten Kurs geht, sondern das sind dann halt ganz, ganz viele Mini-Risiken, die in den verschiedenen Teams eingegangen werden, die aber insgesamt für die Organisation gar keine Effekte haben. Denn die Organisation läuft insgesamt weiter, auch wenn es ab und zu das mal gut geht und ab und zu mal schief.
Die Organisation selbst ist risikoavers und zwar in Bezug auf grundlegende Veränderungen ihrer Struktur. Man setzt auf inkrementelle Innovation und nicht auf grundlegende Innovation. Und da kann man ja auch sagen: Ja, warum nicht? Es gibt bestimmte Organisationen, für die das eine geeignete Struktur sein kann. Aber es existiert eben auch die Gefahr, dass diese Organisationen in eine Kompetenz-Falle geraten und genau aufgrund eben dieser für die Organisation gesamt risikoaversen Struktur nachher am Ende in entsprechende Probleme kommen kann.
Risikoaverses Handeln kann in die Kompetenz-Falle führen
Andreas Hermwille: Kompetenz-Falle ist der Begriff dafür, dass man dadurch scheitert, dass man immer wieder das macht, worin man am besten ist – richtig?
Stefan Kühl: Es ist die Tragik des eigenen Erfolgs. Wenn man zu sehr mit bestimmten Sachen erfolgreich ist, dann bilden sich bestimmte Routinen aus, die dazu führen, dass man das immer weiter macht und sich dadurch auch immer weiter bestätigt fühlt. Man kriegt darüber eben nicht mit, wenn sich plötzlich grundlegende Umweltbedingungen verändern und hat dann aber irgendwann dann so einen richtig großen Schock. Das ist eigentlich die Tragik oder das Problem erfolgreicher Organisation, dass sie aufgrund dieses Erfolgs anfangen, ihre eigenen Prozesse immer weiter zu optimieren und dann kein Blick mehr und keine Möglichkeit mehr haben, grundlegende Veränderungen vorzunehmen, die eben außerhalb dieses Erfolgs-Parcours liegen.
Wie sich selbstorganisiert Projekt-Teams bilden
Andreas Hermwille: Ich möchte noch auf eine Beschreibung in diesem Handbuch kommen wo Valve beschreibt, wie sie selbst auf Organisationsstrukturen gucken und wie sie anscheinend darauf reagieren, dass neu eingestellte Mitglieder immer erwarten, es gäbe Struktur und dann gibt es die nicht. Es geht dabei darum, wie sich ein Projektteam bildet:
„Projektteams verfügen oft über eine interne Struktur, die sich temporär aus den Bedürfnissen des Teams herausbildet. Auch wenn Angestellte bei Valve keine feste Stellenbeschreibung oder ein abgegrenztes Aufgabengebiet haben, kann ihnen trotzdem klar sein und ist es auch oft, was ihr Job an einem beliebigen Tag erfordert. Sie erstellen zusammen mit Ihren Kolleg:innen eine Stellenbeschreibung, die den Zielen der Gruppe entspricht. Diese Beschreibung ändert sich mit den Anforderungen, aber die temporäre Struktur liefert eine geteiltes Verständnis darüber, was voneinander erwartet wird. Wir haben bei Valve keine Abneigung gegenüber organisatorischen Strukturen, sie entstehen immer wieder. Wir sehen aber, dass es Probleme gibt, wenn eine Hierarchie oder feste Arbeitsteilung zu lange durchgehalten wird.“ (S. 16 im Handbuch)
Stefan Kühl: Das klingt nach einer Organisation, die letztlich darauf setzt, dass die Erwartungsbildung durch die einzelnen Mitarbeiter festgelegt wird – ohne dass sie in irgendeiner Form formal fixiert werden muss. So machen es beispielsweise klassische Start-Ups oder politische Initiativen, die mit zehn oder fünfzehn Leuten anfangen zu arbeiten. Bis zu einem bestimmten Grade kann man das auch skalieren und letztlich als die Struktur, die sich jedes einzelne Team geben kann, verstehen. In gewisser Art und Weise ist das die informale Variante neuer Organisations-Typen, bei der sehr stark darauf gesetzt wird, möglichst wenig formal zu fixieren.
Das kann man machen. Es ist nur vergleichsweise anstrengend, sich diese Strukturen immer wieder neu zu geben – gerade wenn man keine Hierarchie hat, die einem dabei hilft, so etwas zu strukturieren.
Was passiert, wenn nicht 15, sondern 360 Menschen sich wie ein Start-Up organisieren?
Andreas Hermwille: Sie haben gerade von diesem informalen Organisationstyp gesprochen und die Beispiele der Initiativen oder Start-Ups herangezogen. Wir reden hier normalerweise von Gruppen, die nicht größer werden als 30 Leute oder 40 Leute. Im Fall von Valve haben wir jetzt 360. Was kann man für Effekte erwarten, wenn man hier sagt:“ Ihr findet euch schon zurecht, ihr seid doch erwachsene Menschen, gebt euch doch mal selbst Struktur.“?
Stefan Kühl: Ich vermute, dass die relativ stark über persönliche Netzwerke funktionieren. Personen-Vertrauen spielt aller Wahrscheinlichkeit eine wichtige Rolle und vermutlich wird auch relativ viel über Machtkämpfe ausgefochten. Wenn es mit dem persönlichen Vertrauen nicht geht, dann versucht man irgendwie bestimmte Interessen auch über Macht durchzusetzen. Was wir aus der Forschung wissen, ist, dass Organisationen, die extrem stark auf Informalität setzen, die Hoffnung haben, dass man sehr viel über Personen-Vertrauen laufen lassen kann.
Häufig ist aber der Effekt, dass man es mit unregulierten Machtspielen zu tun hat. Es wäre daher interessant die Organisation dahingehend genauer zu analysieren, wie das genau umgesetzt wird und ob die Organisation so reich ist, dass es im Prinzip egal ist und sich niemand darum kümmern muss. Man kann Machtkämpfe dadurch regulieren, dass es eigentlich egal ist, wie produktiv eine Organisation ist. Aber wenn es um etwas geht und zum Beispiel Ressourcenknappheiten existieren, dann regt das starke mikropolitische Auseinandersetzungen an.
Wie beschreiben Mitarbeitende von Valve die Organisation?
Andreas Hermwille: Das ist eine gute Überleitung, um erstmal auf zwei Beschreibungen zu gucken, die ich mitgebracht habe von ehemaligen Mitarbeitenden von Valve. Man muss hier mit Vorsicht auf diese Beschreibung gucken, denn die sind ehemalig und die sind anscheinend auch nicht im Guten geschieden. Aber was spannend ist bei allem, was man an Beschreibungen findet, ist, dass es Übereinstimmungen darüber gibt, was für Probleme da existieren können.
Diese Beschreibung ist aus einem Magazin, das heißt „Games Industry„. Und eine ehemalige Mitarbeiterin beschreibt: „Es gibt Hierarchien, dass wie Sie es genannt haben, man darf sie nur nicht Hierarchie nennen. Und an der Spitze der Hierarchie sind die Leute, die schon am längsten dabei sind. Und tatsächlich ist intern auch der Begriff der Barone in Gebrauch, um diese Leute zu beschreiben.“ Sie hatten es eben angesprochen – was nun spannend ist: Wie wird eigentlich entschieden, wer auf ein Projekt geht? Dadurch, dass die eigene Entlohnung und die Boni davon abhängig sind, wie erfolgreich die Projekte sind, an dem man beteiligt war, sind Mitglieder immer erpicht darauf, auf sichere Projekte zu gehen.
Die genannte, ehemalige Mitarbeiterin aus dem IT-Bereich war dafür zuständig, herauszufinden, was Valve mit Augmented Reality machen kann. Das war ein Projekt mit offenem Ausgang, welcher ihrer Erfahrung nach zu folgendem Problem geführt hat: „The result is, that people are resistent to work on anything, but the highest profile projects. It’s impossible to pull those people away to work on something risky like augmented reality. They only want to work on the sure thing.“ Hier finden Sie Ihre Antwort auf die Frage: Wie wird eigentlich entschieden, wie das Personal verteilt wird und wie Ressourcen Konflikte gehandelt werden?
Stefan Kühl: Es scheint schon ein Druck da zu sein, dass man performen muss, denn ansonsten würden die nicht auf die sicheren Projekte gehen.
Andreas Hermwille: Den Punkt habe ich ausgelassen, das ist aber auch beschrieben. Es ist ein anonymes Peer- Review-Konzept. Am Ende des Jahres schreibt man darüber, mit wem man zusammengearbeitet hat und wie die Zusammenarbeit mit diesen Personen war. Je nachdem, wie man sich im Team kollektiv anonym bewertet, ergibt das die eigene Bezahlung.
Eine Organisationsstruktur, die an „Animal Farm“ erinnert
Stefan Kühl: Man muss dann vermutlich sehr viel Wert darauf legen, sich mit seinen Kolleginnen und Kollegen gut zu stellen. Sonst ergeben sich Schwierigkeiten bei diesem Review, abhängig davon welche Sanktionen daran hängen. Von dem, was Sie bisher beschrieben haben, wäre das passende Buch zu diesem Organisations-Typus – für den ich viel Sympathie habe – Animal Farm von George Orwell.
Andreas Hermwille: Die Kombination müssen Sie jetzt gut erklären.
Stefan Kühl: Das ist die gleiche Vorstellung, dass man eine Struktur schafft, in der alle gleich sind. In dem Buch von George Orwell ist das schön dargestellte: Der Farmer wird vom Hof gejagt und erstmal besteht die Vorstellung, dass jetzt alle gleich sind. Und dann bildet sich irgendwann ein Schweinesystem aus, in dem die fetten Schweine gleich sind, aber an vielen Stellen deutlich gleicher. Gleichzeitig kann man das nicht kritisieren, da ja alle gleich sind. Das heißt, man darf dann den Chef nicht Chef nennen, weil er offiziell eben kein Chef sein will und sein möchte. Das heißt, es werden bestimmte Begriffe verboten, die man da nicht verwenden kann.
Und dann ergibt sich dieser Orwellsche Talk, durch welchen beschönigt über die Situation geredet wird. Gleichzeit entsteht ein starker Kontrast zwischen der Gleichheitsfiktion, die nach außen gegeben wird und denjenigen, die in der Organisation oder dieser Farm tätig sind und extrem deutlich die Diskrepanzen in Einflussmöglichkeiten sehen können.
Aus meiner Sicht spricht viel dafür, dass in dem Moment, wo eine Organisation so stark auf eine formale Verregelung verzichtet und auf Hierarchieebenen verzichtet, sich eben solche Mechanismen ausbilden. Die wurden von der genannten Mitarbeiterin ganz richtig beschrieben: Dass jeder versucht, seine Nische zu finden, in der man dann noch zurechtkommt. Und sich dann Einige raus bilden, die dann doch irgendwie entscheiden, aber man kann sie nicht kritisieren, weil sie nicht offiziell identifizierbar sind. Die entziehen sich dann auch der Situation, wenn irgendetwas schiefgeht, weil sie offiziell nicht verantwortlich sind. Das ist vermutlich der typische Effekt in stark ent-formalisierten, größeren Organisationen, in denen das Person-Vertrauen alleine nicht mehr ausreicht, um so eine Organisation zu führen.
Warum muss eine idealistische Idee immer in Konflikt enden?
Andreas Hermwille: Ich bin beeindruckt davon, wie lässig Sie das beschreiben, weil das an manchen Stellen das Vertrauen in Menschen erschüttern kann. Warum sind wir nicht dazu in der Lage, in einem größeren sozialen Konstrukt gemeinsam etwas zu schaffen, ohne dass es dazu führt, dass es diese mikropolitischen Konflikte gibt? Dass es Leute gibt, die wissen, dass quasi die Chefs sind, aber man kann sie nicht so nennen? Woher weiß ich, wem ich in meinem Team vertrauen kann? Das ist eigentlich der Traum, frei ein mögliches Ziel auszusuchen. Man hat ein gutes, unterhaltsames Projekt – und dann wird es eine Version von George Orwell. Es ist ja furchtbar.
Stefan Kühl: Im Innersten Ihres Herzens sind Sie vermutlich Idealist, Herr Hermwille, oder? Animal Farm ist jetzt sicherlich eine Beschreibung, die jetzt nicht besonders positiv ist, die man jetzt nicht als als Happy End Geschichte lesen kann. Aber so ist es gar nicht gemeint. Wir gehen erstmal davon aus, dass es in irgendeiner Form einen Mechanismen der Entscheidungsfindung braucht. Dabei gibt es verschiedene Möglichkeiten, mit denen man das machen kann. Es können sich bestimmte informale Führer ausbilden, die aufgrund von ihren Kontakten zur obersten Spitze, aufgrund von ihrem Wissen oder aufgrund der Verfügung über bestimmte Ressourcen herausgehoben sind. Oder man kann sie eben über eine formale Entscheidung identifizierbar machen.
Machtausübung ist in Organisationen nicht vermeidbar
Und in beiden Modellen hat man es mit Machtausübung zu tun. Das eine Mal eben mit einer offen erkennbaren Machtausübung und das andere mit eher einer kaschierteren Form von Machtausübung. In der formalen Variante kann die Machtausübung in der Regel über die Hierarchie – über die formalen Hierarchiestufen – reguliert werden, wohingegen es in dem Modell mit der informalen Hierarchie deutlich schwieriger ist. Wir werden sicherlich nicht diese Situation bekommen, dass Macht keine Rolle spielt. Aber in welcher Form sich Macht kondensiert, ist unterschiedlich. Obwohl ich gerade auf die kritischen Aspekte von Valve verwiesen habe, ist es nicht so, dass ich nicht Sympathie für diesen Organisations-Typus habe. Ich habe relativ viel Zeit in politischen Basisorganisationen und Vereinen zugebracht, wo das letztlich die Strukturierungsform dieses Modells gewesen ist.
Politische Bewegungen funktionieren nach dem Modell, weil sie auch gar keine anderen Möglichkeiten und keine Chancen haben, Hierarchie auszubilden. Es gibt Leute, die hohe Expertisen in dem Ausfechten dieser Machtkämpfe ausgebildet haben. Und es sind auch nicht die Organisationen, die zwangsläufig scheitern. Es gibt gleichzeitig andere Organisationen, die auf formale Hierarchien setzen. Und wenn man da Glück hat, dass man zum Beispiel einen weisen Chef über sich hat, der einen machen lässt und eine schützende Hand über die eigene Brillanz hält, dann kann man sich da vermutlich auch ganz wohlfühlen. Das heißt, auch wenn ich jetzt auf die kritischen Aspekte hinweise, dann soll es nicht heißen, dass es nicht auch Sympathie für dieses Modell gibt.
Andreas Hermwille: Es ging mir nicht um „ohne Macht“, sondern in diesem Punkt um „ohne Hinterhältigkeit“.
Wer offen legt, wie Konflikte gelöst werden, limitiert sich seinen Möglichkeiten
Stefan Kühl: Bei allem Respekt vor dieser New-Work-Diskussion: Das ist im Prinzip Orwell pur. Denn die Organisationen, die sich hinstellen und sagen: „Hört zu, bei uns ist alles so revolutionär anders“ und das auch für ihre Personal-Rekrutierung Strategie nutzen, haben begrenzte Möglichkeiten zu thematisieren, was intern bei ihnen abläuft.
Die Schauseite, die diese Organisation sich geben müssen, sind deutlich ausgeprägter als bei klassischen Organisationen – als beim klassischen Mittelständler, der an der Stelle zum Beispiel auch mal kritische Aspekte deutlicher ansprechen kann. Und auch da würde ich sagen, ist es neutral. Heuchelei gehört auch zur Organisation. Je stärker eine Organisation nach außen geht – das vermutlich geleakte Personal-Handbuch, was von der Organisation herausgespielt worden ist -, desto mehr setzt es die Organisation selbst unter Druck, bestimmte Sachen intern zu halten.
Deswegen ist es immer eine Frage, wie stark man mit seiner eigenen Organisationsstruktur prahlen möchte. Ich tendiere immer eher dazu zu sagen: Wenn ihr das nicht unbedingt zur Rekrutierung braucht, seid da doch lieber zurückhaltend. Ihr müsst nicht unbedingt als besonders vorbildliche Organisation in einem Wirtschaftsmagazin erscheinen. Das kann leicht nach hinten losgehen.
Andreas Hermwille: Mit diesem Medien-Tipp von Stefan Kühl schließen wir hier an dieser Stelle. Herzlichen Dank.