Zum Abschluss der Staffel über Dilemmata diskutieren Andreas Hermwille und Stefan Kühl, wann man sich in Organisationen wirklich für das Eine und damit gegen das Andere entscheiden muss. Oft funktioniert doch auch ein „Sowohl als Auch.“ Oder?
Skript zum Gespräch
(Das Skript gibt den Gesprächsverlauf und Inhalt wieder, ist aber gekürzt und an einigen Stellen zum leichteren Verständnis vom Wortlaut abweichend überarbeitet.)
Andreas Hermwille: Organisationen müssen häufig Entscheidungen treffen, die sich wechselseitig ausschließen – so zumindest der Eindruck. Gibt es nicht aber oft auch die Möglichkeit, das Beste von beiden Seiten zu nehmen?
Stefan Kühl: Die Vorstellung, man könnte Gegensätze zusammenbringen und in etwas Größeres, Harmonisches überführen, klingt auf jeden Fall zunächst sehr attraktiv, weshalb sie vielleicht gerade in der Beratungsbranche so beliebt ist. Ich glaube aber, es handelt sich dabei um Pazifizierungsformeln, weil es schwierig ist, zu sagen, „wir schlagen jetzt diese Richtung ein und die Kosten, die das Ganze hat, nehmen wir in Kauf“.
Man möchte lieber sowohl Globalisierungsstrategien fahren als auch Anpassungen an lokale Kulturen vornehmen und sowohl Beständigkeit als auch Flexibilität in der Organisation verankern. Die Vorstellung, dass diese Gegensätze sich prinzipiell aufheben lassen, ist aus meiner Sicht etwas zu naiv.
Trendkonzept Ambidextrie – was steckt dahinter?
Andreas Hermwille: Das passende theoretische Trendkonzept, was dazu aktuell im Umlauf ist, ist die sogenannte „Ambidextrie“, also „Beidhändigkeit“. Unter „kontextuelle Ambidextrie“ wird zum Beispiel die Fähigkeit verstanden, innerhalb der gleichen organisatorischen Struktur je nach Situation effizient oder adaptiv zu entscheiden und zu handeln. Das setzt ein Übereinkommen der Mitglieder voraus, in welchem Modus man jeweils arbeitet und die Fähigkeit, die eigene Handlungsweisen umzustellen und mit einer Dual entscheidbaren Situation umzugehen. Was halten Sie von der Idee, mit einem Dilemma umzugehen, indem man zwischen den Alternativen situativ switcht?
Stefan Kühl: In einfache Worte übersetzt heißt das ja, „man macht mal das eine und mal das andere“. Und ich würde auch sagen, dass eine Variante, mit widersprüchlichen Anforderungen umzugehen, darin besteht, in der Zeitdimension zu gucken, wo es gerade drauf ankommt. Zum Beispiel ist es fast schon organisationale Selbstverständlichkeit, wenn man gerade eine Effizienzstrategie eingeschlagen hat, die Marktveränderungen zu beobachten und gegebenenfalls auf eine Innovationsstrategie oder Adaptionsstrategie zu wechseln, wenn die Situation sich verändert. Man muss lediglich schauen, dass die Organisation in der Lage ist, auch beides zu machen.
Das kann man auf der Sozialdimension darüber lösen, dass man unterschiedliche Einheiten ausbildet, also zum Beispiel eine Einheit, die eher auf Effizienz, und eine andere, die eher auf Innovation getrimmt ist. Man nutzt so den Effekt der Arbeitsteilung, um innerhalb der Organisation auch widersprüchliche Mechanismen miteinander vereinbar zu machen. Aber das heißt eben nicht, dass die Widersprüche in der einzelnen Organisationseinheit aufgelöst werden.
Auf der Sachdimension macht es außerdem Sinn, zu schauen, was für ein Problem gelöst werden muss, und wie die Strukturen darauf angepasst sind. Man kann zum Beispiel die Organisationseinheit, die für Pressearbeit zuständig ist, eher an Zweckprogrammen ausrichten, während die anderen im Maschinenraum über Konditionalprogramme laufen.
Widersprüche halten Organisationen nicht lange auf
Andreas Hermwille: Haben Sie gerade gesagt, dass es kein Problem ist, mit Dilemmata umzugehen?
Stefan Kühl: Ja. Organisationen entwickeln immer einen Umgang und suchen automatisch, wenn sie mit Dilemmata konfrontiert werden, Lösungen, um die widersprüchlichen Anforderungen in ihre Strukturen zu übersetzen. Was ich gerade mit diesen drei Sinndimension beschrieben habe ist lediglich ein Ordnungschema.
Die Organisation muss sich nicht für eine Seite entscheiden. Es gibt Möglichkeiten, Spannungsfelder innerhalb der Organisation strukturell aufzulösen.
Andreas Hermwille: Ich finde das sehr instruktiv, ein Dilemma zu lösen, indem man die widersprüchlichen Anforderungen auftrennt. Also das Problem entweder in der Zeitdimension löst, indem man es nacheinander bearbeitet, oder es auf verschiedene Abteilungen aufteilt, die dann unterschiedlichen Logiken folgen.
Stefan Kühl: Diese Lösungen ändern leider ja nichts daran, dass es trotzdem ein Dilemma bleibt. Eine Einheit kann eben nicht sowohl fremd- als auch selbstorganisiert sein. Das heißt der Kern des Dilemmas bleibt bestehen. Worauf ich hinweisen möchte ist, dass die Organisation sich nicht für eine Seite entscheiden muss. Es gibt Möglichkeiten, diese verschiedenen Spannungsfelder innerhalb der Organisation strukturell aufzulösen. Durch die Arbeitsteilung hat man Variationsmöglichkeiten. Es geht nur eben nicht darum, eine Balance zu finden.
Organisationale Spannungsfelder zeigen sich an Konsistenzproblemen
Andreas Hermwille: Was sind davon dann die Folgen? Also was passiert zum Beispiel mit einer Organisation, die den einen Teil flach organisiert und den anderen steil hierarchisch?
Stefan Kühl: Das ist genau der Punkt, der beimAmbidextrie Konzept bisher noch nicht stark genug hervorgehoben wird – dass man, wenn man Organisationen mit widersprüchlichen Arbeitsformen oder -strukturen ausstattet, ein Konsistenzproblem hat. Wenn die Spannungsfelder in der Organisation aufeinanderstoßen führt das logischerweise zu internen Spannungen. Man kann eben nicht sagen, „unsere Organisation steht für steile oder flache Hierarchien“, sondern die Antwort wäre, „das hängt immer von der entsprechenden Organisationseinheit ab“. Oder davon, in was für einer Marktsituation wir uns gerade befinden.
Andreas Hermwille: Das heißt ja auch: Je mehr mit Ambidextrie gearbeitet wird, desto komplexer wird die gesamte Situation.
Stefan Kühl: Diese Komplexität entsteht ganz von selbst, indem einzelne Abteilungen entscheiden, sich auf eine bestimmte Weise zu organisieren. So kann es passieren, dass in der gleichen Organisation in der einen Abteilung, die sich ohne hierarchische Führung selbst organisiert, die klassischen ungewollten Nebenfolgen von selbstorganisierten Teams entstehen, und in der anderen Abteilung, wo man auf Fließbandproduktion setzt, die ungewollten Nebenfolgen einer klassisch hierarchisch durchstandardisierten Organisation. Das heißt, wir haben dann jeweils unterschiedliche ungewollte Nebenfolgen, weil innerhalb der Organisation auf unterschiedliche Logiken gesetzt wird.
Widersprüchliche Umweltanforderungen führen zu widersprüchlichen Organisationsprinzipien
Andreas Hermwille: Wenn sich die Strukturen organisch komplett unterschiedlich entwickeln, führt das dann nicht zu Problemen, die eine Hierarchiestufe weiter oben gelöst werden müssen?
Stefan Kühl: Die Frage ist, wie viel Ordnungsfanatismus man hat. Man kann sich Organisationen auch als sauber strukturiertes Treibhaus wünschen, wo alles perfekt ineinandergreift. Bei den meisten Organisationen hat man es aber eher mit Wildwuchs zu tun, der aus unterschiedlichen Initiativen entsteht. Und bis zu einem bestimmten Grad ist das für die Organisation gar nicht so schlecht, dass das so ist.
Andreas Hermwille: Geht es also darum, mehr Widersprüche auszuhalten?
Stefan Kühl: Das Leben in Organisationen besteht zu einem Großteil aus dem Aushalten von Widersprüchen. Es mag Bereiche geben, in denen totale Klarheit herrscht, aber das wird immer dadurch erkauft, dass die Widersprüchlichkeiten auf anderen Ebenen entstehen. Das liegt daran, dass es Organisationen mit einer sehr heterogenen Umwelt zu tun haben, die extrem unterschiedliche Anforderungen stellt. Was dann passiert ist, dass externe Widersprüche in interne übersetzt werden, die durch die Hierarchie zusammengehalten werden. Für eine widerspruchsfreie Organisation bräuchte man eine komplett statische Umwelsituation, die es in dieser Form nicht gibt.