Folge 1 einer 10-Folgen-Staffel zum „Die Humanisierung der Organisation. Wie man dem Menschen gerecht wird, indem man den Großteil seines Wesens ignoriert“, von Kai Matthiesen, Judith Muster und Judith Muster.
In dieser Folge sprechen Judith Muster und Kai Matthiesen über die Frage, wie man von der Perspektive der Einzelnen zum „Big Picture“ kommt und warum es nicht fair ist, strukturelle Defizite der Organisation mit informellen Erwartungen auszugleichen.
Moderiert wird das Gespräch von Andreas Hermwille.
Skript zum Gespräch
(Das Skript gibt den Gesprächsverlauf und Inhalt wieder, ist aber gekürzt und an einigen Stellen zum leichteren Verständnis vom Wortlaut abweichend überarbeitet.)
Andreas Hermwille: Ihr sagt, eure Motivation für das Buch war, dass ihr die „Abwärtsspirale“, in der Organisationen ihre Probleme personalisieren, durchbrechen möchtet. Wie kann ich das verstehen?
Kai Matthiesen: Die erste große Organisation, mit der ich es zu tun hatte, war die Bundeswehr. Ich dachte, das sei eine besondere Organisation, weil es immer wieder dazu kam, dass man als Individuum plötzlich die Torte im Gesicht hatte, weil man bestimmte Regeln gebrochen hatte, die man gar nicht befolgen konnte, weil sie so bescheuert waren.
Und dann kam ich in andere Organisationen rein, unter anderem zu Bertelsmann, was ja ein respektabler Konzern ist, und da passierte das gleiche. Auch dort wurden Personen für Fehler beschuldigt, die gar nicht ihr Versäumnis waren. Irgendwann habe ich gemerkt: Das passiert in allen Organisationen. Es kommt immer wieder dazu, dass Menschen die Schuld für strukturelle Probleme zugeschoben wird. Ich wollte mich gerne einmal ausführlicher mit den Gründen für diese Tendenzen auseinandersetzen und eine Gegenposition formulieren.
Judith Muster: Ich beschäftige mich seit mittlerweile 20 Jahren mit Systemtheorie, in der man mehr auf das soziale System als auf den einzelnen Menschen schaut. Gleichzeitig habe ich zu Beginn meiner Karriere in einer Beratung mit kommunikationspsychologischem Ansatz gearbeitet, die viel am Einzelnen ansetzt. Seitdem versuche ich diese beiden Pole zusammenzubringen – wobei mich der Gedanke sehr entlastet hat, dass man an den Verhältnissen und nicht am Verhalten ansetzen muss, wenn man Organisationen verändern möchte.
Wer den Menschen ignoriert, bekommt das System in den Blick.
Andreas Hermwille: Im Untertitel des Buches sprecht ihr davon, dem Menschen gerecht zu werden, indem man den Großteil seines Wesens ignoriert. Warum ignorieren? Hätte man nicht auch sagen können, „wie man dem Menschen gerecht wird, indem man den Organisationen klar macht, was sie den Menschen antun“?
Judith Muster: In verschiedenen Managementmoden gibt es immer wieder Trends, den Menschen in den Blick zu nehmen – zum Beispiel immer dann, wenn es ums „Mindset“ geht, oder bei der Idee der transformationalen Führung. Davon wollten wir uns abgrenzen.
Kai Matthiesen: Ich hatte das Bedürfnis, mich von meiner eigenen früheren Haltung zu distanzieren. Ich habe mal eine Dissertation zum „Menschenbild in der Betriebswirtschaftslehre“ geschrieben, und damals schon beim Schreiben gemerkt, dass der Ansatz, das „Lebensweltliche“ in das System reinzubringen, nicht funktionieren kann.
Gleichzeitig verstehe ich, dass man immer wieder den Impuls hat, am Menschen anzusetzen – schließlich hat man es den ganzen Tag mit ihm zu tun. Das „System Organisation“ bleibt immer abstrakt. Den Menschen aus der Rechnung rauszunehmen ist nicht intuitiv, und gleichzeitig hilft genau dieses Denken weiter.
Von der Perspektive der Einzelnen zum „Big Picture“
Andreas Hermwille: Im Buch zitiert ihr Erving Goffman, der sagt, es geht nicht um „Menschen und ihre Situation“, sondern um „Situationen und ihre Menschen“. Wie widmet man sich „Situationen und ihren Menschen“?
Judith Muster: Wenn wir als Berater*innen anfangen, mit Organisationen zu arbeiten, reden wir zunächst mit ganz vielen Menschen und folgen ihrer inneren Landkarte oder – soziologisch ausgedrückt – ihrer lokalen Rationalität, um ihre Perspektiven auf die Organisation zu begreifen. Das ist zunächst ein sehr akteursorientierter Ansatz.
Nach einigen Gesprächen abstrahieren wir dann vom Einzelnen und versuchen, die Perspektiven, die wir bekommen haben, auf die Verhältnisse der Organisation zurückzurechnen, und zu fragen, warum diese spezifische Perspektive jetzt plausibel ist, wenn man sich die formale und informale Struktur der Organisation anschaut.
Kai Matthiesen: Die Perspektiven, die wir bekommen, sind natürlich oft auch personalisiert – also es kommt häufig zu Schuldzuweisungen an Kolleg*innen oder an andere Abteilungen. Erst wenn wir im Anschluss an die Gespräche die Perspektiven zusammenführen bekommen wir einen guten Eindruck für die Gesamtkonstellation und die Spannungen, Konflikte und Koalitionen, die sich in der Organisation herausbilden.
Judith Muster: Das ist häufig zunächst kontraintuitiv, wenn man den Erzählungen der Personen und ihren persönlichen Beschreibungen folgt. Wir müssen uns meist sehr aktiv zurücklehnen, um diesen Spurwechsel auf die Perspektive der Organisation zu absolvieren.
„Die Organisation“ ist ein emergentes Phänomen
Andreas Hermwille: Was meint eigentlich DIE Organisation genau? Wir haben Personen, wir haben Mitglieder, aber wer ist DIE Organisation?
Kai Matthiesen: Das Problem fängt genau damit an, dass Organisationen in der sprachlichen Abkürzung immer personalisiert werden. DIE Organisation ist eigentlich ein emergentes Phänomen. Sie „passiert“ einfach und weil es passiert kann man beobachten, dass etwas passiert. Es gibt nicht einen Player, sondern es ist das Zusammenspiel der verschiedenen Akteure, das man beschreiben kann als Organisation.
Judith Muster: Ich mache mal ein Beispiel. Ich habe nach dem Abitur in einer Werbeagentur gearbeitet, während ich auf meinen Studienplatz gewartet habe. Ich hatte einen Vertrag, dem nach ich von 9:00 bis 17:00 arbeiten sollte. Und als ich regelmäßig versucht habe, um 17:00 nach Hause zu gehen, bekam ich immer vom Empfang den Spruch „Na? Wieder einen halben Tag Urlaub genommen?“.
Die Erwartungsstruktur DER Organisation war offensichtlich, dass man um 17:00 in einer Werbeagentur nicht nach Hause geht. Die Frage ist: Wer hat das entschieden? Vermutlich nicht die Frau am Empfang oder die Person, die mir den Arbeitsvertrag zur Unterschrift vorgelegt hat. Sondern es ist vermutlich über die Zeit eine emergente informale Erwartungshaltung entstanden, die eben auch nicht mehr zurechenbar ist auf eine einzelne Person.
Kai Matthiesen: Ich habe mal in einer Beratung gearbeitet, in der informal erwartet wurde, samstags ins Büro zu kommen. Als ich dann auch mal samstags ins Büro gegangen bin habe ich meine Kolleg*innen getroffen, die dort größtenteils saßen und Zeitung lasen. Also es war irgendwie nicht wahnsinnig produktiv, was sie da taten, aber es war wichtig, sich sehen zu lassen, auch wenn es keiner entschieden hatte und mich auch niemand dazu gezwungen hätte.
Die Grenze zwischen Mensch und Mitglied
Andreas Hermwille: Das heißt, es entwickeln sich Erwartungsstrukturen, die an die Mitglieder gestellt werden, ohne dass ein konkreter Mensch dafür verantwortlich ist. Wie entsteht denn diese Grenze zwischen Mensch und Mitglied?
Kai Matthiesen: Das ist eine begriffliche Trennung, die man nicht im Kopf hat, wenn man als Mensch einen Arbeitsvertrag in einer Organisation unterschreibt. Man geht da als voller Mensch rein und gerade deshalb kriegt man auch die Differenzierung nicht hin, dass die Organisation einen als Mitglied anspielt und nicht als Mensch. Und dann entstehen Momente, wo man merkt: Warte mal, in meinem Arbeitsvertrag habe ich ja eigentlich nur gesagt, dass ich meine Arbeitszeit zur Verfügung stelle und bereit bin, mich den Regeln der Organisation zu unterwerfen. Ich habe aber nicht gesagt, dass ich am Samstag zum Zeitunglesen komme. Dieses Auseinanderdividieren klappt besser, wenn man zwischen Mensch und Mitglied trennt. Das Bewusstsein dafür, dass es einen Unterschied gibt zwischen Mitglied und Mensch – das ist die Erkenntnis, die wir versuchen, zu vermitteln.
Andreas Hermwille: Und wie hilft mir diese Erkenntnis, wenn ich merke, dass ich von meiner Organisation als Mensch in die Organisation reingezogen werde, weil von mir als Mitglied erwartet wird, samstags zum Zeitunglesen zu kommen?
Das Bewusstsein dafür, dass es einen Unterschied gibt zwischen Mitglied und Mensch – das ist die Erkenntnis, die wir versuchen, zu vermitteln.
Judith Muster: Das Problematischean informalen Erwartungsstrukturen ist, dass man sie nicht wegentscheiden kann. Das ist ja das Gemeine an Organisationen, dass sie es eben schaffen, den Menschen doch wieder hineinzuziehen. Das Problem ist, dass – wie Niklas Luhmann es schön ausdrückt – die „individuelle Persönlichkeit als Auffangvorrichtungen für organisatorisch ungelöste oder unlösbare Probleme erscheint“.
Das ist, was die Organisation regulär tut, und als Mensch steht man dann da, unterschreibt einen Arbeitsvertrag, und leistet dann doch mehr, als darin erwartet wird. Oder man hat eine gute Idee und macht einen Vorschlag und die anderen Mitglieder verstehen das als Initiative, die sie dir persönlich zurechnen, und sagen „warum bist du schon wieder so übermotiviert“? In unserem Buch versuchen wir ein Instrumentarium anzubieten, das diese Dynamiken sichtbar machen kann.
„Still confused – but on a higher level”
Andreas Hermwille: Das heißt, wir lernen etwas für unser Problembewusstsein – aber wie lösen wir die Bredouille, in der wir stecken, wenn wir sie erkannt haben?
Kai Matthiesen: Wir wollen keine Lösungen liefern, sondern helfen, zu verstehen, um die Urteilskraft zu schärfen. Also „still confused but on the higher level“ könnte man sagen. Wer seine Situation durchschaut kann Entscheidungen treffen, zum Beispiel das Unternehmen verlassen oder sagen „bis hierhin und nicht weiter“ – oder aber akzeptieren, dass es so läuft, wie es läuft.
Judith Muster: Wir wollen natürlich trotzdem darauf hinweisen, dass es Gestaltungshebel in der Organisation gibt, die Menschen nutzen können, um die Organisation besser zu gestalten und dafür zu sorgen, dass man die Menschen durch bessere Organisation entlastet. Auf diese Weise können einzelne Akteure für sich herausfinden: Wo sind meine Handlungsspielräume?
Kai Matthiesen: Unser Buch ist eben auch für Menschen,die die Gestaltungsmacht haben, Organisationen zu verändern. Wir möchten Begriffe liefern, die helfen, zu sortieren und durch die Reflexion im Anschluss anders zu handeln.
Andreas Hermwille: Ihr beschreibt im Anschluss an Luhmann, dass die Trennung zwischen Mensch und Mitglied darin besteht, dass Mitglieder in der Organisation nicht als ganzer Mensch erscheinen, sondern nur „partielles Engagement“ innerhalb ihrer Mitgliedsrolle mitbringen. Wie realistisch ist es, diese Trennung wirklich zu ziehen?
Judith Muster: Das ist eben leider nicht realistisch. Uns geht es auch darum: Wie schafft man es, dass die Organisation nicht total übergriffig wird? Wir möchten darauf hinweisen, dass Personen nicht dauerhaft in die Lücke der Organisation springen können.
Wenn Menschen die strukturellen Defizite der Organisation ausgleichen
Kai Matthiesen: Wir wollen niemanden davon abhalten, sich einzubringen – wenn man Spaß bei der Arbeit hat ist jeder Mensch frei zu tun, was ihm oder ihr gerade gefällt, also auch mal länger zu bleiben zum Beispiel. Wir wollen nur dafür sensibilisieren, aufzupassen, ob man gerade wirklich freiwillig entscheidet, oder eher den subtilen Zwängen der Organisation gehorcht, die mit überhöhten informalen Erwartungen an ihre Mitglieder ihre strukturellen Defizite ausgleicht.
Judith Muster: Es ist eben kein Gestaltungshebel für Organisationen, aufden Einsatz von einzelnen Menschen zu setzen, um die Organisation strukturell abzusichern. Auf diesem Weg wären Organisationen auch komplett abhängig von den Launen ihrer Mitglieder. Sondern es geht um den Gedanken, dass sich Organisationen als Sozialsystem unabhängig von den Menschen, die für sie arbeiten, strukturieren können, indem sie die Mitgliedschaft an bestimmte Bedingungen knüpfen und diese explizieren. Wir möchten Alternativen dazu anbieten, dass sich einzelne Personen für die Organisation aufreiben.
Kai Matthiesen: Wir wünschen uns die Bescheidenheit, in Organisationen nicht immer den ganzen Menschen haben zu wollen, sondern sich bezüglich der Erwartungen auf die Rolle als Mitglied zu beschränken – auch, wenn letztlich immer der ganze Mensch mit seiner Geschichte, seinen Launen und seinen Fähigkeiten vor uns steht.
Durch diese Fokussierung auf das Wesentliche lässt sich auch viel präziser und nachhaltiger erarbeiten, welche Hebel man innerhalb einer Organisation bewegen kann, um das Verhalten der Mitglieder in die gewünschte Richtung zu verändern.