Ich kann nicht an schlecht gemähten Rasenflächen vorbeigehen, ohne an einen Besuch bei einem Hersteller für Gartengeräte zurückzudenken. Tief in einem verschachtelten Gewerbegebiet befand sich in einem Büroquader die Hauptverwaltung dieser Firma, umgeben von vielen anderen Büroquadern. Das triste Straßenbild aus geparkten Autos und Lastwagen und die ineinander übergehenden Grautöne – das Hellgrau des Straßenasphalts, das Dunkelgrau des Schotters auf dem Parkplatz und das verwaschene Betongrau der Gebäudefassaden – ließen das Auge hungern nach irgendeiner farblich interessanten Inspiration.
Mein Blick blieb am leidlich grünen Rasen hängen, der das Gebäude umgab. Der Rasen sah aus, als hätte ein Zwölfjähriger endlich die versprochene Runde auf dem Aufsitzmäher drehen dürfen – aber schon nach zehn Minuten die Arbeit gekündigt. Das Ergebnis konnte fast durchgehen als Einladung an Flora und Fauna, sich heimisch zu fühlen – wäre man nicht inmitten eines Gewerbegebiets gewesen das maximal für die Steinlaus einen attraktiven Lebensraum darstellte.
Ein Hersteller von Gartengeräten, der den eigenen Garten nicht pflegt. Das war der erste Eindruck, der sich einprägte: Was stimmte hier nicht? Woran hakt es in einer Organisation, wenn diese ganz einfachen Aufgaben des Managements der Außendarstellung liegen bleiben?
In solchen kleinen, liegengelassenen oder offensichtlich nachlässig erledigten Aufgaben, stecken eigentlich immer Geschichten über eine an den Enden ausfransende Arbeitsteilung. Wollte man sich darüber ärgern, dann würde man sie beschreiben als „Irgendwer kümmert sich schon“-Syndrom: In einer Organisation mit ausdifferenzierter Arbeitsteilung weiß nicht nur jedes Mitglied, was es zu tun hat. Es wissen auch alle, was sie von sich weisen dürfen.
Es ist sehr leicht, sich über diese Ablehnung von Verantwortung aufzuregen. „Bitte einmal mitdenken“, in bester passiv-aggressiver Weise betont, passt in so vielen Situationen des Arbeitslebens: Wenn niemand den Gast begrüßt, der in der Eingangshalle steht. Wenn man erst am Ende der Besprechung merkt, dass niemand mitgeschrieben hat. Wenn man ein Event plant und erst am Vorabend merkt, dass die wichtigsten Akteure gar keine Zeit haben.
Dass es nicht einfach ist, alle zu mehr Mitdenken aufzufordern, wird klar, wenn man sich die Situation umgedreht vorgestellt: Wenn Fremde die Firma betreten, beginnt das Wettrennen, wer zuerst begrüßen darf. Am Ende eines Meetings geht nicht ein, sondern gehen fünf Protokolle über den @all-Verteiler. Und auf dem Rasen des Gartengeräteherstellers spielen die Mitarbeitenden mit den Rasenmähern Autoscooter.
In einer Organisation lernen Menschen schnell, dass das einmal Mitdenken bereits einmal zu viel gewesen sein kann. Arbeitsteilung ist nicht nur die Einladung, Arbeitsteilung ist die Aufforderung, sich nicht um Dinge außerhalb der eigenen Rolle zu kümmern. Als Außenstehender ist die Sinnhaftigkeit solch strikter Trennungen nicht immer zu durchschauen. Aber wer einmal hinter jemandem hinterherräumen musste, dessen engagierter Einsatz mit den Worten „Es geht mich ja nichts an, aber…“ begonnen hat und mit „Ich wollte nur helfen!“ endete, der ist dankbar um jede hilfreiche Hand, die in der Hosentasche bleibt. Ganz zu schweigen davon, wie unvermeidbar invasiv es auf die adressierten Kolleg*innen wirkt, wenn man sich über Abteilungs- und Höflichkeitsgrenzen hinweg in den Verantwortungsbereich anderer Leute lehnt, um ihnen zu erklären, wie sie ihre Arbeit machen sollen. So macht man sich in Organisationen beliebt.
Es fehlt noch die Erklärung dafür, warum sich das Top-Management, um den Rasen kümmern wird (oder eben nicht): Es gibt nur eine Stelle, die für invasive Manöver einen Freifahrtschein hat (und für die auch jede Arbeit an der Beliebtheit zu spät kommt): Das ist die Spitze.
Nur an der Spitze einer Hierarchie ist klar, dass man auf Missstände hinweisen darf, ohne dabei ausgesprochene oder unausgesprochene Regeln zu verletzen. Will man dabei etwas bewirken, lässt man auch besser den passiv-aggressiven Tonfall sein. Und hilfreich ist auch, wenn man sich beim Eingriff im Rahmen der eigenen Kompetenzen bewegt – denn Hierarchiespitze schützt vor Hybris nicht.
Noch besser, als nur das akute Problem zu lösen, ist es, im nächsten Schritt auf die Strukturen zu schauen – und zwar mit dem Gefühl einer Errungenschaft: Wie gut, dass sich alle an die vereinbarte Arbeitsteilung gehalten haben! Das macht Strukturprobleme sichtbar!
Und dann kann man auch ganz offen fragen: Wer hat Kapazitäten und die Kompetenzen, unseren Rasenmäher zu fahren?