Vor einigen Jahren hatte ich einen Auftrag bei einem skandinavischen Logistikunternehmen, an den ich immer wieder zurückdenken muss. Einer der Gründe heißt Svensson*. Svensson war Ende 50 und hatte den größten Teil seines Berufslebens für den Logistiker gearbeitet. Ein Mann der Zahlen, weniger der Worte. Da war es gut, dass Svensson ein Einzelbüro und einen zahlenorientierten Job hatte. Bei ihm liefen die Input/Output-Daten aus unterschiedlichen Bereichen des Geschäfts zusammen, aus denen er einfach zu lesende Reportings anfertigte. Auch das Top-Management bekäme seine Reportings, betonte er stolz.
Wenn eine Organisation so einen Svensson hat, der Freude an Aufgaben hat, die andere anöden – dann hat sie schon viel gewonnen.
Das Herzstück von Svenssons Arbeit war der tägliche Versandreport. Jeden Morgen schickte er dem COO eine Aufstellung darüber, welche Waren heute in die Welt hinausgehen würden. Svensson konnte nicht mehr genau sagen, seit wann er diesen Versandreport schrieb. Fünf Jahre? Sechs? Er schrieb ihn einfach. Jeden Morgen, bis 11:30 h, spätestens
Die Organisation war gewachsen in der Zwischenzeit. Mehr Ware ging durch die Hände des Logistikers. Svensson schickte den Report. Vorstände kamen und gingen. Das Business-Modell wurde angepasst. Svensson schickte den Report. Darauf war Verlass.
Weil mir nach der Begegnung mit Svensson nicht aus dem Kopf ging, wie viel Zeit dieser Mann diesem Versandreport einräumen musste, jeden Tag, sprach ich bei nächster Gelegenheit den COO darauf an: Wie er diesen Versandreport in seiner Arbeit nutzen würde? Der COO schaute verlegen: Er würde viele der Reports lesen, und wenn er sie nicht sofort las, dann waren sie da, sobald er sie brauchte. Aber den täglichen Versandreport? Den hätte er nur in seinen Anfangstagen einmal geöffnet, dann erkannt, dass ihm die Informationen nicht weiterhelfen . Seitdem archiviere er ihn jeden Morgen . Nicht löschen – nur archivieren, betonte er.
Wir beschlossen, eine Mitteilung aufzusetzen: Der Report sei bisher sehr nützlich gewesen, in Zukunft brauche man ihn aber nicht mehr. Man habe Svenssons Unterstützung sehr geschätzt, aber er könne seine Zeit ab jetzt anders einsetzen, zu tun gäbe es für so einen Zahlenenthusiasten ja eindeutig genug. Letzteres war wenigstens wahr. Und ich hoffe, alles andere hat Svensson nie erfahren.
Remanente Strukturen
Ich kehre gedanklich immer mal wieder zurück zu Svensson und diesem Logistikunternehmen . Immer, wenn ich mit Unternehmen arbeite, die ich unter der Last ihrer eigenen Geschichte einknicken sehe: Stellen, Prozesse, Berichtswege sind noch ausgerichtet auf längst überholte Bezugsprobleme oder inzwischen irrelevant gewordene Bedürfnisse bestimmter Personen. Doch auch wenn der Bezug schon lange verloren gegangen ist – die Räder drehen sich auf gewohnte Weise weiter. Der Versandreport muss raus.
Die Organisationstheorie hat – meiner bisherigen Recherche nach – keinen richtig griffigen Begriff für dieses Phänomen. Man könnte mit „structural inertia“ argumentieren – aber da geht es mehr um Widerstände gegen Veränderungen. „Pfadabhängigkeit“ ist eine andere Möglichkeit, aber da geht es mehr darum, dass alte Entscheidungen festlegen, wie die nächsten Entscheidungen aussehen werden.
Bis auf Weiteres leihe ich mir darum einen Terminus aus der Physik: Dort spricht man von „Remanenz“, wenn ein Gegenstand seine magnetische Ladung und Ausrichtung behält, obwohl die Ursache, die ihn magnetisch aufgeladen hat, gar nicht mehr auf ihn einwirkt. Das beschreibt die Dinge gut: Die organisationalen Strukturen sind aufgeladen, auf eine Quelle, einen Zweck hin ausgerichtet – und von selbst werden sie sich nicht neu ausrichten.
Einen Magneten zu finden, der der ein Umpolen der Strukturen ermöglicht – das ist dann die schwierige Management- und Consulting-Arbeit!
*Es wird niemanden überraschen: Der Herr hieß nicht Svensson.