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Die bleibewürdige Organisation

Die drei Seiten von Organisation verstehen – und bessere Employee Retention ermöglichen

  • Mittwoch, 19. März 2025

Nicht immer wird bei Kündigungen klar darüber gesprochen, was genau an der Organisation das Problem gewesen ist. Als Organisationsgestalter:in muss man sich oft selbst auf die Suche machen. Zum Glück bietet die bewährte Heuristik der “drei Seiten der Organisation” eine Einordnung: Austritte können aufgrund von Unstimmigkeiten in den Kommunikationswegen, Enttäuschungen über eine nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmenden Schauseite oder unpassenden informalen Erwartungen zustande kommen.

Jede Kündigung ist zuerst eine persönliche Entscheidung. Gerade bei Kündigungen, die „im Guten“ passieren, es zwischen der scheidenden Mitarbeiterin oder dem Mitarbeiter und dem Unternehmen gar nicht zum großen Knall gekommen ist, sondern nur der Wunsch nach den berühmten neuen Ufern zu groß ist, um noch zum Bleiben bewegt werden zu können, bleibt Organisationsverantwortlichen wenig anderes übrig, als einen herzlichen Abschied zu ermöglichen. Wo Bleiben keine Option mehr ist, kann man wenigstens das Wiedersehen erleichtern. 

 Aber so individuell die jeweilige Motivation ist, eine Organisation zu verlassen, so wichtig ist für die Verantwortlichen der Organisation, nach Mustern in Kündigungen Ausschau zu halten. Gibt es einen bestimmten Arbeitsbereich, der eine höhere Fluktuation hat? Sind es auffällig viele Frauen, junge Menschen oder gerade Ältere, die für sich persönlich beschließen, ihr Glück woanders zu suchen? 

 Was sagen die scheidenden Mitarbeitenden selbst über ihre Motive? Gerade wenn man systematisch danach fragt, können trotz letzter diplomatischer Undeutlichkeiten oder wutentbrannter Überdeutlichkeiten, die jeweils für sich stehend keine Aussagekraft haben, mit jeder Kündigung die Gründe besser verstanden werden, die Menschen zum Gehen bewegen. So kann der thematisierte Abschied wenigstens dafür genutzt werden, den anderen das Bleiben zu erleichtern. 

 Unserer Erfahrung nach wird beim Versuch, den Menschen eine bleibewürdige Organisation zu schaffen, ironischerweise häufig nur auf den einzelnen Menschen geschaut. Die Diskussion darüber, wie jeder Einzelne wertgeschätzt, seine Bedürfnisse befriedigt, seine individuellen Stärken gefördert und Schwächen ausgeglichen werden, lenkt dabei den Blick ab von den organisationalen Problemen.  

 Gezielte individuelle Förderung ist wichtig, wo gezielt bestimmte Individuen gehalten werden sollen. Aber hohe Fluktuation ist ein Kollektivproblem. Um Kollektivprobleme in den Griff zu bekommen, muss man an den Verhältnissen ansetzen. Und um an den Verhältnissen ansetzen zu können, braucht es Heuristiken und Modelle, diese zu begreifen. Von einer Heuristik aus der Organisationssoziologie sind für besonders offene Fans, weil sie die in der Praxis so gut anschlussfähig ist:

Angesprochen sind mit dieser Unterscheidung die verschiedenen Ebenen, auf denen sich in Organisationen Erwartungsstrukturen ausbilden. Jede dieser Strukturebenen funktioniert nach anderen ‚Spielregeln‘. Es eint sie aber, dass sie alle das Verhalten der Organisationsmitglieder orientieren können, weil sie Erwartungen erwartbar machen: Man weiß (mehr oder weniger), was von einem selbst und anderen erwartet wird. Und man weiß auch, dass auch die anderen wissen, was von ihnen und auch von einem selbst erwartet wird. Im Ergebnis gelingt es Organisationen so, Arbeitsbeiträge aufeinander abzustimmen, ohne sie situativ jeweils neu aushandeln zu müssen. 

 1.1 Die Schauseite der Organisation: Hübsche Fassade, wie viel dahinter? 

Die Schauseite der Organisation ist primär nach außen gerichtet. Sie ist der Teil der Organisation, den man als Kunde oder Bewerberin kennenlernt. Je nach Organisation gibt es ganze Abteilungen, die sich um eine gute Schauseite kümmern. Manchmal gibt es auch nur einfache Vereinbarungen, wie die, interne Angelegenheiten nicht unter Anwesenheit Organisations-Fremder zu besprechen. 

 Zwar werden auch Teile der Formalstruktur nach außen präsentiert, etwa das Organigramm oder Ansprechpartner:innen und ihre Zuständigkeiten. Die Funktion der Schauseite ist es aber nicht, über die faktischen Zustände im Inneren der Organisation zu informieren, sondern die vielschichtigen Erwartungen externer Stakeholder zu bedienen. Dabei verkompliziert sich die Schauseitengestaltung durch den Umstand, dass Investor:innen, Kund:innen aber auch potenzielle Arbeitnehmer:innen je unterschiedliche und teils einander widersprechende Erwartungen haben: Investor:innen interessieren sich für Renditeaussichten, Kund:innen für Preise und möglicherweise Nachhaltigkeitsaspekte und Arbeitnehmer:innen für ansprechende Arbeitsbedingungen und Karrieremöglichkeiten. 

Dementsprechend gleicht die Schauseite auch eher einem von der Organisation kuratierten Mix aus formalen Strukturen und normativen Selbstbeschreibungen. Man stellt sich als die Organisation dar, die man gern sein möchte und dokumentiert damit vor allem den eigenen Anspruch. Typischerweise sind diese Darstellungen von Wertformulierungen geprägt (Nachhaltigkeit, Innovativität, Diversity uvm.). Diese sind zwar sehr abstrakt, zugleich aber hochgradig konsensfähig und gerade deswegen für die Darstellung nach außen gut geeignet. Widersprüche werden damit eher verdeckt, sodass Renditeversprechen und Nachhaltigkeit oder schnelle Lieferung und hohe Qualität zugleich versprochen werden können – auch wenn im Einzelfall das eine oftmals auf Kosten des anderen gehen wird. Gerade weil Schauseiten zumeist auf abstrakte Wertformulierungen Bezug nehmen, haben sie eher wenig Orientierungskraft nach innen. Wie ich meinen Job konkret zu erledigen habe – dazu finden sich in Leitbildern und Visionen kaum konkrete Anhaltspunkte. 

 Gleichwohl kann auch der Schauseite in einem Retention-Projekt eine große Bedeutung zukommen. Dabei muss man als Organisationsgestalterin oder -gestalter zuvorderst auf das Risiko schauen: Wenn die Außendarstellung der Organisation zu weit von der innerorganisationalen Wirklichkeit abweicht, oder wenn sich das Engagement auf medienwirksame Projekte konzentriert, komplexere Probleme aber liegen gelassen werden, dann ist die Chance groß, dass Organisationsmitglieder zynisch werden. 

 1.2 Die formale Seite: Das Recht der Organisation 

Auf der formalen Seite einer Organisation finden sich alle Strukturelemente, die formale Gültigkeit besitzen. Sie bilden gewissermaßen das offizielle Recht der Organisation, dem man sich durch den Eintritt untergeordnet hat. 

 Wer dagegen verstößt, muss mit offiziellen Sanktionen rechnen – einem ernsten Gespräch, einer Abmahnung oder gar der Kündigung. Zu diesen formalen Strukturelementen zählen Zuständigkeiten, Weisungsbefugnisse und Berichtswege, in Standard Operating Procedures beschriebene Prozessvorgaben oder Zielvorgaben. 

 Diese formalen Regelungen basieren auf expliziten Entscheidungen. Das heißt, sie können durch neue Entscheidungen gesetzt, geändert und abgeschafft werden. Dass formale Strukturen gleichsam im Handumdrehen geändert werden können, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, wie wichtig es ist, ihre Effekte genau vorzudenken. Wenn ich eine Regel, eine Zuständigkeit, einen Prozessablauf ändere – welche Konsequenzen hat dies an anderen Stellen der Formalstruktur? Wer bekommt nun nicht mehr die Informationen, die er oder sie zuvor selbstverständlich zur Verfügung hatte? Welche Abstimmungen und Austauschformate fallen weg, welche kommen hinzu? 

 Kurz gesagt: Passen die angedachten Veränderungen gut zu den formalen Strukturen, die ich unangetastet lassen werde? Nach unserer Erfahrung ist dies eine der größten Quellen für Unzufriedenheit unter Mitarbeitenden: Veränderungen an den formalen Strukturen, die nicht gut durchdacht waren, sodass z.B. neu erdachte Strukturen nicht zu bereits etablierten Strukturen anschließen können.  

1.3 Die informale Seite: Die Kultur der Organisation 

 In allen Organisationen bilden sich jenseits der formalen Regeln auch informale Praktiken heraus. Nicht nur die Organisation im Ganzen, auch die Untereinheiten kennen jeweils ihre ganz eigenen ‚so machen wir das bei uns‘-Gewissheiten, die sich mal mehr, häufig weniger mit den formalen Vorgaben decken: Kurze Dienstwege, Regelabweichungen, kollegiale Erwartungen, heimliche Herrscher:innen und manch andere Phänomene prägen das faktische Arbeitsgeschehen, indem auch sie sich zu Erwartungsstrukturen verdichten und so situationsübergreifend Orientierung stiften können. Dies ist die Kultur der Organisation. 

 Im Gegensatz zu den Erwartungen auf der Schauseite und der formalen Seite kann über informale Erwartungen nicht entschieden werden. Stattdessen bilden sie sich über die Zeit aus, als Sedimente erprobter Praxen. Gleichwohl werden auch informale Erwartungen gegen Abweichungen geschützt. Zwar kann niemand wegen der Verletzung informaler Erwartungen abgemahnt oder entlassen werden. Aber es gibt subtilere Sanktionsmechanismen, die praktisch genau so effektiv sind – vor allem ist dies das weite Feld des Mobbings und seiner Vorstufen. 

 Die informale Seite entsteht oftmals in Reaktion auf die formale Seite: Als störend empfundene formale Regeln werden informal so umgangen, dass es den Arbeitsalltag erleichtert; man fragt die kompetenteste Person auch dann um Rat, wenn sie formal nicht zuständig ist; man leistet Extra-Arbeit, weil man sich drauf verlassen kann, dies durch überlange Pausen in ruhigeren Phasen wieder ausgleichen zu dürfen. Manche dieser Kulturphänomene kompensieren Schwächen in der Formalstruktur und sind damit auch für die Organisation hoch funktional. Andere wiederum werden von (Teilen) der Organisation vor allem als Problem erlebt. 

Wenn es ein Kulturphänomen ist, das für Retention-Probleme sorgt, muss man sehr genau hinsehen: Wenn ausscheidende Mitarbeitende berichten, dass zwar niemand Überstunden angeordnet hat, sie aber immer erwartet wurden (und das zur Zumutung wurde, die sie nicht mehr dulden wollten), hilft kein Appell und auch kein Verweis auf die Arbeitszeitregelungen. Dann muss man stattdessen auf die Formalstruktur schauen und fragen: Was ist das Problem, dass die Teams nur durch unbezahlte Überstunden lösen können? 

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