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Entscheidungen in Organisationen

Von oben entschieden – von unten zerredet?

  • Frank Ibold
  • Mittwoch, 31. Januar 2024

Werden Entscheidungen mit dem Gewicht der höchsten Hierarchie getroffen, glauben viele, diese Entscheidungen müssten einfach nur noch durchgesetzt und exekutiert werden. Der Vorstand hat doch entschieden. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Jedoch: Das ist auch gut so. 

„Diese Entscheidung kommt von ganz oben!“ Während die Stabsbereiche in Konzernen, das Chefsekretariat in KMUs oder die Verwaltungen in Krankenhäusern bei dieser Ansage vielleicht noch in aufgeschreckten Aktivismus verfallen, beginnt in den Fachabteilungen und den unteren Ebenen meist ein Prozess der zustimmenden Obstruktion. Es wird nicht offen widersprochen, aber die eben noch klar erscheinende Vorstandentscheidung wird verwässert, zerredet, relativiert und verändert. Wie der Scheinriese Herr Turtur in „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“, schrumpfen die Riesenvorhaben der höchsten Ebene immer mehr zusammen je näher sie den operativen Bereichen kommen. Der Tiger landet als Bettvorleger. 

Ob horizontale oder vertikale Arbeitsteilung, die Folgen sind dieselben

Dass dieses Phänomen trotz klarer Berichtswege und Weisungsbefugnisse auftritt, ist nicht so sehr der Widerspenstigkeit der Untergebenen geschuldet, die der Übergriffigkeit der Obrigkeit passiven Widerstand entgegensetzen, sondern liegt in der Arbeitsteilung begründet. In jeder arbeitsteiligen Organisation entstehen unabhängig von ihrer Größe und der Anzahl der Mitarbeitenden lokale Rationalitäten. Arbeitsteilung findet in Organisation aber nicht nur horizontal statt, also zwischen Fachbereichen, Abteilungen und Aufgabengebieten, d.h. zwischen auf gleicher Ebene angesiedelten Silos. 

Zu Arbeitsteilung kommt es dort auch vertikal zwischen Hierarchieebenen, übergeordneten und untergeordneten Abteilungen oder der Zentrale und den Zweigstellen. Und auch diese unterschiedlichen Ebenen haben unterschiedliche Perspektiven, Aufgabenzuschnitte oder Ziele und somit verschiedene lokale Rationalitäten.  Dumm nur, dass sich überall dort, wo sich solche lokalen Rationalitäten breitmachen, diese ein Eigenleben entwickeln und nicht mehr so ohne Weiteres zusammenpassen.  

Der ganz formale Wahnsinn

Hierarchie: Lieber nicht alles abschaffen

Wieso Silos doch oft nützlich sind  

Wenn in Organisationen die lokalen Rationalitäten nicht nur zwischen Silos auf einer Ebene, sondern auch innerhalb der Ebenen der jeweiligen Silos verschieden sind, dann ist man schnell dabei, die Ursachen zu geißeln. In der Folge sollen dann Silos eingerissen und die Hierarchien abgeflacht werden.  

Diese Forderungen greifen aber zu kurz: Silos und Ebenen haben als verschiedene Arten der Arbeitsteilung einen grundlegenden Vorteil für die Organisation und lassen sich deshalb auch nicht wegorganisieren: Sie reduzieren Kommunikation, richten die Arbeit aus und schöpfen Vorteile aus Professionalisierung und Spezialisierung.  Schichten (Hierarchieebenen) entwickeln wie Silos (Fachbereiche) eine eigene lokale Rationalität und optimieren innerhalb dieser Rationalität ihre Wahrnehmung der Umwelt, die Schlüsse, die sie daraus ziehen, und die Reaktionen darauf.  

Horizontale Arbeitsteilung in Silos hat den Vorteil, dass man sich auf einen Arbeitsbereich konzentrieren kann. Dadurch wird jedoch zugleich der Blick auf das Ganze schwerer. Die vertikale Arbeitsteilung auf verschiedenen Ebenen schafft dazu ein Gegengewicht. Sie führt zu einer übergreifenden Allokation von Verantwortung, einem übergreifenden Sich-Kümmern-Müssen, welches hilft, die Eigenlogiken der Silos auszubalancieren. Außerdem absorbiert vertikale Arbeitsteilung in Form von Hierarchie Unsicherheiten (zumindest eine Zeitlang) durch die Entscheidungen, die sie trifft.  

Kluge Hierarchie setzt Inspirationskorridore   

Schwierig wird es immer dann, wenn Akteure mit verschiedenen lokalen Rationalitäten miteinander kooperieren müssen und in Diskursen die Umsetzung, die Ausführung und das gemeinsame Handeln erörtert werden. Die von der Hierarchie getroffenen Entscheidungen werden dann oft von den Ereignissen überholt. Diese Kränkung der Hierarchie kann diese nur überwinden, wenn die Führungskräfte ihre eigenen Entscheidungen nicht als Befehle, Anweisungen oder Instruktionen verstehen, sondern als eine Auswahl aus einem Meer vielfältiger Möglichkeiten, als einen Inspirationskorridor. 

Hierarchie und Agilität

Formale Hierarchien – mehr als nur Chefsache

Durch diese Betrachtung verändert sich auch die Aufgabenstellung der höheren Hierarchieebenen. Mögen ihre Entscheidungen erst einmal der Absorption von Unsicherheit dienen, so werden sie mittelfristig zu Leitplanken eines gemeinsamen Denk- und Entwicklungsprozesses, der in Diskursen stattfindet. Diesem gegenüber muss sich die Hierarchie verantwortlich fühlen und ihn vorantreiben.

In dieser Perspektive beenden Entscheidungen keine Diskurse, sondern setzen sie in Gang. Die Absorption von Unsicherheit funktioniert eben immer nur für eine bestimmte Zeit. Es ist also mitnichten ein Zeichen von Respektlosigkeit, sondern eines von erfolgreicher Informationsverarbeitung, wenn man auf unteren Hierarchieebenen den ironischen Spruch hört, „Die Entscheidungen unseres Vorstandes sind immer eine gute Diskussionsgrundlage“. 

Verständigung orchestrieren: Die Daueraufgabe von Organisation 

Diese Sichtweise hat noch eine weitere unerwartete Folge: Es ist nicht nur einmal und für immer zu entscheiden, sondern immer wieder. Entscheidungen sind somit keine Durchführungsdelegation an die unteren Ebenen, sondern bilden den Rahmen für Folgeentscheidungen. Diese müssen vor allem durch klug geführte Diskurse zwischen verschiedenen Ebenen anschlussfähig gemacht werden. Dafür braucht es den Austausch zwischen Akteuren mit unterschiedlichen Rationalitäten. Das gelingt am besten durch Diskurse und Interaktionen, die nicht dem Zufall überlassen bleiben, sondern bewusst angelegt und geplant werden, innerhalb der Leitplanken vorheriger Entscheidungen. Die Vorhaben werden dadurch gewissermaßen ‚kleingedacht‘. Wie beim Scheinriesen Herr Turtur entsteht so aus furchteinflößender Größe in der Ferne in der Annährung Zutrauen und Verständigung.    

Führungskräfte sollten sich also freuen, wenn durch ihre Entscheidungen Diskurse in der Organisation angestoßen werden. Sie sollten aber darüber hinaus den Mut haben, diese Diskurse mitzusteuern und die Bereitschaft aufbringen, sich neuen Entscheidungssituationen zu stellen. Eine der großen Aufgaben in Organisationen bleibt es, Verständigung so zu orchestrieren, dass gemeinsames Handeln entsteht. Das gilt sowohl horizontal zwischen Silos als auch vertikal zwischen Ebenen!

Frank Ibold

ist fasziniert davon, wie die kleinen Elemente der Interaktion zu den großen Veränderungen beim Gestalten von Entscheidungen führen.

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