Soll ich es mir einfach machen? Dann folgte hier eine Lobeshymne: Ich mag dieses Buch, ich mag den Schreibstil, ich mag die Beispiele, ich mag die theoretischen Bezüge und Referenzen, ich mag den Aufbau, ich mag die Wortschöpfungen. Selten wurde systemtheoretische Organisationstheorie so anschaulich und eloquent vorgestellt, ohne dass es deshalb trivial oder als „Luhmann für Dummies“ daherkommt.
Die Funktion einer Rezension ist aber auch, schwarze Tupfer im Orange zu benennen. Damit starte ich. Und werde mit Begeisterung enden.
Der Referenzrahmen ist die Systemtheorie
Denn – ich bin nicht nur begeistert, sondern auch erstaunt bis verwirrt. Systemtheorie – sie ist der Beobachtungs- und Referenzrahmen des Buches – unterscheidet sehr konsequent unterschiedliche Systemarten. Dadurch gewinnt sie das Potenzial, Verschiedenes auch verschieden zu lassen. Organisationen bestehen folglich nicht aus Menschen. Soziales System und Mensch sind gekoppelt, stellen aber keine Elemente füreinander dar. Man denkt nicht in Teil und Ganzes. Das ist immer noch und für viele ungewohnt und unverständlich und wird in der Folge auch oft als ärgerlich empfunden, da es als funktional-technizistisch oder gar inhuman interpretiert wird.
Hier setzt das Buch an. Die Autor:innen investieren sehr viel Intelligenz, um anschaulich zu beschreiben, warum viele gängige (humane) Erwartungen an Organisationen ungünstig sind, und räumen mit der Idee auf, dass Organisationen sich nach „dem Menschen“ richten könnten und sollten. Organisationen werden gesehen als soziale Systeme, die aus der Welt mit Menschen eine Umwelt mit Organisationsmitgliedern machen. So werden Organisationen und Menschen gleichermaßen entlastet. Diesen Aspekt der Systemtheorie habe ich noch kaum irgendwo so klug und anschaulich dargestellt gesehen. Gratulation für diese Hellsichtigkeit.
Auch Menschen reduzieren Organisationen zu Projektionsflächen
Mein Erstaunen gilt dem Phänomen, dass – warum auch immer – konsequent übersehen wird, dass dieses Prinzip auch auf der anderen Seite der Koppelung angelegt werden muss, wenn man sich mit der (fehlenden) Humanität der Organisation beschäftigt. Um obige Formulierung umzudrehen: Menschen reduzieren die Organisationen in der Welt zu Projektionsflächen ihrer Erwartungen! Sie können gar nicht anders! So wie also Organisationen den Menschen zum Mitglied machen, so machen Menschen Organisationen zu ihrem Lebensraum.
Damit sind all jene Hoffnungen verknüpft, die in der Beraterbranche und den HR-Abteilungen mit dem Stichwort „Humanisierung“ gehandelt werden. Diese Hoffnungen zu dekonstruieren ist das Anliegen des Buches. Aber man darf meiner Ansicht nach den Fehler, den man kritisiert, nicht spiegelbildlich machen! Unterschätzen die „Humanisierungsfreunde“ die Eigenlogik der Organisation, so unterschätzen die Autoren die Eigenlogik der Menschen im Versuch, alles organisational zu lösen. Egal, ob man die Organisation als Organisation optimiert und dann am Menschen scheitert, oder ob man die Organisation für den Menschen optimiert und dann an der Organisation scheitert – man scheitert in jedem Fall bzw. erzielt unzufriedenstellende Ergebnisse.
Die Theorie übernimmt den blinden Fleck der Praxis
Das Luhmann-Zitat auf der Rückseite ist dafür programmatisch: „Die individuelle Persönlichkeit erscheint somit als Auffangvorrichtung für organisatorisch ungelöste – vielleicht unlösbare – Probleme.“ So weit, so gut. Genau hier übernimmt das Buch eine von Luhmann selbst nahegelegte theoretische Einseitigkeit. Wenn Menschen Umwelt für Organisationen darstellen, dann ist es systemtheoretisch zu kurz gesprungen, Menschen ausschließlich als Mitglieder der Organisation zu reflektieren. Damit übernimmt die Organisationstheorie den blinden Fleck der Organisationspraxis. Anders formuliert, man setzt Beobachtung erster und zweiter Ordnung gleich.
Einfacher formuliert: Man unterschätzt den Auswirkungsreichtum der Umwelt „Mensch“ für Organisationen. Wer den Menschen als „ganzen“ nicht organisationstheoretisch mitreflektiert, der wird für alle Effekte theoretisch blind und praktisch ohnmächtig, die aus der von Menschen hergestellten Koppelung ihres „ganzen Wesens“ mit der Organisation erwachsen. Wenn die Organisation durch die Gleichsetzung von Rolle(n) und Mensch einen Großteil des Menschen ignoriert, dann heißt das eben nicht, dass der Mensch das auch tut. Vielleicht oder hoffentlich sogar im Gegenteil?
Was passiert, wenn Organisationen Adressaten für psychische Probleme werden?
Was wäre, wenn die Organisation als Auffangvorrichtung für psychisch ungelöste – vielleicht unlösbare – Probleme (von den Mitarbeiter:innen) herhalten sollte? (Viele) Mitarbeiter:innen suchen in Organisationen ideale Eltern, die sie mit Wertschätzung, Sicherheit, Gerechtigkeit, Zuwendung, Zugehörigkeit, Autonomie, Sinn, Ressourcen, Geschenken, passenden Aufgaben, Bespaßung, Fehlerausbügelung und Freiheit versorgen. Nach der Lektüre des Buches weiß man sehr viel besser, warum und wieso das nicht funktioniert. Aber ist es theoretisch wie praktisch damit getan?
Ich glaube, wenn man systemtheoretische Organisationstheorie betreibt, dass das Ergebnis eigentlich noch drastischer ausfällt: Organisationen und Menschen passen in vielerlei Hinsicht sehr grundlegend nicht zusammen, auch und weil Organisationen unerlässlich für die moderne Gesellschaft geworden sind.
Aber dass Mensch und Organisation miteinander gut funktionieren wird implizit oft vorausgesetzt: Weil Organisationen von Menschen „gemacht“ sind, müssten diese auch zu uns und wir zu den Organisationen passen. Systemtheoretisch ist das nicht haltbar, auch nicht erwartbar. Man kann Vergleichbares am Beispiel Ehe denken: Diese ist scheinbar auch von uns gewollt und gemacht, und trotzdem scheitert sie so oft. Wenn also die Zwangsheirat von Organisation und Mensch schon unvermeidlich ist, dann braucht es auf beiden Seiten „Schulung“, wie die unvermeidlichen Gegensätze in den jeweiligen Erwartungen zu mildern bzw. gut zu regulieren sind.
Die Bedürfnisse der Mitglieder bleiben unbekannt
Matthiesen, Muster und Laudenbach stellen großartig dar, was Organisationen tun können, um Menschen nicht auszubeuten oder zu überfordern. Aber sie scheinen damit zu rechnen, dass Menschen sich selbst gerecht werden, dass sie sich selbst ausreichend kennen und steuern können. Mit dieser Orientierung steht die Organisation nur auf einem Bein. Organisationen und Organisationsberatung brauchen aber eine Theorie, die das Problematische im Menschen berücksichtigt (und nicht ausklammert).
Es ist eben alles andere als klar, was die Bedürfnisse der Mitglieder sind, nach denen sich die Organisation ausrichten könnte (S.85). Welches Mitglied? Zu welchem Zeitpunkt? Kennen die Mitglieder ihre Bedürfnisse wirklich? Was ist dann mit Ersatzbedürfnissen und Abhängigkeiten von Bedürfnisbefriedigungsmitteln? Der gemeinsame blinde Fleck des Buches und der Spielart von Organisationsberatung, die auf Humanität setzt, ist, dass der Mensch zu einseitig gesehen wird. Wenn aber ein System die Umwelt falsch einschätzt, kann es sich selbst nicht gut regulieren.
Auf Arbeit am Menschen zu verzichten, ist Selbstamputation
Ein dafür besonders markantes Beispiel findet sich in der Schilderung eines nicht angenommenen Beratungsmandats (Seite 74f), das eigentlich nur illustriert: Wenn die Menschen zu schwierig werden, dann ist der Lateiner am Ende und lehnt den Auftrag ab. Aber warum? Wer nur an Strukturen und Prozessen arbeitet, weil er Menschen für nicht reformierbar oder veränderbar hält, begeht theoretisch wie praktisch Selbstamputation. Zitat dazu auf Seite 41:
„Natürlich können Coachings und Psychotherapien dabei helfen, Verhaltensmuster zu reflektieren oder private Krisen zu bewältigen. Aber das sind individuelle, häufig nicht ganz unkomplizierte, auch schmerzhafte und schambesetzte Entscheidungen. Dabei werden persönliche Konflikte bearbeitet und nicht die Ineffizienz einer Verwaltungsabteilung, die Kostenstruktur eines Pflegeheims oder die Restrukturierung im Mittelmanagement eines Automobilzulieferers.“
Was aber, wenn diese organisationalen Phänomene Auswirkungen oder Antworten auf psychische Fehlregulationen von Personen, die in der Organisation Entscheidungsprämissen sind, zu begreifen sind? Warum gehört es dann nicht zur Humanisierung der Organisation, Menschen als Mitgliedern zuzumuten, an sich zu arbeiten und gleichzeitig als Organisationsberater die Kompetenz zu haben, dabei zu helfen? Nur weil Luhmann der irrigen Meinung war, Menschen könnten sich nicht (leicht) verändern? Das halte ich für eine schwer verdauliche Fortsetzung eines soziologisch schlecht informierten Blicks auf die Psyche.
Organisationen müssen nicht jede menschliche Überforderung vermeiden
An dieser Stelle, finde ich, erreicht das Buch nicht das Reflexionsniveau, das es sonst auszeichnet. Das macht sich auch an zwei weiteren Beispielen fest.
Ich stimme voll zu, dass man durch Mitarbeiterbeteiligung über Innovation (siehe S. 189ff.) in Organisationen viel Enttäuschung produzieren kann. Diese Enttäuschbarkeit wird zum Argument, auf derartige Vorgehensweisen zu verzichten. Das hat zwei Pferdefüße: Erstens sind die Menschen auch enttäuscht, wenn sie nicht mitreden können. Zum anderen könnte man auch den Schluss ziehen, dass Menschen Enttäuschungskompetenz brauchen und aufbauen müssen, wenn sie Mitglied einer Organisation werden.
Die einseitigen Schlussfolgerungen aus solchen Beispielen machen das Buch unnötig angreifbar. Wenn die Schattenseiten bestimmter Vorgehensweisen kunstvoll dargestellt werden, heißt das nicht zwangsläufig, dass das Vermeiden der Schattenseiten automatisch ins Licht führt.
Menschen in die Verantwortung zu nehmen, ist legitim
Diese Argumentationsfigur – weil Mitarbeiter mit etwas schlecht umgehen, wird der organisationale Rahmen falsch – findet sich öfter. Besser würde mir gefallen, wenn man auf beiden Seiten der Koppelung nach Möglichkeiten sucht. Denn ich teile es überhaupt nicht, wenn geschrieben steht (S. 35):
„Es ist schlicht bequemer, die Ursache für fehlerhaftes Handeln bei den beteiligten Personen zu suchen, als die Defizite der Organisationsstrukturen zu identifizieren und sie entsprechend umzubauen.“
Ist das so? Wie oft habe ich erlebt, dass zentrale Führungsfiguren das Unternehmen narzisstisch infiziert haben, wie aus Sinndefiziten von Mitgliedern die Organisationen mit Purposeanliegen überschwemmt werden, um im Außen etwas zu finden, was nur im Innen zu finden ist?! Alles, was die auf die Verantwortung von Menschen für organisationale Probleme abzielt, als „Psychologisierung“ zu diskreditieren oder dies in Umkehrung sogar pauschal als Lösung zu deklarieren (siehe z.B. S. 62) überzeugt nicht, sondern ersetzt fehlende Argumentation durch implizite Werturteile.
Man tut so, als ob Einwirkung auf die Umwelt kein Mittel der Organisation wäre (siehe etwa S. 75 Mitte). Mediation ist sehr wohl ein Mittel der Organisation, nur eben in der Umwelt der Organisation. Diese irritierende Ungenauigkeit in der Handhabung von Systemtheorie führt zu falschen Thesen, die dann dieser Systemtheorie zu Recht vorgeworfen werden können.
Starke Herausarbeitung der Bedeutung von „Zweckwidersprüchen“
Ich schließe meine Gedankengänge zum Buch wie ich sie begann: Mit Begeisterung und drei meiner Highlights in Bezug darauf.
Im Buch wird von Anfang bis Ende die Bedeutung und Funktionalität von „Zweckwidersprüchen“ (S. 78) betont, theoretisch untermauert und mit einer Vielzahl passender Beispiele versehen. Allein dafür lohnt es sich, das Buch zu lesen. Die Aufforderung „Streitet Euch!“ ist essenziell für Organisationen. Für die erforderliche Klugheit (S. 172) braucht es dann allerdings auch wieder die Umwelt der Organisation!
Dies gilt gleichermaßen für das Thema „Führung“. Die Machtlosigkeit von Führungskräften und dem Heldentum, die paradoxen Effekte von Maßnahmen, die machtvollen Umgehungen von Ohnmacht durch die „Unterwachung“ der Mitglieder – es sind herrliche Darstellungen der systemtheoretischen Sicht von Führung als soziales und nicht personales Geschehen zu finden. Bei dem Thema ist das Zusammenspiel von Person und Organisation besonders schön dargestellt.
Man wird besser darin, Kunden zu erklären, wie Organisationen ticken.
Schlussendlich finde ich es sehr gewinnbringend, wie die Schattenseiten von „offenen Gesprächen“ (S. 189ff.) beleuchtet werden. Es wird von vielen Berater:innen übersehen, welche Überforderung für die Organisation darin liegt, über alles sprechen zu sollen.
Das Buch endet mit Kafkas Schloss und damit mit einer Anerkenntnis von Bescheidenheit in der Kontrolle über Organisationen und ihre Veränderung. Dafür sei den Autor:innen ganz besonders gedankt. Denn neben Führungskräften sind es nicht zuletzt die Unternehmens- und Organisationsberater:innen, die illusionäre Erwartungen an Einflussmöglichkeiten bei sich und anderen pflegen und dabei vergessen: Organisationen haben ein Eigenleben.
Ich empfehle das Buch allen, die gekonnte Anwendung systemtheoretischen Denkens von Organisationen erlernen oder studieren und die eigene Praxis mit Ideen anreichern möchten. Zugleich wird man besser werden, Kunden zu erklären, wie Organisationen ticken. Ein Gewinn für die Branche.