Mit Betriebsvereinbarungen und „Dienstbibeln“ geben sich Organisationen Regeln darüber, wie ihre Mitglieder mobil arbeiten können. Für die einen wird mobile Arbeit so zu einem raren Gut, dessen Zugang durch die Vorgesetzten gestattet werden kann. Die anderen verweisen aufs Regelwerk und verlangen, was ihnen zusteht. Was macht das mit einer Organisation?
Die Regelwerke leiten die gelebte Praxis
Von „Flickenteppich“ und „Grundorientierung“ zu „Individualvereinbarungen zwischen Leitung und Teammitglied“ – um zu beschreiben, wie in ihrer Organisation der Zugang zu mobiler Arbeit formal geregelt wird, fanden unsere Interviewpartner:innen viele unterschiedliche Formulierungen. Mal gibt es eine formale Vereinbarung, die genau regelt, unter welchen Bedingungen Mitglieder mobil arbeiten dürfen. Mal sind es eher Richtwerte. Dann müssen Führungskräfte und Mitarbeitende, Abteilungs- und Bereichsleitungen miteinander aushandeln, wie mobile Arbeit und Arbeit vor Ort funktionieren sollen. Mal kommt es zu individuellen Lösungen, mal bekommt das ganze Team die gleichen Bedingungen. Dies führt dazu, dass die Möglichkeit, mobil zu arbeiten, entweder als Belohnung verstanden werden kann, oder als einforderbare Selbstverständlichkeit – mit unterschiedlichen Konsequenzen.
Mobile Arbeit als Belohnung
Wenn es über die Möglichkeit, mobil zu arbeiten, Interpretations- und Verhandlungsspielraum gibt, gibt dies den jeweiligen Führungskräften ein Tauschgut an die Hand. Einer unserer Interviewpartner beschrieb ihre Situation so: „Wir haben eine Betriebsvereinbarung, aber die orientiert nur schwach. Das heißt, die Führungskräfte können ihre eigene Linie suchen – und werden dadurch wichtig für ihr Team.“
Doch auch bei sehr genauen Regelungen kann es Verhandlungsspielraum geben. Bei einem Finanzdienstleister gehört es etwa zum Prozess, dass die jeweiligen Führungskräfte bestätigen, dass ihre Mitarbeitenden auch außerhalb des Büros effektiv arbeiten können. Entsprechend motiviert seien die Mitglieder jetzt, sich als geeignet darzustellen. Ähnliches wurde uns aus einem Logistikunternehmen berichtet, wo die Möglichkeit mobil zu arbeiten nicht als Recht, sondern als „Entgegenkommen“ der Führungskraft gegenüber den Mitarbeitenden gesehen wird. Und dieses Entgegenkommen würde dann entsprechend honoriert.
Was handelt man sich ein, wenn mobiles Arbeiten eine Belohnung ist?
Für Führungskräfte und die Organisation klingt es wie eine gute Sache, ein solches Tauschgut gegenüber den Mitgliedern halten zu können – motiviert es doch zu mehr Leistung, als man formal verlangen kann.
Doch welche Effekte damit einher gehen, kann im Vergleich zu anderen Belohnungssystemen in Organisation erkennen. Die alltägliche Zusammenarbeit in Organisationen kennt viele Möglichkeiten, wie Führungskräfte Mitarbeitende belohnen können, wo formal keine Belohnung vorgesehen ist. Viele davon sind „brauchbar illegal“, sind also eigentlich nicht erlaubt, halten aber bei gezieltem und sparsamem Einsatz die Organisation am Laufen. Ein Klassiker der formal nicht vorgesehenen Belohnung, ist etwa das Buchen von Arbeitszeit, ohne das Arbeit stattfand: Die Shopping-Tour in der Mittagspause ohne Ausstempeln, „krank ohne Schein“ feiern, oder gemeinsam bis 12 Uhr frühstücken, aber ab 9 Uhr die Uhr laufen lassen.
Im Gegensatz zu den genannten Beispielen handelt es sich bei der Chance auf mobile Arbeit in aller Regel nicht um einen Bruch mit der Formalität, sondern um eine formal vorgesehene Option. Je nach Regelung kann eine Führungskraft nach eigenem Ermessen entscheiden, wer von der Anwesenheitspflicht befreit wird, und wer nicht. Sie kann die Konditionen dabei offen kommunizieren, oder für sich behalten. In der Soziologie nennt man dies die „Unsicherheitszone“, die für eine gute Verhandlungsposition sehr wichtig ist.
Wenn Belohnungen zum Alltag gehören, werden sie Normalität
Doch was eine Belohnung erst zur Belohnung macht, ist ihr Ausnahmecharakter. Sobald etwas Alltag wird, ist es nicht mehr Belohnung. Es wird zur Normalität. Das passiert bei belohnenden Ereignissen in der Regel selten: das Sektfrühstück, das Fortbildungswochenende im Luxushotel, sind schon vorab zeitlich begrenzt. Mobile Arbeit dagegen ist für andere zeitliche Dimensionen angelegt. Es geht nicht darum, mal einen Tag von zuhause arbeiten zu können, sondern über Wochen und Monate, zu geregelten Zeiten.
Damit also auch Belohnung bleibt, was als Belohnung gewährt wurde, muss den Beteiligten die Flüchtigkeit ihrer Privilegien bewusst bleiben. Das beginnt mit der zeitlichen Befristung der getroffenen Vereinbarung und setzt damit fort, dass die Erlaubnisse immer wieder als solche benannt werden müssen. Die Möglichkeiten dazu sind aus dem organisationalen Alltag bekannt: Von ironisch wirkenden Sticheleien, ob man auch wirklich arbeite, über Hinweise, dass etwa im Jahresgespräch die Situation nochmal besprochen werden soll, hinzu statuierten Exempeln, bei denen Mitarbeitende tatsächlich ihre Privilegien wieder verlieren, gibt es viele Wege, eine Unsicherheitszone präsent zu halten.
Irgendwann ist also nicht mehr die Belohnung, sondern nur die Strafe, ihr Entzug, Thema. Für alle Beteiligten ist das eine belastende Entwicklung. Besonders für die Mitarbeitenden, die ihren Alltag mit dieser Unsicherheit gestalten müssen. Aber auch für Führungskräfte, die die „Ich kann auch anders“-Rethorik regelmäßig aufwärmen müssen – oder sonst nur akzeptieren können, dass ihr einstiges Tauschgut jetzt eine Selbstverständlichkeit ist.
Mobile Arbeit als Selbstverständlichkeit
Die Perspektive auf mobile Arbeit als Selbstverständlichkeit ist älter als die Pandemie, doch war diese natürlich ein massiver Beschleuniger für die Entwicklung. Wo vorher Mitarbeitende erklären mussten, dass sie mobil arbeiten können, müssen jetzt Diejenigen, die nach Anwesenheit verlangen erklären, wieso sie nötig ist. Drei Faktoren, die diese Entwicklung begünstigen, sind uns dabei besonders oft genannt worden:
- Die Erfahrungen in der Pandemie mit mobiler Arbeit waren positiv. Vor allem Führungskräfte, die bisher behaupteten, die jeweilige Arbeit wäre mobil gar nicht machbar, geraten jetzt in Erklärungsnot.
- Formal eindeutige Regeln machen Verhandlungen unnötig. „Bei uns gibt jetzt eine Mindestzeit, die man Büro arbeiten muss – und ich kenne niemanden, der freiwillig länger bleibt“, sagte uns ein Interviewpartner. Auch bedeutet die Rücknahme einer Erlaubnis zu Homeoffice in jedem Fall eine Eskalation. Mitglieder, die einmal ins Homeoffice „verloren sind“ (wie es eine Teamleitung gegenüber uns formulierte), kommen so schnell nicht wieder.
- Organisationswechsel sind leichter geworden. „Es war noch nie so einfach wie jetzt, sich einen neuen Job zu suchen“, wurde uns auch aus der Personalabteilung eines Automobilkonzerns berichtet. „Der Schreibtisch bleibt am gleichen Platz. Nur für wen man arbeitet, ändert sich.“ Wenn Mitarbeitende also mobil arbeiten wollen, muss sich die Organisation einiges einfallen lassen, um den Nachteil der erzwungenen Anwesenheit auszugleichen.
Was handelt man sich ein, wenn mobiles Arbeiten eine Selbstverständlichkeit ist?
Üblicherweise geht es dabei nicht um volle Abwesenheit vom gemeinsamen Arbeitsplatz. In den meisten Organisationen, aus denen uns berichtet wurde, lief es auf 60% mobile Arbeit, 40% Arbeit am gemeinsamen Arbeitsplatz hinaus. Unabhängig der prozentualen Verteilung steht fest, damit zwar Erwartungssicherheit hergestellt wird. Doch wird jede Abweichung noch zäher zu verhandeln.
Dies gilt für beide Richtungen: Auch der Weg zurück uns Büro muss teilweise erstritten werden. Viele Organisationen haben ihre Büroflächen reduziert, Gemeinschaftsarbeitsplätze zu Einzelkabinen umfunktioniert, oder sogar ganze Etagen gestrichen. In Kombination mit dem „shared desk“-Prinzip führt dies zu dem Umstand, dass Mitarbeitende an manchen Tagen gerne im Büro statt zuhause arbeiten würden – aber nicht können.
Wer sich also einmal das Recht erstritten hat, außerhalb der Räume der Organisation arbeiten zu dürfen, muss damit rechnen, dass die eigene Anwesenheit auch nicht mehr erwünscht ist – weil die Infrastruktur des gemeinsamen Arbeitsorts nicht mehr dazu ausgelegt ist, so viele Anwesende zu stemmen.
Die komplette Studie lesen
Dieser Artikel ist ein überarbeiteter Auszug aus unserer Studie „Wie jetzt führen? Warum mobile Arbeit Führung verändert.“ Die gesamte Studie gibt es hier zum kostenlosen Download: