Was Führung mit den Zielen und Zwecken einer Organisation zu tun hat? Für die betriebswirtschaftliche Führungslehre ist die Antwort klar: Führung wird vielfach als zielgerichtete Beeinflussung anderer Organisationsmitglieder definiert (vgl. z.B. Nerdinger e.a. 2019: 96; Stogdill 1950: 4; Weinert 2004: 458; Yukl/Gardner 2020: 26). Sie lenkt die Geführten auf Zwecke (oder abgeleitete Unterzwecke) hin; und die Zweckorientierung macht bloßen Einfluss zur Führung.1 Wenngleich seit einigen Jahren vermehrt festgestellt wird, dass Führung sich nicht im Vorgesetztenhandeln erschöpft (vgl. Grint e.a. 2017; Jessl/Wilhelm 2023: 29; Nerdinger e.a. 2019: 107ff.; Weibler 2023: 96f.), denkt man zunächst an Anweisungen von oben nach unten (vgl. Baecker 1994: 32): Vorgesetzte führen Mitarbeitende, indem sie Aufgaben verteilen und zu Leistung motivieren, und orientieren ihre Anweisungen an den Zielen, für die sie in der Organisation verantwortlich sind.
Führungs-, oder besser: Vorgesetztenpositionen werden im zweckrationalen Organisationsverständnis überhaupt durch die Ziele, für die sie Verantwortung übernehmen, bestimmt. Die formale Hierarchie entspricht der Zerlegung des Organisationszweckes in Teilzwecke, so dass die sachliche Aufteilung des Zweckes in kleinteiligere Unterzwecke und deren soziale Verteilung auf Stellen praktisch zusammenfallen (vgl. Blau/Scott 1962: 186; Kühl 2011: 25; Luhmann 1964: 131f.; 1968: 72ff.; Weber 1976: 125). Den immer weiter aufgeteilten Zielbeiträgen entsprechen korrespondierende Stellen. Die Rechtfertigung und Widmung jeder Stelle erfolgt im Umkehrschluss durch den zugehörigen Teilzweck. Die Zweckzerlegung und die korrespondierende Festlegung von Kommunikationswegen werden bis auf die untersten Ebenen fortgeführt. Letztendlich müssen alle Positionen und Aufgaben Beiträge zur Zweckverfolgung leisten; durch ihre Beiträge zur Zielerreichung sind sie definiert und legitimiert (vgl. Luhmann 1968: 77f.) – leisten sie keinen Zweckbeitrag, dann gelten sie als optimierungsbedürftig.
Organisationen werden als zweckrationale Systeme (miss-)verstanden
Das Problem des zugrundeliegenden Organisationsverständnisses ist, dass die Organisationswirklichkeit anders aussieht (vgl. Hanke 1996: 338; Kühl 2011: 29; Weick 1976: 1). Zumindest Teile der Organisationsforschung sind deshalb dazu übergegangen, Organisationen wirklichkeitsnäher zu beschreiben, anstatt Abweichungen vom Zweckrationalitätsmodell als optimierungsbedürftige Fehler zu behandeln. Seit Luhmanns (1999: 33ff.) überzeugendem Vorschlag gilt die Verknüpfung der entscheidbaren Mitgliedschaft mit besonderen Konformitätserwartungen als ausschlaggebendes Merkmal von Organisationen. Zu diesen Erwartungen, deren Anerkennung Organisationsmitglieder nicht verweigern können, ohne ihre Mitgliedschaft zu riskieren, zählen zuallererst die Anerkennung der Zweckstruktur sowie der hierarchischen Kommunikationsordnung der Organisation: Man kann die Mitgliedschaft nicht widerspruchsfrei aufrechterhalten, wenn man den Organisationszielen widerspricht oder den Vorgesetzten die Gefolgschaft verweigert. Die Zweckorientierung der Organisation und ihre hierarchischen Kommunikationswege werden demnach erst ermöglicht, indem Mitglieder im Zuge ihres Beitritts auf deren Anerkennung als Mitgliedschaftsbedingung verpflichtet werden.
Führung ist von der formalen Hierarchie zu unterscheiden
Vorgesetzte werden durch diesen Mitgliedschaftsmechanismus von unmittelbaren Motivationsaufgaben weitgehend entlastet. Sie müssen nicht ständig um die Motivation ihrer Mitarbeitenden fürchten, sondern können unter Sachgesichtspunkten abwägen und entscheiden und dabei ein gewisses Ausmaß an pauschaler Mitwirkungs- und Folgebereitschaft voraussetzen (vgl. Barnard 1938: 161ff.; Luhmann 1999: 96f.; Simon 1955: 80ff.). Allein deshalb können Vorgesetzte die ihnen zugeordneten Zielen verfolgen, ohne permanent etwaige Auswirkungen auf das Wohlgefallen und die Mitwirkung ihrer Mitarbeitenden antizipieren zu müssen. Weil die Anerkennung der Hierarchie formal erwartet wird, also zu den Bedingungen einer extern attraktiv vergüteten Mitgliedschaft zählt, können sich Vorgesetzte an der Zweckstruktur der Organisation orientieren. Die Organisation wiederum steigert durch diesen Mechanismus ihre Anpassungs- und Reaktionsfähigkeit, weil nicht jede Einzelentscheidung vollständigen Mitgliederkonsens bedarf.
Führung als soziales Phänomen ist von diesen Vorgesetztenpositionen zu unterscheiden (vgl. Weibler 2023: 96f.). Die Anerkennung der Vorgesetzten gehört zu den Pflichten der Mitglieder: Eine Chefin grundsätzlich nicht als Chefin zu akzeptieren, ist mit der Fortsetzung der Organisationsmitgliedschaft unvereinbar (vgl. Luhmann 1999: 38). Führung setzt demgegenüber an, wo für die Beteiligten zunächst nicht klar zu erkennen ist, wer was zu tun hat und wie man sich richtig verhält (vgl. Luhmann 1999: 207). Wo geschriebene und ungeschriebene Regeln so viel Spielraum lassen, dass die wechselseitige Handlungskoordination ins Stocken gerät, gibt Führung eine Richtung vor und macht Handlungserwartungen deutlich (vgl. Muster e.a. 2020).
Um in diesem engeren begrifflichen Sinne zu führen, muss man keine Vorgesetzte, keine Führungskraft aufgrund formaler Überordnung sein. Auch seitwärts und von unten nach oben, also quer zur und gegen die formale Hierarchie, kann geführt werden (vgl. Gruber 2017). Das für Organisationen typische, hierarchische Vorgesetzten-Mitarbeiterinnen-Verhältnis ist lediglich der Sonderfall einer formal verstetigten Führungsbeziehung neben anderen Führungsanlässen und -chancen. Die Einflussmöglichkeiten und -grenzen nicht nur von Vorgesetzten auf ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sondern auch auf gleichgestellte Kolleginnen und Kollegen (vgl. Kühl e.a. 2004) und von nachgeordneten Mitarbeitenden auf deren Vorgesetzte (vgl. Luhmann 1969; Nerdinger e.a. 2019: 107ff.) zu berücksichtigen, trägt zu einer differenzierteren Einschätzung und Gestaltung des Organisationsalltags bei.
Wie verhält sich Führung zu Zwecken?
Wird Führung als soziales Phänomen begriffen, und werden Führungsphänomene auch jenseits zweckbestimmter Vorgesetztenpositionen betrachtet, dann lässt sich auch ihr Verhältnis zu Zwecken differenzierter ausleuchten. Die Gleichschaltung von Vorgesetztenpositionen mit abgeleiteten Teilzwecken im Zweckrationalitätsmodell verstellt diese Möglichkeit: Führungskräfte müssen oder sollten in diesem Verständnis immer formal korrekt und zweckdienlich handeln. Bestimmt man Führung aber nicht als zweckorientierte Einflussnahme, sondern abstrakter als soziale Koordinationsleistung in unterbestimmten Situationen, dann erscheint die Vorgesetztenhierarchie lediglich als deren formal-organisationale Sonderausprägung. Führung kann dann in der Tat die Gestalt formaler Anweisungen annehmen und auf formale Organisationszwecke zielen. Sie ist aber auch in informalen Techniken aufzuspüren, die formalen, aber auch informalen Zielen dienen können, die von den offiziellen Organisationszwecken mitunter abweichen.
(1) Führung kann der Verfolgung formaler Zwecke dienen
Der „Einkauf“ und die Generalisierung der Mitgliedermotivation ziehen unvermeidlich ein formales Regelungsvakuum bezüglich der konkreten Mitgliederleistungen nach sich (vgl. Luhmann 1999: 104ff.). Die Organisationsmitgliedschaft und die damit einhergehende Teilnahme am Arbeitsalltag werden pauschal motiviert. Deshalb können die Mitglieder unvermeidlich gut kalkulieren, wieviel sie tun müssen, damit ihre Leistung zum Erhalt der Mitgliedschaft ausreicht. Sie können relativ genau einschätzen, wie viel oder wenig nötig ist, um nicht negativ aufzufallen, was also genügt, um nicht abgemahnt zu werden. Das Motivationsinstrumentarium der Mitgliedschaft erlaubt der Organisation und ihren Vorgesetzten im Kern, zu Einzelleistungen gerade nicht kleinteilig anspornen zu müssen. Unter Kolleginnen und Kollegen entwickeln sich daraufhin mehr oder weniger thematisierbare Übereinkommen, wie sehr sich alle anstrengen, damit niemand zurückzubleiben muss, die anderen aber auch nicht in den Schatten stellt.
Auf der Kehrseite für die Organisation sind außergewöhnliche Leistungen in dieser Pauschalmotivation nicht inbegriffen. Gegenüber der generalisierten Teilnahmemotivation bleiben spezifische Leistungsbeiträge formal unterbestimmt. Sie können organisationsseitig nicht generell durchprogrammiert werden, sondern bleiben in der Schwebe und müssen in Einzelsituationen ausgehandelt, motiviert oder abgeschlagen werden. Dabei kommt Führung ins Spiel: Formalseitig sind Leistungsanreize und Incentives, Bonuszahlungen über das Grundgehalt hinaus, besondere Fördermöglichkeiten und Belohnungen für Top-Performer bekannt. Doch Vorgesetzte können auch informale Führungstechniken zur Verfolgung formaler Ziele einsetzen. Inoffizielle Tauschgeschäfte mit den Mitarbeitenden sind ein typisches Instrument, um zur Leistung über die Dienstpflicht hinaus zu motivieren. Die Teammitglieder übernehmen für eine externe Veranstaltung der Chefin Extraaufgaben und erleichtern ihr damit die Vorbereitung und Durchführung. Im Gegenzug fragt sie nicht mehr allzu genau nach, was Freitagnachmittag noch abgearbeitet wurde.
Auch die spontane Initiative von unten, bei der beispielsweise eine Mitarbeiterin im Rahmen des Teammeetings ihre Kontakte zu einem früheren Arbeitgeber spielen lässt, kann als informale Führung der Verfolgung formaler Ziele dienen. Eine neue Anforderung wird dem Team zugeteilt, und die Teamleitung hat noch keine Idee, wie man ihr nachkommt. Die Mitarbeiterin schlägt daraufhin vor, bei ihren früheren Kolleginnen nachzufragen, und stellt im weiteren Verlauf einen niedrigschwelligen Informationsaustausch auf die Beine. Von dem erlangten Verfahrens-Know-how profitiert das ganze Team bei der Umsetzung des neuen Vorgangs. Im Rahmen der folgenden monatlichen Abteilungsbesprechung wird das neue Verfahren als Teamleistung präsentiert und durch die Leitung befürwortet. Im Gegenzug darf sich die initiierende Mitarbeiterin über großzügige Genehmigungen ihrer Freistellungsanträge im privaten Interesse durch die Team- und die Abteilungsleitung freuen. Ihre Initiative, Informationsquellen bei einem früheren Arbeitgeber anzuzapfen, wäre kaum formal fixierbar: Zwar kann die Teamleitung anfragen, aber die Mitarbeiterin könnte immer auch ablehnen bzw. berichten, dass sie keine Informationen erhalten könne. Ihre exklusiven Umweltkontakte werden zur organisationsinternen Führungsressource, die sie gegen anderweitige interne Vorteile eintauschen und dabei zugleich zur Zielerreichung des Teams und der Organisation beitragen kann.
Schließlich können formale Zwecke auch als leichtgängige, prinzipiell akzeptable und begrüßenswerte Legitimationen für individuelle Führungsinitiativen eingesetzt werden. Wenn eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter eine Veränderung der Verfahrensabläufe oder der Arbeitsplanung einfordert und dazu Vorschläge unterbreitet, ist die Förderung formaler Zwecke ein inhaltlich kaum abzuschlagendes Argument. Sie beruft sich auf eine Optimierung der Aktenführung, um ihre persönliche Arbeitsausstattung zu verbessern, oder meldet einen zusätzlichen Ressourcenbedarf an, um zweckdienliche Termine wahrnehmen zu können. Wenn ihre Vorschläge plausibel zu den formalen Zielen beitragen, erfordert deren Ablehnung Zusatzbegründungen, wie etwa begrenzte Mittel oder andere, dringlichere Aufgaben oder Fristen. Innovationen im Team, in der Abteilung oder der Organisation können durch solche individuellen Führungsinitiativen angestoßen werden. Deren Begründung mit schwer abzuschlagenden formalen Zielbeiträgen erleichtert die Durchsetzung in der Organisation.
(2) Führung kann auch informale Zwecke verfolgen
Führungstechniken können jedoch ebenso zur Verfolgung informaler Zwecke in der Organisation eingesetzt werden. Bei informalen Zwecken handelt es sich um inoffizielle Ziele, deren Verfolgung im Gegensatz zu formalen Zwecken nicht auf die Mitgliedschaftsfrage bezogen werden kann. Aus dem polizeilichen Streifendienst sind Zweck-Mittel-Verdrehungen (vgl. Blau 1955: 45f.; Kühl 2011: 64f.; Luhmann 1968: 273ff.) bekannt, bei denen die gesetzlich vorgegebenen Ziele und Mittel der Gefahrenabwehr auf der Dienstgruppenebene zu Mitteln zur informalen Regulierung von Vorfällen und Einsätzen umfunktioniert werden (vgl. Bittner 1967; Buvik 2016; Hüttermann 2000; Punch 1979). Die im Außendienst tätigen Polizistinnen und Polizisten orientieren sich im Dienstalltag weniger an formalen Vorschriften, sondern verfolgen stattdessen eine informal regulierte und weitervermittelte Ordnungsvorstellung in ihrem lokalen Zuständigkeitsbereich. Dabei bevorzugen sie tendenziell informale Umweltinterventionen, greifen gegebenenfalls aber auch auf formale Vorschriften zurück, die sie dann situationsadäquat auswählen, einsetzen und interpretieren.
Dementsprechend kann Führung in Organisationen zur Verfolgung informaler Ziele eingesetzt werden. Formale Entscheidungen können wie beiläufig informale Ziele innerhalb der Organisation „mitbefördern“: Anträge und Terminanfragen eines Teams werden so platziert, dass zwangsläufig eine gewisse Aufmerksamkeit an der Organisationsspitze entsteht, auch wenn die thematische Entwicklung und Teamstruktur eigentlich andere Varianten nahelegten. Damit wird das informale Teamziel, die Leitung auf die besonderen Herausforderungen und Leistungen des betreffenden Teams aufmerksam gemacht, verfolgt. Infolgedessen bleiben die bestehenden Teamstrukturen bei einer bevorstehenden Reorganisation der übergeordneten Abteilung unangetastet. In einem anderen Fall werden externe Veranstaltungen so ausgeplant, dass nicht betroffene Abteilungsmitglieder dennoch am Catering teilnehmen können, weil man umgekehrt auf deren kurzfristige Unterstützung bei der Recherche einschlägiger Entscheidungen auf dem kurzen Dienstweg angewiesen ist.
Doch nicht nur unter dem Deckmantel formaler Entscheidungen, sondern auch mit informalen Führungstechniken können informale Zwecke verfolgt werden. Zwar sind derartige Initiativen kaum offen thematisierbar, bestimmen aber doch weite Teile des Organisationsalltags: In einem Konzern lassen die Mitglieder einer neu integrierten Firmentochter die Kolleginnen und Kollegen der Muttergesellschaft an ihrer vorteilhaften Arbeitsplatzausstattung teilhaben, wenngleich offiziell eher beabsichtigt ist, die neuen Arbeitsplätze an den Konzernstandard anzupassen. Im Gegenzug unterstützen die profitierenden Mitglieder der Konzernmutter die neuen Kolleginnen und Kollegen bei der Bewältigung der umfangreichen neuen Verwaltungsprozesse und vermitteln ihnen dabei insbesondere auch informale Abkürzungen, beispielsweise zur Erledigung der turnusmäßigen Berichtspflichten. Zudem kann das alteingesessene Konzernpersonal seine gewachsenen Kontakte zur Geschäftsführung ausspielen, um frühzeitig Diskussionsentwicklungen und Entscheidungsabsichten mitzuteilen, von denen die Konzerntochter sonst erst im Rahmen formaler Mitteilungen erfahren würde.
Mitunter verschwimmen die Grenzen zwischen formaler und informaler Führung zu informalen Zwecken: Der Bereichsleiter einer Großbank schlägt vor, Monatsreports für die ausländische Firmenzentrale bereits vorab auszufüllen, obwohl die erforderlichen Informationen zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht vorliegen. Man könne erforderliche Korrekturen immer noch nachträglich veranlassen, aber ein falscher Report sei im Außenverhältnis immer noch besser als ein verspäteter Report. Wichtiger noch als die Korrektheit der gelieferten Daten sei, dass der ausländischen Firmenzentrale pünktlich irgendetwas vorgelegt werde. Zumindest vermeide man auf diese Weise den üblichen Zeitdruck am Ende des Berichtszeitraums, der ohnehin niemals ausreiche, die benötigten Auswertungen durchzuführen. Die formale Vorgesetztenrolle des Bereichsleiters verleiht dem informalen Vorgehensvorschlag einen formalen Anschein: Bereichsangehörige, die den benötigten Report wie vorgeschlagen früher bearbeiten, gelangen durch seine Initiative zum Eindruck einer formalen Legitimation, wenngleich sie niemals als Anweisung dokumentiert wird und gegen die offizielle Governance der Bank verstößt. Der Bereichsleiter wiederum könnte sich im Konfliktfall auf ein Missverständnis berufen, um seine den formalen Vorschriften widersprechende Führungsinitiative zu rechtfertigen.
(3) Welchen Zwecken Führung dient, ist nicht immer transparent
Im Organisationsalltag ist für die betroffenen Mitglieder nicht immer leicht zu erkennen, welchen Zwecken ein konkretes Führungsmoment dient. Welche Zwecke das in Führung gehende Mitglied wirklich verfolgt, ist mitunter gar nicht ersichtlich. Man ahnt, dass eine Absicht dahintersteckt, und bezweifelt die ausgesprochene Begründung. Denn formale Zwecke können in der Regel – zumindest im zugelassenen Mitgliederkreis – gefahrlos thematisiert werden. Gerade deshalb werden sie auch zur Ausschmückung informaler Initiativen genutzt. Eine Vorgesetzte des mittleren Managements wird auf formale Anfrage hin durch eine Dienstgruppe von ungeliebten Pflichtaufgaben entlastet. Im Gegenzug genießt diese Dienstgruppe bei der bevorstehenden Reform ihre Unterstützung für die Etablierung einer neuen Verfahrensroutine, die der täglichen Ressourcenplanung dieser Dienstgruppe zugutekommt.
Informale Zwecke werden tendenziell stärker zurückgehalten, wobei der Adressatenkreis und die Kalkulierbarkeit der Auswirkungen ausschlaggebend sind. Sie offenzulegen setzt typischerweise bessere persönliche Bekanntschaft und gewachsenes Vertrauen voraus. Dass die Planung von Präsenz- und Heimarbeitstagen vor allem von der Teilnahme an den Sportkursen des betrieblichen Gesundheitsmanagements abhängig gemacht wird, legt die betreffende Referentin nicht offen; stattdessen wird die Erreichbarkeit und Erleichterung des Austauschs mit der Dezernatsleitung an genau diesen Tagen hervorgehoben. Selbst informale Zweckbestrebungen, die letztlich zur formalen Zweckerfüllung beitragen, können nicht ohne weiteres offengelegt werden, wenn sie etwa dem Bereich der „brauchbaren Illegalität“ (vgl. Kühl 2020) angehören. Die Umgehung des offiziellen Dokumentationsweges für Verkehrsunfälle wird das bearbeitende Dezernat eher und wiederholt mit plötzlichen Defekten des formal bereitgestellten Equipments begründen, als offenzulegen, dass die Aufnahmen und der interne Versand mit privaten Endgeräten sehr viel schneller funktionieren, somit Berichtspflichten abkürzen und die Ressourcen für Folgeeinsätze freihalten. Auch wenn Führungsinitiativen zunächst unklare Zwecke verfolgen, ist somit nicht gesagt, dass sie den formalen Organisationszwecken abträglich sind.
Die Ausprägungen von formaler Führung und informaler Führung, sowie deren Beziehungen zu formalen und informalen Zwecken, können Führungs- und Rationalitätsvorstellungen in und von Organisationen anreichern: Führung ist als Vorgesetztenhandeln unzureichend beschrieben, weil andere Führungsphänomene ebenso funktional in Bezug auf Handlungsprobleme wirken. Die Rationalität der Führung in Organisationen wiederum erschöpft sich nicht im kausalen Zweck-Mittel-Modell. Führung kann vielmehr auf formale wie informale, nicht immer konfliktfreie, manchmal aber doch funktionale Zweckbeiträge bezogen werden. Die Reflexion dieses vielschichtigen Verhältnisses von Führung und Zwecken trägt zu einem zwar komplexeren, aber eben doch auch wirklichkeitsnäheren Organisationsverständnis bei.
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