Zum Hauptinhalt der Webseite
Zeit

Zeit hat man nicht, Zeit nimmt man sich

  • Dirk Bathen
  • Montag, 9. Mai 2022
Zeit hat man nicht, Zeit nimmt man
© Arkadiusz Szwed

Betrachtet man Organisationen als ergebnisorientierte Effizienzräume, dann ist jede Zeitinvestition, die nicht direkt der Wertschöpfung dient, Zeitverschwendung. Am Ende zählen Ergebnisse, und der Betrieb muss laufen. Für Reflexionen, Austausch und gemeinsame Verständigung jenseits des ergebnisorientierten Diskurses bleibt kaum Zeit.

Aber in einer turbulenten Gegenwart der Dauer­veränderung, in der es kaum noch Blaupausen und Best Practices für richtiges Handeln gibt, braucht es diese Zeitinvestitionen, diese regelmäßige Boxenstopps für gemeinsamen Austausch, für Reflektieren, Lernen, Verstehen, Spüren, Antizipieren.

Auf den ersten Blick entziehen sich diese Quasi-Entschleunigungsräume dem Effizienzimperativ. Auf den zweiten Blick sorgen sie aber für mehr Verständnis, Beteiligung, Motivation und damit Ergebnisverbesserung.

Keine Zeit haben heißt, es ist nicht wichtig genug

Zeit ist chronisch knapp. Jede:r hetzt durch die Stunden, spielt Termin-Tetris und jongliert mit den wenigen Leerstellen im Kalender. Trotzdem ist am Ende des Tages die To-Do-Liste länger als am Morgen. Man ist mit sich und den eigenen Aufgaben genug beschäftigt. Im schlechten Fall arbeiten alle in verschiedenen Hamsterrädern nebeneinanderher, kommunizieren das Nötigste an den Schnitt­stellen und halten den Betrieb irgendwie am Laufen. Im günstigen Fall schallt zumindest der Ruf nach “mehr Austausch” durch die (virtuellen) Flure der Organisation. Getreu dem Motto “Wenn unser Unternehmen wüsste, was unser Unternehmen weiß” erhofft man sich Synergieeffekte durch Wissens­transfer und Vernetzungen. Wer solche Austauschformate initiiert, bekommt nicht selten als Antwort: “Gute Idee, aber wann sollen wir das denn noch machen?” In dieser Aussage steckt eine nicht explizit kommunizierte Botschaft: Das ist nicht wichtig genug.

Denn Zeit hat man nicht, Zeit nimmt man sich, und zwar für Dinge, die einem wichtig sind. Und mit Blick auf Organisationen möchte ich ergänzen: die wichtig sind und einen Mehrwert haben. Hier trifft tatsächlich die Metapher vom Holz­fäller zu, der mit einer stumpfen Axt mühevoll die Bäume bearbeitet und auf die Frage, warum er denn seine Axt nicht schärfe, antwortet, er habe keine Zeit dafür, er müsse schließlich Bäume fällen.

Zeit investieren, um Zeit zu haben

Die banale Erkenntnis: Um Zeit zu gewinnen, braucht es Zeitinvestitionen, ein Innehalten und überprüfen, ob die Axt noch gut funktioniert, oder ob sie nachgeschärft werden muss. 

Insbesondere braucht es das dann, wenn Krisen zum Dauerzustand werden, wenn Routinen nicht mehr greifen, wenn es die beste Lösung nicht gibt, wenn es strukturell keine guten Antworten gibt, die Zeit sparen und Produktivität steigern können. Lernen kostet Zeit und meistens auch Geld. Dafür rentiert sich das Gelernte im Idealfall später und sorgt für Wissen, von dem jede:r Einzelne und die Organisation insgesamt profitieren kann.

Gar nicht so banal hingegen ist die Umsetzung dieser Erkenntnis im organisatio­nalen Alltag. Hier bietet sich ein bunter Blumenstrauß an Maßnahmen – von individuellen Schulungen über neue Arbeits- oder Selbst­management-Methoden bis hin zu Veränderungen der Prozesse oder Strukturen. Über Sinn und Unsinn verschiedener Maßnahmen zur Steigerung individueller Produktivität und organisationaler Up-to-dateness lässt sich trefflich streiten. Aber eine Sache gerät hierbei nicht selten in den Hintergrund: miteinander sprechen und einander zuhören.

Interaktionsformate

Wir müssen mehr reden! Wozu Interaktionsformate doch gut sind.

Wenn du es eilig hast, gehe langsam

Es sind diese Auszeit- und Kommunikationsräume jenseits des sogenannten Tagesgeschäfts, die Kommunikation über Kommunikation erlauben, den Blick auf das Größere öffnen und es möglich machen, sich und andere im Kontext zu erleben. Mit Kommunikationsräumen sind hier nicht physische Projekträume für crossfunktionale Teams oder Lounge-Areas für das betriebliche Home-sweet-home-Gefühl gemeint, sondern institutionalisierte Zeiträume für gemeinsame Rückblicke, Augenblicke und Ausblicke. Kurzfristig betrachtet kosten solche Dialog-Interventionen und Boxenstopps nur Zeit. Langfristig aber sorgen sie für Zeitersparnis, weil sie Verständnis füreinander fördern, Zusammenarbeit verbessern können und individuelle und organisationale Entwicklung ermöglichen.

Rückblicke: Aus der Vergangenheit lernen

Im Alltagstrott von Meetingwahn, Multiprojektmanagement, Termindruck und dem normalen organisationalen Störfeuer bleibt selten Zeit für Reflexion. Meist wartet hinter jeder Deadline schon das nächste Projekt. Umso wichtiger ist es, sich Zeitcontainer zu reservieren, in denen man allein und im Team durchatmen und reflektieren kann, was auf dem letzten Abschnitt des Weges so geschehen ist. Innerhalb eines solchen Reflexionsraumes lässt sich über die Zusammen­arbeit sprechen: Was ist gut gelaufen – und was weniger? Welche Irritationen oder Konflikte gab es? Was hat unsere (Zusammen-)Arbeit beeinflusst – privat, im Team, in der Organisation, gesellschaftlich? Was lernen wir daraus für den nächsten Teil des Weges? Worauf haben wir Einfluss und was können wir ändern?

Retrospektiven, also Teamtreffen, bei denen es darum geht, aus der Vergangen­heit zu lernen, sind ein gutes Beispiel solcher institutionali­sierten Zeiträume für regelmäßigen Austausch. Sie ermöglichen im Team eine Arbeit am “Wir” und sind Katalysator für Veränderungen in der Zusammenarbeit. Fehler werden nicht über Schuld­zuschreibungen individualisiert, sondern als Lernquelle für zukünftige Verbesserungen genutzt und/oder in einen größeren Kontext gestellt. Auch (Peer-)Gruppen-Coachings, Mentorings oder Supervisionen sind Beispiele für institutionalisierte Reflexionen, die nicht nur individuell, sondern auch organisationsübergreifend angelegt werden können.

Menschen mögen zwar in Organisationen als leistungsorientierte Funktions­träger:innen nur einen Teil ihrer Persönlichkeit einbringen, während die übrige Identität “funktionslos herumlungert” (Luhmann). Dennoch beeinflussen auch diese Aspekte der Persönlichkeit die (Zusammen-)Arbeit. Daher kann es hilfreich sein, Kanäle zu schaffen, um diese Einflüsse auch offenzulegen.

Augenblicke: Den Moment wahrnehmen

Die Zeit rennt. Während jeder Tag konstant 24 Stunden hat, nehmen Aufgaben und Anforderungen zu. Die Folgen sind Arbeitsintensivierung, Beschleunigung und eine  kontinuierliche Gegenwartsverdichtung, die sich in übervollen Termin­kalendern, Stress und Hektik manifestiert. Steigender Effizienzdruck, Organisa­tionen im Dauerchange und sich rasant verändernde Umwelten führen bei Einzelnen häufig zu Unsicherheit, Sorgen, Fragen, Frustrationen und dem Gefühl mangelnder Selbstwirksamkeit. Hier kann es für Organisationen hilfreich sein, den Umgang mit dieser Gegenwartsverdichtung stellenweise zu formalisieren statt ihn ausschließlich in die Privatspähre der Einzelnen oder in die informalen Flurfunk-Gespräche zu drängen. Alles mit dem Ziel, den Menschen die Möglich­keit zu geben, bewusster, reflektierter und gegenwartsräsonanter zu handeln, Verständnis füreinander und für die gegenwärtige Situation zu schaffen.

In diesem Kontext gibt es eine Vielzahl von Maßnahmen, die helfen können, die verarbeitbaren Erfahrungen pro Zeiteinheit zu reduzieren – oder zusätzliche Zeit zur Verarbeitung dieser Erfahrungen bereitzustellen: Meetings nicht mehr Rücken an Rücken zu planen gehört auf der Ebene selbstdisziplinarischer Kleinst-Interventionen ebenso dazu wie der Wille und die Möglichkeit, sich einen Raum für ungestörte Eigenarbeit oder eine regelmäßige “Auszeit mit sich selbst” zu schaffen und zu bewahren.

Aber es geht auch größer, sozialer, weniger rational: beispielsweise durch das Erschaffen von Safe Spaces jenseits von Ergebnisdruck, Entscheidungszwang oder thematischem Fokus. Dort kann offen über Wahrnehmungen, Stimmungen, Perspektiven gesprochen werden, die sonst im alltäglichen Trubel keinen Platz finden. Empathiekreise können eine gute Möglichkeit sein, einander intensiv zuzuhören und für gegenseitiges Verständnis zu sorgen. Auch Inscaping-Praktiken, mit denen etwas über den eigenen inneren Zustand und die Wahrneh­mung preisgegeben wird (wie zum Beispiel das “Wie geht es mir gerade”-Check-In zu Beginn eines Meetings) sind hilfreiche Interventionen, um für neue Perspektiven und mehr Verständnis füreinander zu sorgen. Die (gemeinschaft­liche) Verarbeitung der Gegenwart, das Explizieren von Sorgen und Ängsten, Hoffnungen und Wünschen, kann entlastend wirken und der Person, dem Team oder der Organisation helfen, besser in die Zukunft zu kommen.

Ausblicke: Ins Morgen vorantasten

Neben der Reflexion des Gestern und dem Da-Sein im Heute braucht es ebenfalls einen institutionalisierten Zeitraum für die Beschäftigung mit der entstehenden Zukunft – sowohl der kurzfristigen (New) als auch der länger­fristigen (Next), sowohl der individuellen (Was will ich im Unternehmen erreichen?) als auch der organisationalen (Wohin wollen wir als Unternehmen?)

Zusätzlich zu konkreten Strategien und Roadmaps für die planbare Zukunft sind auch Mechanismen für den Umgang mit dem nicht Planbaren gefragt. In diesem Kontext ist in Transformationsprozessen oft von der ambidextren Organisation die Rede, die sowohl mit einem Standbein (Effizienz) als auch mit einem Spiel­bein (Exploration) ausgestattet und dadurch in der Lage ist, Schritt für Schritt in die Zukunft zu krabbeln: mit kleinen Experimenten oder Prototypen, mit Zeitkontingenten für das Vorantreiben eigener Projekte oder der Teilhabe an gemeinschaftlichen Initiativen. Auch dieses Vorantasten in die Zukunft setzt freie Ressourcen voraus: Personal = Geld = Zeit. Und es setzt die regelmäßige Reflexion des eigenen Handelns voraus – womit sich der Kreis zu den eingangs erwähnten Rückblicken wieder schließt.

Zeitcontainer schaffen und bewahren

Alle Interventionen, die mit der Schaffung von Zeit- und Kommunikationsräumen verbunden sind, kosten Zeit und damit Geld – und entziehen sich der reinen Output-­Logik. Verschiebt man die Logik weg von der Effizienz und hin zu Zukunftsfähigkeit und organisationaler Resilienz (und etwas weiter noch in Richtung Mitarbeiter:innen-Motivation), dann wird der Mehrwert solcher Formate offensichtlich: Sie bieten Zeiträume für organisationale, gemeinschaftliche wie individuelle Entwicklungen, für gegenseitiges Verständnis und Verstehen des Kontextes, in dem man sich bewegt. Sie ermöglichen Verortung, (Neu)-Ausrichtung und Orientierung. Verzichtet man auf sie, läuft man zwar immer schneller im Hamsterrad, kommt aber auch nicht wirklich dort heraus. Oder um es mit der Schauspielerin Lily Tomlin zu sagen: “The problem with the rat race is, that even if you win – you’re still a rat.”

Auch punktuelle Offsites und Retreats können helfen, mal aus dem Hamsterrad auszubrechen. Allerdings ist das große Problem hierbei, dass sie meist zu selten stattfinden. Entsprechend sind diese Veranstaltungen häufig nicht nur inhaltlich überladen, sondern vor allem mit einer enormen Erwartungshaltung verbunden – ganz nach dem Motto: Jetzt haben wir unseren jährlichen Teamtag/ unser jährliches Management-Offsite  – und da muss alles auf den Tisch.  Vielver­sprechender erscheint es, die Abstände für Rückblicks-, Augenblicks- und Ausblicksformate kürzer zu halten. So wachsen kleinere Unstimmigkeiten erst gar nicht zu größeren (zwischenmenschlichen) Problemen heran, die die Zusammenarbeit erschweren. In kürzeren Reflexions-Schleifen lässt sich schneller lernen und das eigene Handeln besser anpassen. Große Brocken und dicke Bretter – sowohl zwischenmenschlich als auch inhaltlich – können kleiner portioniert und damit besser besprochen werden.

Schützen Sie Ihre Zeitfenster vor der “Vordringlichkeit des Befristeten”, sonst wird diese wertvolle Zeit vom Tagesgeschäft gefressen.

In diesem Sinne: Schaffen Sie sich Zeitcontainer, individuell, im Team, mit den Kolleg:innen im Führungskreis. Formalisieren Sie diese Zeitcontainer als Programme. Ermöglichen Sie als Verantwortliche:r ihren Teams, solche Zeit­räume selbst zu implementieren. Und, noch wichtiger, schützen Sie diese Zeitfenster vor der “Vordringlichkeit des Befristeten” (Luhmann), denn sonst wird diese wertvolle Zeit vom Tagesgeschäft gefressen und bleibt nichts als ein guter Vorsatz.

Überlegen Sie, welche kleinen Strukturinterventionen hilfreich sein können, um diese Auszeiten und Kommunikationsräume in die Organisation zu bringen und zu halten. Und denken Sie dabei die bestehenden Anreizsysteme mit, soll heißen: Sorgen Sie dafür, dass Ihre Zielsysteme entsprechend angepasst werden und es nicht nur Kennzahlen für Ergebnisse, Projekterfolge, Umsatzzahlen gibt, sondern auch für Wohlbefinden, Kooperation, Wissensaustausch und organisationales Lernen.

Autor
Dirk Bathen

Dirk Bathen

Dirk Bathen ist selbständiger Berater, Moderator und seit 2015 Metaplan Professional. Er arbeitet mit Menschen, die in ihrer Organisation etwas bewegen wollen und berät Führungskräfte und Teams in Fragen der Organisations­entwicklung.

LinkedIn® Profil anzeigen

Du interessierst dich für unsere Themen?

Mit dem VERSUS Newsletter halten wir dich regelmäßig über neue Artikel, Themen und Angebote auf dem Laufenden.