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Latenz bedeutet ursprünglich „verborgen sein“ oder „im Verborgenen wirken“. Übertragen auf Organisationen ermöglicht Latenz ein besseres Verständnis von unsichtbaren Strukturen, verborgenen Prozessen und ungenutzten Potenzialen. Diese liegen oft abseits der bekannten Best Practices und Kernkompetenzen von Organisationen. Gerade deshalb fällt es vielen Organisationen schwer, sie zu beobachten und kommunizierbar zu machen.

Was ist Beobachtungslatenz?

Organisationen bilden Strukturen aus, um sich selbst beständig und berechenbar zu machen. Dabei entwickeln sie gleichzeitig einen sehr selektiven Fokus. Einige Themen interessieren sie besonders, andere gar nicht. Ein deutscher Industriekonzern wird sich sehr für KI-gestützte Produktionsmethoden interessieren, aber nicht für die Justizreform in Frankreich. Das Ausblenden möglicher Alternativen erfüllt die wichtige Funktion, dass sich Organisationen gegenüber der Komplexität der Umwelt abschotten. Diese blinden Flecken sind aber nicht per se unzugänglich, sondern können durch Fremdbeobachtungen für Veränderungsprozesse in Organisationen genutzt werden.

Was ist Kommunikationslatenz?

Selbst wenn blinde Flecken in einer Organisation sichtbar gemacht werden, heißt das noch lange nicht, dass sie auch kommunizierbar sind. Dieses Phänomen wird auch als Kommunikationslatenz bezeichnet und beschreibt den Elefanten im Raum. Fast alle Beteiligten sehen ihn, er ist aber so tabuisiert, dass er nicht angesprochen werden kann. Es fehlt die Möglichkeit zur Thematisierung. Die formale Seite von Organisationen, also die offiziellen Kommunikationswege, die verabschiedeten Programme und die verkündeten Personalentscheidungen, lässt sich in der Regel problemlos ansprechen. Aber die informale Seite, das heißt die gleichzeitig ablaufenden Macht-, Vertrauens- und Verständigungsprozesse, sind häufig nicht offen kommunizierbar. Das Ansprechen dieser Tabus in einem geschützten Rahmen kann jedoch interessantes Material für die Gestaltung von Organisationen liefern.

Wie können Latenzen bearbeitet und Organisationen gestaltet werden?

Das Aufdecken von blinden Flecken und die Besprechung von Elefanten im Raum fördert die Variation möglicher Handlungsalternativen. Das Potenzial dieser Handlungsalternativen wird dabei nicht von außen an die Organisation herangetragen, sondern von innen heraus gehoben. Der Spruch „Wenn Siemens wüsste, was Siemens weiß“ verweist beispielhaft auf das verborgene Innovationspotenzial dieses Unternehmens.

Liegen mehrere Varianten auf dem Tisch, kann man sich in unserer mehrdeutigen Welt  zunächst einmal davon verabschieden, die eine optimale Lösung zu finden, die das Problem gänzlich aus der Welt schafft. Solche „Lösungen“ werden gerne im Rahmen von Change-Management-Prozessen gerne öffentlichkeitswirksam verkündet. Sie stoßen aber zu Recht immer wieder auf große Vorbehalte in der Belegschaft. Dabei lassen Organisationen es zu, mehrere miteinander in Konflikt stehende Handlungsvarianten zu erproben. Am Ende wird die Variante beibehalten, die sich in den dabei stattfindenden Aushandlungsprozessen als die tragfähigste erwiesen. Es ist die Variante, die am ehesten eine Nische in der Organisation finden und sich von dort aus ausbreiten konnte.

Auch Judith Muster und Stefan Kühl haben sich in ihrem Buch „Organisationen gestalten – Eine kurze organisationstheoretisch informierte Handreichung“ mit dem Thema Latenz auseinandergesetzt. Gemeinsam gehen sie der Frage nach, wie Veränderungen von Organisationen jenseits der üblichen zweckrational verengten Sichtweisen gestaltet werden können. Das Buch ist hier verfügbar.