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Die Bürde des Entscheidens

Burn Out - Nachruf auf einen ausgebrannten Manager

  • Günther Ortmann
  • Freitag, 15. März 2024

Entscheiden, sagt Niklas Luhmann, ist Transformation von Kontingenz. „Kontingenz“ heißt: Es geht auch anders. Kontingenz, das So-und-auch-anders-möglich-sein, bedeutet für Ent­scheidungen: Sie sind nicht determiniert. Die Sache ist noch offen. Es gibt Freiheitsgrade. Es gibt mehrere Möglichkeiten. Die Entscheidungen sind nicht beliebig, aber man kann sich immer auch anders entscheiden. Transformation heißt: Eben noch war vieles möglich. Nun ist die Sache entschieden. Wie das?

Schon die genaue Beobachtung entscheidungsfreudiger Menschen zeigt deren hervor­stechende Eigenschaft. Sie liegt in der Fähigkeit, Zweifel über die favorisierte Lösung und Gedanken an etwaige Vorzüge anderer Lösungen an sich selbst zum Verstummen zu bringen, und zwar hinter dem eigenen Rücken. Das geht am leichtesten über Verdrängung. Graue Eminenzen, gewiefte Verhandlungsführer und führungsstarke Persönlichkeiten bringen diese Gabe als Naturtalent mit. Ihre Überzeugungskraft könnten sie nicht haben, wenn ihren Konzepten, Vorschlägen, Argumenten und Anweisungen nicht eine von innen kommende Überzeugung ablesbar wäre, die lautet: „Das ist es“. Das – und nichts anderes.

Das riesige und aufwendige Projekt kann weder dem Konzernvorstand noch den Mitarbeitern gegenüber mit dem Tenor vertreten werden: „Versuchen wir’s mal. Vielleicht wäre es auch besser, die kleine Lösung zu probieren“. Nein, die Theorie der kognitiven Dissonanz – wenn wir zweifeln, suchen wir Beruhigung und Bestärkung – wie auch die Lehren in Sachen Motivation und Commitment lauten: So lässt sich niemand auf ein Projekt einschwören. Nicht Zweifel, Eindeutigkeiten sind gefragt.

Nun zeichnet sich aber die Entscheidungssituation gerade bei wichtigen Problemen durch eine hohe Kontingenz bei gleichzeitig hohem Handlungsdruck aus. Es muss etwas geschehen – aber was? Dem ökonomischen Druck, auf einem Unternehmen lastet, steht nicht auf der Stirn geschrieben, was zu tun ist. Was immer aber getan wird, es muss in dem Geiste getan werden, ins Schwarze zu zielen. Wie nun, wenn die erforderliche Transformation von Kontingenz, die Entscheidung, nicht von der Sache her zweifelsfrei, nicht zwingend begründbar ist – und das ist sie fast nie? Dann müssen die Zweifel eben unterdrückt, aus schwachen Begründungen starke, aus fehlenden fingierte gemacht werden. Das gelingt nur dann überzeugend, wenn dieser Vorgang im eigenen Innersten stattfindet und anderen gegenüber keine Spuren der Überzeugungsarbeit hinterlässt.

Manager müssen diese Arbeit der Verdrängung und Unterdrückung an sich selbst tagtäglich leisten. Das ist anstrengend. „Und wenn das EDV-System doch nicht richtig funktioniert? Wenn wir mit dem Budget nicht auskommen? Was, wenn das neue Hochregellager halb leersteht? Wenn der Großkunde ausfällt? Wenn der Markt das neue Modell nicht annimmt?“ Solche Fragen steigen unvermeidlich auf und müssen nach unten gedrückt werden, beiseite geschoben. Das kostet um so mehr Kraft, je größer der Druck ist. Das aber ist das Wesen von Ent­schei­dungsproblemen, dass sie dazu nötigen, aus Unentschiedenem ohne zweifelsfreie Begründung Entschiedenes zu machen. Sonst wären es keine Probleme.

Der Transformation von Kontingenz, die damit bewerkstelligt wird, haftet daher immer etwas Magisches an: Ich glaube daran, also wird es gelingen. („Am Ende hilft nur der Glaube“, sagte manch ein EDV-(!)-Abteilungsleiter zur Frage der Leistungsfähigkeit von Standardsoftware, die er auswählen sollte.) Der Trick gelingt nur, wenn die Hand nicht zittert. Wenn die Kluft der Kontingenz mit sachlichen Gründen nicht überbrückt werden kann, muss es eben ohne Brücken gehen. Jerry, die Maus, schafft es. Tom, der Kater, sieht hinunter – und stürzt ab.

Was sich innerpsychisch als magischer Glaube und als Verdrängung abspielt, muss in Organisationen zwischen Akteuren noch einmal gelingen. Der schärfste organisatorische Verdrängungsmechanismus ist die Tabuisierung und Sanktionierung von Kritik. Skeptiker gelten als „nicht konstruktiv“. Schnell sind sie weggelobt oder auf Abstellgleise geschoben. Die „politics of reality“ – kommunikative Herabsetzung, strategische Kontextbildung, die Verpflichtung auf ein bestimmtes Organisationsvokabular und auf bestimmte Argumenta­tionsweisen z. B. in Form von Kennzahlen oder Entscheidungsanalyse-Modellen – tun ein übriges. Der magische Glaube muss in Organisationen durch Beschwörungen, Zeremonien, Mythen und Legenden des Erfolgs gefestigt werden.

Beides muss der Manager leisten: Zuversicht ausstrahlen und Zweifler stumm machen. Die Akteure gehen auf dünnem Eis.

Die Transformation von Kontingenz ist hartes Brot – um so mehr, wenn es die Möglichkeiten anderer sind, die auf dem Weg in die Eindeutigkeit ent- und ausgeschieden werden. Dann wollen Skrupel zurückgestellt sein. Auch das kostet Kraft. Je weniger die Transformation von Kontingenz durch Entscheidung von nachvollziehbaren Begründungen getragen ist, desto höher der Energieverlust, den die nötige Balance-Ökonomie von Managern fordert. Michael Maccoby hat Manager in einem Buchtitel einmal als „Gewinner um jeden Preis“ charakterisiert. Sie bezahlen mit den eigenen Kraftreserven. Das Modewort dafür heißt: burn out.

Erstmals in: Kunst des Entscheidens. Velbrück Wissenschaft Weilerswist 2011.
Wir danken dem Verlag für die Erlaubnis, den Text hier neu zugänglich zu machen
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Günther Ortmann

Prof. Günther Ortmann

war zuletzt Professor für Führung an der Universität Witten/Herdecke im Department für Management und Unternehmertum.

Kommentar (1)

  1. Christoph Kappes sagt:

    Warum führt der Autor den „entscheidungsfreudigen“ Menschen ein?
    Niemand ist gezwungen, „Freude“ an Entscheidungen zu haben, man kann sie mehr oder weniger rational und mehr oder weniger abgewogen und mehr oder weniger autoritär/partizipativ treffen.
    Das einmal reflektiert muss auch niemand „Zweifel an einer Entscheidung zum Verstummen bringen“, auch nicht innerpsychisch. Und warum „Bürde“? Das ist die Folge von Kontigenz, jeder muss sich zur Welt stellen und Entscheidungen treffen, solange er Weltkontakt eingeht.

    Die These der täglichem Arbeit der Verdrängung und Unterdrückung an sich selbst (Zweifel werden unterdrückt, aus schwachen Begründungen starke, aus fehlenden fingierte gemacht) hat nicht nur eine schwache, sondern gar keine Begründung und führt daher den Prozess vor.

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