Luhmann nennt Entscheidungen Transformation – und nicht Schließung – von Kontingenz, weil es für ihn nach der Entscheidung dieselbe Kontingenz gibt wie vorher, nur in fixierter Form. Dieselbe? Wohl kaum, denn dass die Entscheidung auch anders möglich gewesen wäre, bleibt zwar wahr, wird aber nun zum conjunctivus irrealis und muss von den Entscheidungsträgern meistens bestritten, verschleiert, verdrängt und unterdrückt werden.
Entscheidungen transformieren Kontingenz nicht in fixierte Form, sondern in das Gegenteil von Kontingenz: in Notwendigkeit respektiver Unmöglichkeit, und zwar erst recht bei kollektiven Entscheidungsprozessen. Dass es kein Zurück gibt, liegt bei ihnen nicht (nur) an Selbstfestlegungen Einzelner, sondern (auch) daran, dass nun die anderen Beteiligten an der einmal getroffenen – und womöglich verkündeten – Entscheidung, am einmal ausgehandelten Kompromiss festhalten werden: unmöglich, dahinter zurückzufallen. Einmal geschnürte Verhandlungspakete können nicht oder nur unter hohen mikropolitischen Kosten wieder aufgeschnürt werden. Diese Remanenz, diese Irreversibilität von Entscheidungen kommt in der Rede von der Transformation der Kontingenz nicht recht zum Ausdruck. Die Orte der durch die Entscheidung bewirkten Unmöglichkeit tragen sprechende Namen. Point of no return. Rubikon. Die Würfel sind gefallen, und die Brücken abgebrochen.
Es kommt hinzu, dass, wenn Entscheidungen in die Tat umgesetzt werden, neue Irreversibilitäten erzeugt werden, vollendete Tatsachen.
Wenn wir daher eine Sequenz aufeinander folgender Entscheidungen betrachten, ergibt sich das Bild eines allmählich sich verengenden Entscheidungskorridors. Alte Entscheidungen und Verhandlungsergebnisse setzen den neuen Grenzen. Vergangene Abkommen werden zu Präjudizien für gegenwärtige Entscheidungssituationen. Ein Budget heute wird zum Präjudiz für Budgets morgen. Die Wahlakte – und die Zufälle – der Organisationsgeschichte tendieren dazu, perpetuiert zu werden.
In einem solchen Entscheidungskorridor lassen sich nur begrenzte, partielle Ziele ins Auge fassen und in kleinen Schritten ansteuern. Das nennt der Fachjargon Inkrementalismus, muddling through, piecemeal engineering. Der Weg kann fast nur in vorgezeichneten Bahnen verlaufen. Hohe Barrieren hindern daran, sie zu verlassen. Es gibt kaum einen Weg zurück. Es gibt kaum die Möglichkeit zu stoppen.
Das lässt sich in Odo Marquards Credo ummünzen: Zukunft braucht Herkunft. Und es mahnt zur Vorsicht bei der Kreation neuer Gegenwarten, weil wir wissen können, dass sie uns in Zukunft wie ein Klotz am Bein hängen werden.
Erstmals in: Kunst des Entscheidens. Velbrück Wissenschaft Weilerswist 2011.
Wir danken dem Verlag für die Erlaubnis, den Text hier neu zugänglich zu machen.