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Die Bürde des Entscheidens

Es rollen Köpfe

  • Günther Ortmann
  • Donnerstag, 15. Juni 2023
Es rollen Köpfe

„Bei einem chinesischen Henkerwettstreit – so wird erzählt – geriet der zweite Finalist in die Verlegenheit, eine schier unüberbietbar präzise Enthauptung durch seinen Konkurrenten, der vor ihm dran war, überbieten zu müssen. Es herrschte Spannung. Mit scharfer Klinge führte er seinen Streich. Jedoch der Kopf des zu Enthauptenden fiel nicht, und der also scheinbar noch nicht enthauptete Delinquent blickte den Henker erstaunt und fragend an. Darauf dieser zu ihm: Nicken Sie mal.“

Odo Marquard, Meisterskeptiker und Philosoph der vita brevis – „Die Zeit ist endlich und das Leben ist kurz“ –, der mit diesem Streich seinen legendären Beitrag Inkompetenzkompensa­tionskompetenz eröffnete, fuhr fort:

„Mich interessiert, was dieser Kopf denkt, bevor er nickt; denn das müßte doch Ähnlichkeit haben mit Gedanken der Philosophie über sich selber.“

Sein eigenes Fach habe sein Leben und fast auch sein Ableben hinter sich, wie jener Delinquent und rette sich mittels Inkompetenzkompensationskompetenz so eben noch über die Runden. So kurz vorm Exitus indes kann die Philosophie nicht sein, wie Marquard damit insinuiert, solange sie sich derart präsentiert. Ich aber interessiere mich dafür, was im Kopf des Henkers vorgeht, denn das müsste doch Ähnlichkeit haben mit Gedanken des Entscheiders im Augenblick der Entscheidung, der andere – etwa NINJA-people – zum Opfer fallen. Zögern? Bedauern? Reue? Oder der Wunsch, noch in letzter Sekunde Beihilfe – oder gar Absolution? – vom Delinquenten zu erhalten? „Nicken Sie mal.“

Im Falle von Fehlentscheidungen aber läuft der Henker Gefahr, selbst geköpft zu werden. Auch das mag ihm durch den noch nicht rollenden Kopf gehen. Die Stärksten unter den Entscheidungsstarken jedoch ziehen es vor, die Augen vor eigenen Fehlern und erst recht vor jenem Hieb zu verschließen, davor – oder danach, wie man mit Blick auf die hinabsausende Klinge hinzufügen möchte.

Überliefert ist übrigens, dass die Henker von Paris, als sie zu Anfang des 19. Jahrhunderts nicht mehr selber das Beil zu schwingen hatten, sondern nurmehr ihren Gehilfen das Zeichen gaben, das Fallbeil auszulösen, in Angstzustände fielen. Das wird eine Übergangserscheinung gewesen sein – eine Art horror vacui beim Rollenwechsel vom Täter zum Schreibtischtäter. Man fragt sich aber, ob es nicht symptomatisch für die Trennung von dispositiver und ausführender Arbeit ist. Vielleicht, dass an ihrem Anfang immer eine Art existentieller Angst der Entscheidungs-Träger stand?

Erstmals in: Kunst des Entscheidens. Velbrück Wissenschaft Weilerswist 2011.
Wir danken dem Verlag für die Erlaubnis, den Text hier neu zugänglich zu machen!

Autor
Günther Ortmann

Prof. Günther Ortmann

war zuletzt Professor für Führung an der Universität Witten/Herdecke im Department für Management und Unternehmertum.

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