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Die Bürde des Entscheidens

Organisation als Vehikel

  • Günther Ortmann
  • Freitag, 12. Januar 2024
Organisation als Vehikel

Es hat Tradition, Organisationen als Vehikel zum Transport der Mitglieder zu ihren Zielen aufzufassen. Das würden aufgeklärte Organisationstheoretikerinnen, nicht nur, aber besonders Luhmannianer, eine allzu instrumentalistische Sicht der Dinge nennen.

Organisationen sind mehr als Instrumente individuellen Handelns Sie entwickeln Eigensinn und zauberlehrlingsartige Eigendynamik, die nicht restlos auf individuelle Intentionen zu reduzieren sind. Unbeirrt durch diese höhere Einsicht hält sich die Vehikel-Metapher mit erklärungsbedürftiger Hartnäckigkeit. Eine frühe Fassung stammt von Herbert A. Simon. Sie lautet – ich habe sie oft zitiert:

„In einem sehr realen Sinne ist der Leiter oder Vorgesetzte nur ein Busfahrer, dessen Passagiere ihn verlassen werden, wenn er sie nicht in die gewünschte Richtung fährt.“

(Simon, Administrative Behavior. Sixth Printing, New York 1951, S. 134; meine Übersetzung)

Daran muss man kritisieren, dass Beschäftigte so leicht nicht aus der Organisation aussteigen können. Mein Punkt hier ist aber, dass Organisationen sich nicht wie Busse von einem „Fahrer“ lenken lassen. Das weiß eigentlich jede und jeder, auch Topmanager wissen es, die das leidvoll erfahren haben. Dass sich die Vehikel-Metapher trotzdem so hartnäckig hält, dafür fand ich neulich einen kleinen Beleg in einem Interview der Süddeutschen Zeitung (Nr.  266 vom 18./19. 11. 2023, S. 50) mit Ridley Scott, der Filme wie „Thelma und Louise“, „Gladiator“ und „Black Hawk Down“ gemacht hat. Auf die Frage „Muss ein guter Regisseur nicht zumindest ansatzweise ein größenwahnsinniger Diktator sein?“ hat Scott geantwortet:


„Unbedingt. Wenn alle Passagiere versuchen, den Bus zu lenken, wird das nicht funktionieren. Dann landen sie im Graben. Sie brauchen eine Person, die der Fahrer ist und bestimmt, wo’s lang geht.“

Welcher Fahrgast wollte dem widersprechen? Viele Köche verderben allerdings den Brei nicht nur des höheren Managements, sondern auch, zum Beispiel, den eines Fließbandarbeiters à la Modern Times, der wie Charlie Chaplin mit dem Schraubenschlüssel an einer Mutter herumfummelt. Will sagen: Scotts Gebrauch der Metaphernmetapher – ‚Metapher‘ bedeutet wortwörtlich ‚Vehikel‘ – eignet sich nicht, um eigens eine besondere Qualität der Führung zu charakterisieren und damit einen diktatorischen oder auch nur autoritären Führungsstil als notwendig zu legitimieren. Sondern jede Tischlerin, jeder Bauer, der eine Kuh melkt, jede Autorin, die sich mit einem Text abmüht, und sei es eine E-mail oder eine SMS, jeder Schuster, der bei seinem Leisten bleibt, muss seine Arbeit ungestört von anderen verrichten können und dafür mehr oder weniger allein, jedenfalls in Ruhe gelassen werden. Hilfe hilft, Kooperation auch, aber es können nicht gut vier Melker – stripp, strapp, strull – an den vier Zitzen einer Kuh herumzippeln. Bei solchen „niederen“ Tätigkeiten allerdings wird das hohe Lied des einsamen Entscheiders nicht gesungen.

Übrigens auch nicht bei buchstäblichen Busfahrern. Es drängt sich der Verdacht auf, dass die Sänger dort deswegen stumm bleiben, weil die Alleinherrschaft von Busfahrern, Tischlerinnen und Melkern, überschaubar, wie sie ist, keinen besonderen Legitimationsbedarf aufwirft. „Auf jedem Schiff, das dampft und segelt, braucht’s einen, der das Ganze regelt“? Das hat einst der Vorsitzende einer freien demokratischen Partei rezitiert. Scotts Lied vom Busfahrer und auch dieser poetische Vers erweisen sich als Rechtfertigungs-Hymnen. Nein, es sollen dem Fahrer nicht Passagiere ins Lenkrad greifen. Aber Diktatorinnen müssen Busfahrerinnen nicht sein, nicht einmal Parteivorsitzende müssen es. Es reicht, wenn man sie ihre Arbeit tun lässt, konzentriert und professionell.

Liegen die Dinge beim Film, in Parteien und in Unternehmen vielleicht insofern anders, als am Set, in Partei- und in Managerbüros, anders als auf dem Fahrersitz oder dem Melkschemel, viele mitreden wollen und teils auch können? Und weil dort eine besondere Koordinationsfunktion gefragt ist? Zugegeben. Wieso daraus aber Diktatur soll folgen müssen, ist nicht ersichtlich, oder nur, wenn man eisern von Möglichkeiten der Kommunikation und kollektiver, gar demokratischer Entscheidungsprozesse absieht. Regisseure eines Films oder Leiter einer Abteilung können sich als Diktatoren gerieren. Dass sie es nicht müssen, pfeifen seit vielen Jahrzehnten die Spatzen von den Dächern. Oft genug leiten letztere, wie gerüchtweise verlautet, überhaupt nicht. Nicht mehr das jüngste unter den Beispielen des einschlägigen Spotts lautet ja: „Wer glaubt, dass Abteilungsleiter Abteilungen leiten, glaubt auch, das Zitronenfalter Zitronen falten.“

Die Vehikel-Metapher suggeriert nicht nur eine unproblematische Steuerbarkeit von Organisationen, sondern auch – und das erklärt ihre Langlebigkeit – die Berechtigung einsamer Entscheidungen derer an einsamen Spitzen, am liebsten der Eigentümer oder ihrer Agenten. Es ist ein bisschen wie mit Dirigenten und ihren Orchestern. Ohne gleich deren Entbehrlichkeit zu postulieren: Diktatoren wie Herbert Karajan sind doch etwas aus der Mode gefallen.

Eine heilsame Medizin ist da die Geschichte, die Karl Weick gleich zu Anfang von „Der Prozess des Organisierens“ erzählt hat, die von dem uruguayischen Dirigenten Jose Serebrier, der seinen Dirigentenstab bei einem allzu enthusiastischen Schwenken zerbrach, sich durch die Hand bohrte und mühsam herausziehen musste. Es ist eine Geschichte von Eigensinn und Eigendynamik von Organisationen. „Die Band spielte weiter, und der Chor sang weitere 20 Minuten bis zum Finale.“ Serebrier konnte immerhin, trotz Unterbrechung, mühsam weiterdirigieren. Maestro Wellauer aus Donna Leons „Venezianisches Finale“ konnte das nicht. Er wurde gleich zu Anfang des Romans, in der Pause vor dem letzten Akt von La Traviata, tot in der Garderobe aufgefunden, vergiftet, Zyankali, und, Sie ahnen es, das Orchester spielte munter weiter.

Postscriptum

„Jeder Musiker wird Ihnen gern bestätigen, daß ein Orchester jederzeit auf den Dirigenten verzichten kann, aber nicht auf den Kontrabaß: Jahrhundertelang sind Orchester ohne Dirigenten ausgekommen.“ (Patrick Süßkind: Der Kontrabaß)

Autor
Günther Ortmann

Prof. Günther Ortmann

war zuletzt Professor für Führung an der Universität Witten/Herdecke im Department für Management und Unternehmertum.

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