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Matthiesen meint

Achtsam – wie soll das hier gehen?

  • Kai Matthiesen
  • Donnerstag, 30. Dezember 2021
Achtsamkeit in Organisationen
© Silke Bachmann

Achtsamkeit hat in Organisationen eine schwierige Stellung. Sie nützt allen, wird gebraucht, kann aber auch die Kraft zur Änderung der Verhältnisse lähmen.

Zwischen den Feiertagen, im Urlaub, an Wochenenden darf Ruhe einkehren. Familie, Freunden und sogar freundlichen Fremden schenken wir Aufmerksamkeit. Wir beachten einander als Menschen, gehen achtsam, respektvoll und empathisch miteinander um. Das ist noch nicht gleich die buddhistische Achtsamkeit, diese nicht wertende, offene Gegenwärtigkeit als Zustand des Geistes und des Herzens. Und dennoch frage ich mich, wenn es dann wieder ans Tagwerk geht, wie kann ich wenigstens ein Stück davon erhalten?

Denn es wird wieder losgehen. Ich werde von Kolleg:innen Einsatz fordern für das wichtige Projekt, wenn es das Projekt nicht gleich „ganz von selber“ tut. Ich werde bei Dienstleister:innen die Einhaltung der Termine durchsetzen. Ich werde mich auf meine Ziele konzentrieren, wie die anderen auch. So funktionieren ja organisational verfasste Arbeitszusammenhänge. Die Arbeit wird geteilt. Jede:r konzentriert sich auf das seine/ ihre. Erst wenn das Geteilte wieder zusammengeführt werden soll, ist es notwendig, die Abstimmung mit anderen zu suchen. Es gilt, deren lokale Rationalitäten zu verstehen und auf die eigenen zu beziehen. Hier braucht es plötzlich Achtsamkeit, die formal gar nicht vorgesehen war. So geölt, funktioniert das Zusammenspiel in der arbeitsteiligen Organisation. Sie muss sich also darauf verlassen, dass ihre Mitglieder es irgendwie hinbekommen, miteinander einen gemeinsamen Weg zu finden.

Das haben einige Unternehmen erkannt und schicken ihre Mitarbeiter:innen zu Achtsamkeits- und Meditationskursen, auf dass sie die Lücken, die eine formale Organisation lässt, mit eigenem Vermögen kompensieren mögen. Das ist klug und kann auch den Einzelnen helfen, widrige Umstände gleichsam wegzuatmen und dabei wenigstens innere Ruhe und ein Gleichgewicht zu wahren.

Was aber, wenn die Reibungen und Aggressionen, das herabsetzende und beleidigende Verhalten, nicht allein auf mangelnde Achtsamkeit zurückzuführen ist? Was, wenn die Organisation versucht, Wettbewerbsnachteile durch weitere Verdichtung der Arbeit auszugleichen – wie z.B. bei Kostensenkungsprogrammen großer Konzerne? Was, wenn die Organisation so viel überschießenden Sinn erzeugt, dass alle sich reinhängen, koste es was es wolle – wie z.B. im Gesundheitswesen, bei NGOs oder in Start-ups? Was, wenn die Organisation Kolleg:innen in Konkurrenz um Einkommens- und Aufstiegschancen setzt – wie z.B. in Sales-Funktionen oder in Beratungsunternehmen?

Dann sind es die Strukturen selbst, die das Arbeiten nur mit täglicher Meditation erträglich macht. Dann ist Achtsamkeit nur Opium fürs Volk, ein Sedativum, dass ein inhumanes, die Einzelnen belastendendes System stützt, statt den Willen zu Veränderung zu nähren.

Achtsamkeit ist für das Funktionieren einer Organisation notwendig, aber nicht hinreichend. Dazu braucht es gutes Organisieren im Sinne einer humaneren Arbeitswelt. Das geht im Kleinen, indem man Raum für langsames oder laterales Denken schafft, indem man Anlässe für Kollaboration, gegenseitige Wahrnehmung und ungewöhnliche Ideen kreiert oder indem man sich Regeln der achtsamen Zusammenarbeit gibt, die das eigentlich selbstverständliche explizieren und ihm einen höheren Strukturwert geben. Das geht im Großen, indem man die Prinzipien hinterfragt, nach denen einen Organisation strukturiert ist. Wie viel Gier und Willen zur Ausbeutung steckt darin, wie viel Rücksicht darf genommen werden, wie viel Härte wird verlangt, wie viel Konkurrenz ist angelegt, wie viel Offenheit ist möglich?

Wenn ich nach den ruhigen Tagen wieder an die Arbeit gehe, nehme ich mir zweierlei vor: Zum einen will ich achtsamer sein, die Menschen und mich sehen, verstehen und annehmen. Zum anderen will ich Strukturen schaffen, die ein achtsameres Miteinander in Organisationen ermöglichen.

Autor
Kai Matthiesen

Dr. Kai Matthiesen

hat ein besonderes Augenmerk auf die alltäglichen Aufgaben von Organisationsmitgliedern – und was von ihnen formal eigentlich gefordert ist.

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