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Matthiesen meint

Weg ist weg - die Freiheit nehme ich mir!

  • Kai Matthiesen
  • Donnerstag, 2. Juni 2022
Weg ist weg die Freiheit nehme ich mit
© Timo Müller, Die Illustratoren

Ich feiere gerade still und leise einen meiner Kunden. Wir hatten um einen bal­digen Termin gebeten. Seine Antwort: „Geht nicht. Ich bin bis Ende der Woche auf Dienstreise“. Das habe ich schon lange nicht mehr gehört. Es scheint aus einer Zeit zu kommen, in der Dienstreisen noch kleine Secret Escapes aus der Routine des Arbeitsalltags waren. Und überhaupt „Dienstreise“ – auch ein Wort aus der Vergangenheit. „Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps“, fällt mir dann noch ein – und dass auch das nicht mehr stimmt. Zwar nimmt der beiläu­fige Alkoholkonsum im Arbeitskontext ab, aber die Slack-Nachricht des Kollegen erreicht mich doch beim Rotwein (oder Schnaps) am späten Abend. Selbst der Urlaub ist nicht sicher vor der Kommunikation mit den Kolleg:innen oder Kund:innen. Darf man eigentlich im Urlaub seinen Laptop zu Hause lassen? Wo sind sie geblieben, die Schutzräume des Privaten, des Intransparenten? Wo sind sie hin, die kleinen Freiheiten?

Um es kurz zu sagen: ohne Routinen keine kleinen Fluchten davon – oder etwas soziologischer: ohne Erwartungsstrukturen keine freien Räume für legimitiertes Handeln.

So sehen wir uns mit dem Paradoxon konfrontiert, dass der Wegfall vieler Ein­schränkungen organisierten Arbeitens nicht eine neue Freiheit, sondern den Verlust derselben hervorbringt. In der Generation meines Vaters rang man um Sinn und Unsinn von Gleitzeit, jetzt wird kaum noch vorgeschrieben, wann genau man zu arbeiten hat. Es gilt „Vertrauensarbeitszeit“ – was oft so viel heißt wie: wir vertrauen darauf, dass die Mitarbeitenden sowieso mehr arbeiten als die im Arbeitsvertrag definierte Zeit. Die Pandemie hat dann auch noch den verbind­lichen Arbeitsort davongetragen. Die mobilen Arbeitsmittel – vom Handy zu kollaborativen Apps und Plattformen – machen es möglich, die anstehende Arbeit recht ordentlich zu bewältigen. Also ist doch alles gut: Die Arbeit ist weiter da und sie ist befreit von jeglicher Raum-Zeit-Bindung.

Die Kehrseite ist eine potenziell ständige Erreichbarkeit, eine Entgrenzung der Arbeit. Es gibt keine quasi-natürlichen Grenzen mehr, die den Job (ich nenne es hier mal nicht Beruf oder gar Berufung) davon abhält, sich die ganze Zeit, das ganze Leben, den ganzen Menschen zu greifen. Und gierig, wie Organisationen so sind, greifen sie zu, knabbern zuerst nur ein bisschen und beißen dann richtig zu: die E-Mail am Wochenende, Termine an ausfransenden Tagesrändern, Video­konferenzen in der Pause des Präsenzworkshops, Telefonate auf dem Pferd oder am Rande der Konfirmationsfeier. Und dann sucht die Urlaubsseglerin einen Hafen mit gutem WLAN oder wenigstens 4-G Empfang.   

„Wer repariert die 5-Uhr-Sirene?“ fragt der Künstler Armin Chodzinski in seiner Performance „F wie Feierabend“. Die Sirene markierte im industriellen Zeitalter diese Grenze für alle. Davor war Arbeit, danach war Feierabend. Machen wir uns nichts vor. Diese Zeiten sind vorbei und wir wollen sie auch nicht zurück. Ent­fremdete Arbeit unter entmündigenden Bedingungen am gleichen Ort zur glei­chen Zeit im Gleichschritt – das ist keine attraktive Zukunftsperspektive. Für naive Romantisierung ist kein Platz in einer digital vernetzten Welt der Wissens­arbeiter:innen.

Aber neue Grenzen, neue Regeln braucht es dennoch. Es werden nicht die glei­chen für alle sein. Man wird keine zentrale Stelle finden, die sie sinnvoll setzen könnte. Weder einer klugen Geschäftsleitung noch einem auf- und abgeklärten Betriebsrat wird das gelingen. Die Grenzen wird man recht auf­wändig in den jeweiligen Arbeitszusammenhängen verhandeln und gemeinsam vereinbaren müssen: in den Teams, an Schnittstellen zu anderen Teams, in Gremien, mit Kund:innen und mit Lieferant:innen. Wann ist man regelmäßig erreichbar? In welchem Zeitraum finden Meetings statt? Wochenende ist Wochenende. Urlaub ist Urlaub. Das schafft Erwartungssicherheit.

Erst wenn man sich darüber verständigt hat, was die Regel sein soll, kann man auch mal eine Ausnahme machen. Dann in Eigenverantwortung, wissend, dass man die Regel außer Acht lässt, diese aber nicht außer Kraft setzt. Der Schutz­raum ist geschaffen. Wer will, lässt die Tür offen. Niemand muss sich ernsthaft dafür rechtfertigen, die Tür geschlossen zu halten.

Der Zug, in dem ich gerade sitze, ist einer der letzten „natürlichen“ Schutzräume. „Ich kann grad nicht telefonieren. Die Verbindung ist zu schlecht.“ schreibe ich der Kollegin. Und so hoffe ich insgeheim, dass die WLAN- und Telefonverbindun­gen weiterhin so mäßig bleiben, dass ich wenigstens im Zug, mit guter Musik im Ohr, ungestört meine Gedanken sortieren und in Ruhe etwas schreiben kann. Denn ich werde es wohl nicht durchsetzen können (und wollen), was mein Kunde schafft: „Ich kann gerade nicht, ich bin auf Dienstreise“.

Autor
Kai Matthiesen

Dr. Kai Matthiesen

hat ein besonderes Augen­merk auf die alltäglichen Aufgaben von Organisations­mitgliedern – und was von ihnen formal eigentlich gefordert ist.

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