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Der ganz formale Wahnsinn

Personalauswahl: Wie man die Mikropolitik durch Assessment-Center reduziert

  • Stefan Kühl
  • Montag, 6. März 2023
personalauswahl

Da werden mehrere Bewerber:innen einige Tage an einem Ort zusammengeholt, mit mehr oder minder schwierigen Aufgaben konfrontiert und bei der Lösung dieser Aufgaben von Psycholog:innen sowie Führungskräften des Unternehmens aufmerk­sam beobachtet. Alles nur, um aus dem Kreis der Interessenten zielsicher die passenden Berufseinsteiger:innen oder die bereits in der Organisation vorhandenen „High Potentials“ auszuwählen.

Eine zeit- und kostenintensive Angelegenheit, angesichts derer sich nicht wenige Unternehmen fragen, ob sich dieser ganze Aufwand lohnt. Wie kann man aber die Effizienz oder Ineffizienz von Assessment-Centern bestimmen? Die Leistungsfähigkeit der Abgewiesenen kann nur schwer beurteilt werden. Meistens ist das Gedächtnis in Organisationen sogar so schlecht, dass man sich nicht einmal daran erinnert, wenn die erfolgreiche Geschäftsführerin des Konkurrenzunternehmens vor zehn oder fünfzehn Jahren im eigenen Assessment-Center als ungeeignet eingestuft wurde.

Tatsächlich war ein Versicherungsunternehmen in der glücklichen Lage, die Nützlichkeit seines Auswahlverfahrens zu bestimmen. Die Vertriebsabteilung hatte zusammen mit der Personalabteilung ein Assessment-Center durchgeführt und eine Anzahl von geeignet erscheinenden Vertriebs­mitarbeiter:innen ausgewählt, aber der Markt explodierte und die Firma sah sich gezwungen, auch einigen zunächst abgewiesenen Kandidat:innen eine Stelle anzubieten. Zu einem späteren Zeitpunkt stellte diese Firma einem Studenten die Verkaufszahlen der beiden Gruppen zur Verfügung, um zu messen, wie viel höher die Verkäufe von Versicherungspolicen durch die ursprünglich durch das Assessment-Center ausgewählte Gruppe im Vergleich zu den ursprünglich abgelehnten Bewerber:innen war.

Das Unternehmen erlebte eine Überraschung: Die Verkaufszahlen der beiden Gruppen unterschieden sich nicht merklich. In einigen Aspekten waren die ursprünglich abgelehnten Kandidat:innen sogar besser als die zuerst eingestellten Vertriebsmitarbeiter:innen. Die üblichen Verdächtigen für diesen Lapsus lassen sich schnell benennen: Das Verfahren war ungenügend, die engagierten Psycholog:innen nicht professionell genug und die eigenen Führungskräfte durch die Assessoren-Schulung nur unzureichend vorbereitet. Aus diesem Blickwinkel folgt ein Wachstumsauftrag an die ganze Assessment-Branche: noch bessere Verfahren, Berater:innen und Assessoren-Schulungen, um solche Missgeschicke möglichst zu vermeiden. Ein Blick auf die wachsende Anzahl von Dissertationen, Forschungsprojekten und Veröffentlichungen zeigt, dass diese Branche ziemlich boomt.

Einige Kritiker:innen nahmen und nehmen jedoch eine ganz andere Perspektive ein: Die Qualität der durch Assessment-Center getroffenen Entscheidungen, so der in Unternehmen häufig geäußerte Verdacht, ist auch nicht besser als die anderer im Großen und Ganzen anerkannter Auswahlverfahren – etwa die Abiturnoten, das allseits bekannte Los, Vetternwirtschaft oder die mehr oder minder willkürliche Entscheidung eines Vorgesetzten. Ketzerische Stimmen weisen auf den „Viehmarkt-Charakter“ von Assessment-Centern hin: Die Zuchtbullen müssten lediglich einige stolze Runden drehen, wodurch aber wenig über ihre spätere Leistungsfähigkeit im Unternehmen ausgesagt wird. Als „definitiver Beweis“ wird dann angeführt, dass die Beratungsfirmen, die Assessment-Center anbieten, ihre eigenen Mitarbeiter:innen in der Regel gerade nicht durch Assessment-Center auswählen.[1]

Ein Grund also auf Assessment-Center in Unternehmen zu verzichten und sich billigeren Auswahlverfahren zuzuwenden? Nicht unbedingt – und zwar aufgrund von Funktionen des Assessment-Centers, die nicht in den Broschüren, Handzetteln und Foliensätzen der zuständigen Berater und Personalabteilungen auftauchen. Es geht bei Assessment-Centern häufig nicht um die Bewerber:innen, sondern um die Personen auf der anderen Seite: die eigenen Führungskräfte und Assessoren. Die Bewerber, um die es ja offiziell geht, sind dabei nur Staffage.

Alteingesessene Manager:innen zeigen sich häufig resistent gegen alle Versuche, ihnen über Schulungen moderne Führungseigenschaften beizubringen. Die Aufforderung, seinen eigenen Führungsstil zu reflektieren, wird dann mit Verweis auf die fehlende Zeit, die eigenen zufriedenen Mitarbeiter:innen und die Ineffizienz solcher Schulungen erfolgreich abgewiesen. Über die Ausbildung zu Gutachtern in Assessment-Centern kann diesen Führungskräften jedoch schonend beigebracht werden, worauf es bei einer modernen Führung ankommt. Durch die Anwendung dieser Kriterien bei der Beobachtung von Bewerber:innen werden diese dann auch noch eingeübt, ohne dass sich die Führungskräfte allzu sehr auf die Schulbank zurückbeordert fühlen müssten.

Noch wichtiger – Personaleinstellungen und Beförderungen sind eine heikle Angelegenheit: Persönliche Geschmäcker, Abteilungsegoismen, Nepotismus sowie berufliche Vorprägungen auf Seiten der Entscheidungsträger:innen spielen eine wichtige Rolle. Das ist ein idealer Nährboden für heftige mikropolitische Auseinandersetzungen, die noch dadurch verschärft werden, dass es häufig keine definitive Entscheidungsinstanz für Personaleinstellungen gibt. In dieser Situation bietet das Assessment-Center eine formalisierte Möglichkeit, um Einstellungsentscheidungen unter weitgehend unparteiischen Bedingungen zu fällen.

Betroffene Führungskräfte können über die Rolle des Assessors in den Entscheidungsprozess eingebunden werden, um sich selbst von der Neutralität und Sachorientierung des Einstellungsverfahrens zu überzeugen. Mit Hinweisen auf die „Objektivität“ und „Rationalität“ des Assessment-Centers kann Kritik an getroffenen Entscheidungen effizient abgewiesen werden. Sollte eine Anzahl von Bewerber:innen floppen, kann man nicht eine einzelne Führungskraft dafür verantwortlich machen, sondern das Verfahren oder die eingesetzten Berater:innen: Man habe ja die Kandidatin Müller ausgewählt, weil sie in allen Übungen und Gesprächen die beste Punktzahl bekommen habe und man deswegen nicht habe erwarten können, dass sie in der Praxis so versage.[2]

Es geht also beim Einsatz von Assessment-Centern vorrangig um eine Ruhig­stellung der Organisation angesichts hochriskanter Entscheidungen einerseits sowie um die Ermöglichung einer effizienten Schuldabweisung für die beteiligten Führungskräfte andererseits. Die Bewerber:innen selbst und ihre Qualitäten spielen eigentlich nur eine untergeordnete Rolle. Dieses Verfahren der Ruhigstellung funktioniert natürlich nur so lange, wie alle Betroffenen von der Objektivität des Assessment-Centers überzeugt sind oder wenigstens so tun als ob. Das bedeu­tet auch, dass die Kritik an dem Auswahlverfahren möglichst klein gehalten werden muss, nicht weil es um die Qualität der Bewerber:innen geht, sondern weil man keine adäquaten Alternativen zur Ruhigstellung in solch hochriskanten Entscheidungssituationen wie Einstellungen hat. Übrigens: Die oben erwähnte Forschungsarbeit über das Assessment-Center bei den Vertriebsmitarbeiter:innen liegt sicher verwahrt und für die Öffentlichkeit nicht zugänglich in den Stahlschränken des Unternehmens. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

[1] Ain Kompa: Assessment Center. Bestandsaufnahme und Kritik. München, Mering 1999.
[2] Oswald Neuberger: Assessment Center. Ein Handel mit Illusionen. In: Charles Lattmann (Hrsg.): Das Assessment Center Verfahren der Eignungsbeurteilung. Heidelberg 1989, S. 291–307.

Autor
Stefan Kühl

Prof. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

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Kommentare (2)

  1. Frank Druhm sagt:

    Ich mache zwei ergänzende Anmerkungen zur Funktion und Historie solcher Center.
    Das Assesmentergebnis ist der zentralen Personalabteilung bekannt. Die Zuordnung der erfolgreichen Kandidaten auf bestimmte Arbeitsposten durch diese Abteilung ist auch ein Ausdruck von Personalführung über die erwarteten Karrierechancen. Selbst ohne dass das Prüfungsergebnis offiziell veröffentlicht wird, hat die erste Einordnung eine Signalwirkung. Die wiederum beeinflusst qualitativ den Weg der Person. Die Möglichkeit einer self-fulfilling prophecy wird gestartet. Selbst das gedachte Korrektiv eines Beurteilungswesens steuert wenig dagegen, sondern nimmt meistens die personale Grundidee der Leistungsfähigkeit auf.
    Übrigens haben Assessment Center eine historische Wurzel im Militär. Bei der Bundeswehr hießen sie für Offizierbewerber „Psychologischer Test“. Und das war bereits Fortsetzung einer Tradition.

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  2. Peter Dieng sagt:

    Wenn die ursprünglich im Militär eingesetzten Assessmentcenter weitere Kleinkriege in Unternehmen verhindern, diverse Schützengräben zuschütten, also insgesamt der Befriedung von Organisationen dienen und wenn sie als unbewusste Begleiterscheinung auch noch Führungskräfte schulen, dann ist schon etwas gewonnen, auch wenn ich mich als Bewerber ungern für diese Ziele hergeben möchte, wenn ich am Ende doch ausgemustert werde und wenn ich für meinen Aufwand bei dieser fremdnützigen Führungskräfte- und Organisationsentwicklung in einem Unternehmen, mit dem ich nichts am Hut habe, nur Auslagen ersetzt bekomme, mit einem Butterbrot abgespeist werde. Andererseits verwischt die Legitimation durch Verfahren per Assessmentcenter die Verantwortung der einzelnen Führungskraft, die eigentlich bezahlt wird dafür, dass sie Verantwortung trägt. Aber wenn’s dem Frieden dient. Friedlich bleibt’s jedenfalls solange, wie die Leute nicht wissen, was der unverantwortlich Verantwortliche monatlich verdient. Mich stört am Assessmentcentern, dass man so tut, als nähme man darin die Realität des späteren Unternehmensalltags vorweg. Aber tatsächlich ist es bei Licht betrachtet nur eine Show, eine Art Improvisationstheater, die für ein Publikum aufgeführt wird. Wer hier hochmotiviert ist, hat Spaß an Show und Theater, aber nicht unbedingt daran, eine Leistung für einen Kunden zu erbringen, die dem Kunden so viel wert ist, dass der dafür eine Rechnung bezahlt. Leute, die sich durch das echte Bedürfnis eines Kunden motivieren lassen, wird man durch ein Assessmentcenter nicht entdecken. In jedem Fall aber solche, die bei Abgasskandalen mitmachen, also teamfähig sind in einem gewissen Sinne, was das Unternehmen natürlich auch befriedet, eine Zeit lang wenigstens, bis einer von außen Interesse zeigt am Betriebsfrieden und woher er kommt. Das kriegt man in der Tat mit Vetternwirtschaft nahezu gleich gut hin. In der Tat stört die Vetternwirtschaft den Frieden aber mehr, zumindest brodelt es unter der Oberfläche, weil der Schein fehlt, es hätte eine Bestenauslese gegeben durch ein unbestechliches Verfahren, das alles und jeden legitimiert, weil man sich die Legende erzählt: Nur die Stärksten haben das Assessmentcenter überlebt. Survival of the fittest. Aber wir wissen inzwischen aus der Evolution: Es überleben die Anpassungsfähigsten. So ist es auch im Assessmentcenter. Anpassung dient auch dem Frieden in der Sardinenbüchse Betrieb.

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