Die Forderung nach Authentizität ist im Managementdiskurs und in der Wirtschaftspresse kaum noch zu überhören. Organisationen wollen als Mitarbeiter „Typen, nicht Stereotypen“, „Leute, die sich treu bleiben“, „sich nicht verbiegen lassen“ und „morgens noch in den Spiegel schauen können“.[1] Angestellte sollen sich, so der Gedanken, als Erstes selbst erkennen, sich authentisch verhalten und auf diese Weise auch andere auf ihrem Weg zu einem authentischen Verhalten unterstützten.[2]
Was steckt hinter dieser auffälligen Zelebrierung von Authentizität? Es verlangt nach einer Erklärung, dass man bei – sagen wir mal – Fließbandarbeitern, Paketlieferanten oder Putzkräften in der Regel nicht auf den Gedanken kommt, ein „authentisches“ Verhalten zu verlangen, während die Forderung nach Authentizität bei Managern, Politikern oder Beratern selbst bei akuter Schwerhörigkeit nicht zu überhören ist.[3]
Bei der Forderung nach Authentizität geht es offenbar um die Differenz von Rolle und Person in Organisationen. Von Fließbandarbeitern, Paketlieferanten oder Putzkräften scheint die Vorstellung zu herrschen, dass die Rolle so geringe Darstellungsmöglichkeiten für die Personen beinhaltet, dass sich die Frage nach Authentizität im Verhalten gar nicht erst stellt. Derweil beinhalten die Rollen von Managern, Politikern oder Beratern so viele individuelle Darstellungsoptionen für die sie ausfüllenden Menschen, dass es durchaus möglich ist, persönliche Noten zu setzen.
Die Sorge der Authentizitätsanhänger scheint hier zu sein, dass sich Personen aufgrund der Rollenanforderung zu sehr verbiegen, aber vielleicht sollte man an dieser Stelle das Loblied der „strategischen Kommunikation“ anstimmen. Vieles spricht dafür, dass die Qualität der Arbeit in Organisationen nicht so sehr von der Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit der Mitglieder in der Organisation abhängt. Entscheidend ist vielmehr die Professionalität, mit der Mitarbeiter ihre Rollen ausüben.[4] Zu dieser Professionalität in der Rollenausübung gehört unter anderem die Fähigkeit, sein eigenes Verhalten an der einen oder anderen Stelle zu dramatisieren. Die Chirurgin, der Geigenspieler oder die Polizistin können bei Einsätzen gezwungen sein, eine „dramatische Darstellung“ zu bieten, um ihre Rolle gut ausüben zu können.[5] Das mag in vielen Fällen zwar nicht authentisch sein, weil es eine Anforderung der Rolle ist, die nicht dem Charakter der Person entspricht. Für die Organisation ist diese Form der „Verstellung“ aber zweifellos funktional.
Auch wenn man sich durch die Überlegungen nicht überzeugen lässt – in letzter Konsequenz hilft der an andere gerichtete Appell nach Authentizität nicht. Er treibt die Adressaten dieser Forderung lediglich in ein „Sei-authentisch-Paradox“. Wie auch beim „Sei-spontan-Paradox“ existiert beim „Sei-authentisch-Paradox“ das Problem, dass etwas eingefordert wird, das nicht auf Anforderung produziert werden kann.[6] Schlimmer noch: Je stärker Authentizität eingefordert wird, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie sich ausbildet. Die Aufforderung, authentisch zu sein, oder auch nur das Wissen, dass man im Hinblick auf „Authentizität“ beobachtet wird, führt zu einem Phänomen, das der Soziologe Erving Goffman als „Ich-Befangenheit“ bezeichnet hat.[7] Man richtet seine Aufmerksamkeit immer mehr auf sich selbst und beobachtet sich daraufhin, ob man authentisch wirkt. Damit entfremdet man sich immer mehr von der Interaktion und die Wahrscheinlichkeit, dass man authentisch wirkt, reduziert sich noch weiter. Kurz: Je mehr man versucht, authentisch zu wirken, desto weniger authentisch ist man.[8]
[1] So die Aufzählung des selbst dem Konzept der Authentizität kritisch gegenüber eingestellten Reinhard K. Sprenger in Reinhard K. Sprenger: Das anständige Unternehmen. Was richtige Führung ausmacht – und was sie weglässt. München 2015, S. 270.
[2] Siehe nur für eine kaum noch zu überblickende Literatur beispielhaft Bill George: Authentic Leadership. Rediscovering the Secrets to Creating Lasting Value. Hoboken 2003.
[3] Siehe speziell zur Forderung der Authentizität bei Politikern Thomas Noetzel: Authentizität als politisches Problem. Ein Beitrag zur Theoriegeschichte der Legitimation politischer Ordnung. Berlin 1999.
[4] Niklas Luhmann: Gefahr oder Risiko, Solidarität oder Konflikt. In: Roswita Königswieser, Matthias Haller, Maas (Hrsg.): Risiko-Dialog. Zukunft ohne Harmonieformel. Köln 1996, S. 38–48, hier S. 45.
[5] Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München 1983, 30ff.
[6] Siehe zu Paradoxien im Management allgemein Richard Farson: Management of the Absurd. Paradoxes in Leadership. New York 1997.
[7] Erving Goffman: Alienation from Interaction. In: Human Relations 10 (1957), S. 47–59, hier S. 50.
[8] Die Gedanken habe ich zum ersten Mal in einer Untersuchung zu Coaching und Supervision herausgearbeitet. Siehe S. Kühl: Coaching und Supervision (wie Anm. 30), 145f.