Viele Organisationen träumen davon, wie Bewegungen zu funktionieren. Strukturvertriebe – egal ob sie Küchenmaschinen, Nahrungsergänzungsmittel oder Kryptowährungen zu verkaufen suchen – tun so, als wenn sie eine Bewegung sind, in der es darum geht, aus der jetzigen Welt eine bessere zu machen. Fitnessstudios, die einen neuen Gymnastikkurs ersonnen haben, stellen sich selbst als Teil einer sich weltweiten stretchenden Sportbewegung dar. Politiker legen in ihrer Außendarstellung darauf Wert, dass sie nicht von einer schnöden Partei zum Sieg getragen wurden, sondern von einer organisationsübergreifenden Bewegung.
Organisationen versuchen dabei, an dem in der Regel mit positiven Assoziationen verbundenen Systemtypus der Bewegung zu parasitieren. Auch wenn die Identifizierung mit den einzelnen Bewegungen – man denke nur an die Arbeiterbewegungen, an nationalistische Bewegungen, faschistische Bewegungen, Friedensbewegungen, Frauenbewegungen, Studentenbewegungen oder die Schwulen- und Lesbenbewegungen – gering sein mögen, so würden manche Organisationslenker doch gerne etwas von deren Dynamik, Flexibilität und Mobilität in ihrer eigenen Organisation mobilisieren.
Stärken und Schwächen von Bewegungen als Strukturform
Der Charme von Bewegungen leuchtet unmittelbar ein. Die Zwecke sind für die Mitglieder so attraktiv, dass sie bereit sind, sich für diese mit hohem Engagement einzusetzen. Egal ob es sich dabei um die Verhinderung einer Aufrüstungsspirale, die Gleichstellung der Geschlechter oder die Schaffung einer rassenreinen Gesellschaft handelt – es ist die Attraktivität dieser Zwecke für die Mitglieder, die dazu führt, dass diese nicht nur bereit sind, auf eine Entlohnung zu verzichten, sondern die „gute Sache“ häufig sogar noch mit Spenden unterstützen. Auf eine Hierarchie kann in Bewegungen indes verzichtet werden, weil die Identifikation so stark ist, dass eine Kontrolle der Leistungserbringung über Hierarchien nicht nötig ist.[1]
Auf der anderen Seite fällt die Schwäche von Bewegungen auf. In der Regel lässt nach wenigen Jahren, häufig auch schon nach wenigen Monaten das Engagement nach. Viele Sympathisanten lassen sich nicht mehr so leicht für Demonstrationen mobilisieren und die Gruppierungen, die sich auf dem Höhepunkt gebildet haben, lösen sich auf. Zwangsläufig lässt die Aufmerksamkeit für die Bewegung in den Massenmedien nach, was die Mobilisierungsprobleme weiter verschärft.
Aber angesichts dieses ehernen Gesetzes der abnehmenden Bedeutung von Bewegungen gibt es eine bewährte Überlebensstrategie – sie bilden Organisationen aus, die die Sache weitertreiben.[2] Egal welche Bewegungen man sich ansieht – die frühe Arbeiterbewegung in Deutschland oder Großbritannien, die faschistische Bewegung in Italien nach dem Ersten Weltkrieg oder die Friedensbewegung der 1980er Jahre –, immer haben sich aus diesen Phänomenen heraus Organisationen gebildet, die irgendwann angefangen haben, sich über das Einwerben von Spenden oder Zuschüsse zu finanzieren um damit hauptberuflich tätige Mitarbeiter zu bezahlen. Diese Organisationen existieren weiter, auch wenn sich die Bewegungen faktisch aufgelöst haben.
[1] Das Argument basiert auf meine Überlegungen zu den Unterschieden von Organisationen und Bewegungen; siehe Stefan Kühl: Gruppen, Organisationen, Familien und Bewegungen. Zur Soziologie mitgliedschaftsbasierter Systeme zwischen Interaktion und Gesellschaft. In: Bettina Heintz, Hartmann Tyrell (Hrsg.): Interaktion – Organisation – Gesellschaft revisited. Sonderheft der Zeitschrift für Soziologie. Stuttgart 2015, S. 65–85, 70f.
[2] Siehe Mayer N. Zald, Robert Ash: Social Movement Organizations: Growth, Decay and Change. In: Social Forces 44 (1966)den klassischen Text