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Der ganz formale Wahnsinn

Bilanzfälschung: Wer am besten trickst, gewinnt

  • Stefan Kühl
  • Freitag, 2. Dezember 2022
bilanzfaelschung

Bilanzfälschungen sind selten einfach individuelle Vergehen, sondern lassen sich meist auf die Lage von Kapitalmärkten zurückführen. Dabei schaffen sie eine doppel­te Wirklichkeit, mit der risikokapitalf­inanzierte Unternehmen ihre Schauseite aufhübschen.

Bilanzskandale beschädigen das Vertrauen in das Management von Unternehmen. Auch nur vage Andeutungen einer „Enronitis“ – die nach dem spektakulär gescheiterten US-Energiekonzern benannte Tendenz von Unternehmen, ihre Zahlen besser dazustellen, als sie wirklich sind – versetzen Börsenaufsicht, Wirtschaftsprüfer und Unternehmensmanagement in wilde Hektik.[1] Manager*innen, die ihr Zahlenwerk zu sehr manipuliert haben, werden medienwirksam in Handschellen dem Untersuchungsrichter vorgeführt. Wirtschaftsprüfer geloben, Abbitte für ihre fehlende Aufmerksamkeit in der Vergangenheit zu leisten, und verschärfen ihre Qualitätssicherung. Die Börsenaufsicht erfindet eine Reihe neuer Regeln, um den verängstigten Kapitalanlegern zu signalisieren, dass man alles tut, um das Problem einer allzu fantasievollen Bilanzführung und -prüfung in den Griff zu bekommen.

Unternehmen in der Wachstumsfalle

Dabei wird so getan, als wäre die Bilanzführung ein Problem der Überwachung und Bestrafung von Managerinnen, Controllern und Wirtschaftsprüfer*innen. Wenn man nur genügend sündige Manager an den Pranger stellt, viele neue Regeln für Wirtschaftsprüfungsgesellschaften schafft und die Börsenaufsicht mit neuen Stellen ausstattet, würde man, so die Logik, das Vertrauen der Anleger schon wiedergewinnen. Die mehr oder minder symbolischen Aktionen zur Gewinnung des Anlegervertrauens verkennen jedoch, dass die kollektive Empörung über die kreative Buchführung von Unternehmen die fast zwangsläufige Nebenfolge eines zusammenbrechenden Kapitalmarktes ist und sich dieses Thema häufig von allein erledigt, sobald der Aktienkurs wieder nach oben steigt.

Die fantasievollen Formen der Bilanzkosmetik lassen sich darauf zurückführen, dass das Geschäftsmodell von risikokapitalfinanzierten Unternehmen auf einem permanenten Nachfluss von Geld aus dem Kapitalmarkt aufgebaut ist. Unternehmen, die auf die Finanzierung durch Business Angels, Risikokapitalgesellschaften oder durch die Börse angewiesen sind, müssen mit aller Gewalt verhindern, dass sie Signale aussenden, die den Kapitalmarkt beunruhigen könnten. Das Ausbleiben von Überweisungen durch die Risikokapitalgeber, die Verminderung der Möglichkeit, über einen Börsengang neues Geld einzusammeln, oder das Verfallen der Unternehmensakquise- und Refinanzierungswährung „Aktie“ könnte das schnelle Ende eines kapitalmarktorientierten Unternehmens bedeuten.

Wenn eine neue „heiße Technik“ identifiziert ist und Anleger Interesse an dieser Technik entwickeln, wird von Unternehmen erwartet, dass sie schnell wachsen – auch auf Kosten kurzfristiger Profitabilität. Der Glaube ist, dass sich nur derjenige, der schnell Marktanteile erobert, auch durchsetzen wird. Die Unternehmen geraten dadurch in eine Wachstumsfalle. Sie sind gezwungen, international weiter zu expandieren und ihr Produktspektrum auszudehnen, weil sie sonst ihre hohe Marktkapitalisierung nicht rechtfertigen können. Da ihr Überleben im Gegensatz zu primär an Produktmärkten orientierten Unternehmen davon abhängt, dass sie eine regelmäßige Nachfinanzierung über den Kapitalmarkt bekommen, ist die Aufrechterhaltung der Wachstumslogik von zentraler Bedeutung.

Gute Zahlen als hübsche „Schaufensterdekorationen“

Die Wachstumsfalle für risikokapitalfinanzierte Unternehmen hat zur Folge, dass diese besonders in Boomphasen dem Kapitalmarkt, den Medien und der Politik permanent Meldungen über zunehmende Nutzerzahlen, Mitarbeiterwachstum, Umsatzsteigerungen und Ergebnisverbesserungen liefern müssen, um ihre Legitimität aufrechtzuerhalten. Dies führt dazu, dass Unternehmensstrategien nach dem Anreiz gestrickt werden, genau die Kriterien, die ihre „Performance“ beweisen, zu erfüllen. Es besteht die Verlockung, „Schaufensterdekorationen“ zu kreieren, um die nächsten Finanzierungsrunden zu erreichen.

In einer Phase, in der immer mehr Anleger nach Aktien dieser schnell expandierenden Unternehmen verlangen, herrscht wenig Sensibilität für diese Schaufensterdekorationen vor. Selbst wenn man eine besonders tolerante Auslegung der eigenen Zahlen bekannt gibt, verlieren sich diese Neuigkeiten in einer Vielzahl von Erfolgsnachrichten anderer Unternehmen. Aber jeder Boom am Risikokapitalmarkt läuft sich tot – das war bei den Minicomputern in den 1970er Jahren der Fall, bei den PC-Firmen in den 1980er Jahren und bei den Internet- und Telekommunikationsunternehmern in den 1990ern.

Einschneidende Verluste an den Börsen für Wachstumsunternehmen aber auch an denen für Standardwerte sind häufig die letzten Ausläufer eines zu Ende gehenden, durch Risikokapital getriebenen Zyklus’. In der Phase des Niedergangs kommt es nicht mehr primär auf die Meldung steigender Nutzer- oder Umsatzzahlen an, sondern auf die Beruhigung des Kapitalmarktes durch die Erklärung, dass das Unternehmen im operativen Geschäft profitabel ist. Und dieser Blick auf den Profit führt dazu, dass genauer darauf geachtet wird, wie die Zahlen eines Unternehmens eigentlich zustande kommen.

Die Spätfolgen kreativer Buchführung

Der Kapitalmarkt, der während der Boomphase fast jede Trickserei verzeiht, reagiert plötzlich sensibel, wenn auch nur der Anschein umstrittener Buchungsmethoden bekannt wird oder ein Unternehmen gar seine eigenen Zahlen korrigieren muss. Medien, die sich vorher nur für die Erfolgsnachrichten von Wachstumsunternehmen interessiert haben, entdecken plötzlich, dass kreative Bilanzführung ein Thema ist.

Je nachdem, wie stark ein Unternehmen sich vom Kapitalmarkt abhängig gemacht hat, wirken sich die Spätfolgen einer fantasiereichen Buchführung unterschiedlich stark aus. Sicherlich: Die durch offensichtlich werdende kreative Bilanzführung entstehenden Kursverluste sind auch für primär auf den Verkauf von Produkten ausgerichtete Unternehmen nicht angenehm. Sie stellen aber in der Regel nicht die Überlebensfähigkeit des Unternehmens in Frage. Solange das Unternehmen durch den Verkauf der Produkte und Dienstleistungen mehr einnimmt als es ausgibt, ist seine Liquidität nicht unmittelbar bedroht. Bei primär am Kapitalmarkt orientierten Unternehmen wirkt sich die Erosion des Vertrauens der Kapitalanleger jedoch häufig verheerend aus. Zu diesen kapitalmarktorientierten Firmen gehören nicht nur die kleinen, aber schnell wachsenden Firmen, die über Risikokapital neue Märkte erobern wollen, sondern auch „gestandene Unternehmen“, die den Boom an den Börsen dafür genutzt haben, eine über den Kapitalmarkt finanzierte Expansionsstrategie einzuschlagen. Durch das Ausbleiben von Nachschüssen aus dem Kapitalmarkt wird der Spielraum zur Liquiditätssicherung geringer und mühsam aufgebaute Finanzierungsgerüste stürzen zusammen.

Ehemalige, durch Risikokapital finanzierte Modell-Unternehmen sind nicht deswegen den Bach hinuntergegangen, weil nach dem Aufdecken der Bilanzierungstricksereien zutiefst marode Unternehmen zum Vorschein gekommen wären. Sie sind vielmehr deswegen gescheitert, weil das Vertrauen am Kapitalmarkt durch die offensichtlich gewordene kreative Buchführung verloren gegangen war und damit das am Kapitalmarkt orientierte Geschäftsmodell nicht mehr aufgehen konnte. Oder noch provokanter ausgedrückt: Die tricksenden Unternehmen gingen nicht deswegen pleite, weil hinter der Fassade Chaos herrschte, sondern weil das Management die Bilanztricksereien nicht gut genug organisiert hatte. Das Management der doppelten Wirklichkeit, der Betriebsrealität einerseits und der Außendarstellung andererseits, war einfach nicht professionell genug.[2]

[1] Zur Bilanzforschung bei Enron Malcolm S. Salter: Innovation Corrupted. The Origins and Legacy of Enron’s Collapse. Cambridge, Mass. 2008.

[2] Eine ausführliche Analyse der Funktion von Bilanzfälschungen findet sich in Stefan Kühl: Exit. Wie Risikokapital die Regeln der Wirtschaft verändert. Frankfurt a.M., New York 2003.

Stefan Kühl

Prof. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

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