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Der ganz formale Wahnsinn

Blinde Flecke: Weswegen man nie alles sehen kann

  • Stefan Kühl
  • Donnerstag, 24. November 2022

Muss man immer alles im Blick haben? Nein! Organisationen sollten ihre blinden Flecken pflegen, um sich durch den selektiven Blick auf ihre Umwelt gegen die Komplexität der Welt zur Wehr zu setzen.

Wenn Praktiker über blinde Flecke reden und schreiben, dann geht es darum, dass sich im Unterbewusstsein von Menschen wichtige Erfahrungen verbergen. Die Bezugnahme auf die Tradition der Freudianischen Psychoanalyse ist unübersehbar. Der Mensch, so die Grundannahme, bildet „Abwehrmechanismen“ wie Leugnung oder Verdrängung aus, mit denen dieser blinde Fleck erhalten bleibt. Der blinde Fleck ist dann, so die für den Professionellen ermutigende Aussage, dem therapeutischen oder beraterischen Fachpersonal zugänglich, und dadurch, dass er von den Experten aufgedeckt wird, können wichtige Impulse für den Klienten gesetzt werden.

Die systemtheoretische Soziologie – und die durch sie angeregten Beratungsansätze – interessieren sich nicht für diese Latenzen im Bewusstsein von Menschen. Als Systemtheoretiker oder Systemtheoretikerin kann und will man nicht in den Kopf von Menschen hineinschauen und überlässt die Bestimmung solcher blinden Flecke der Medizin, der Wahrnehmungspsychologie oder der Psychoanalyse. Stattdessen interessiert sie sich dafür, wie soziale Systeme blinde Flecken produzieren können.

Selektives Wahrnehmen verursacht blinde Flecke

Jedes soziale System verfügt über „Tricks“, sich beständig und berechenbar zu machen. Bei Paarbeziehungen sind dies beispielsweise ausgeprägte und durch permanente Wiederholungen verfestigte Normen, die bestimmen, wie man sich untereinander und gegenüber anderen Paaren zu verhalten hat. In Freundescliquen, um ein anderes Beispiel zu nennen, herrschen häufig implizite Regeln, wie man sich darzustellen hat, wer wann das Wort ergreifen kann und wer welche Rolle in der Gruppe übernehmen soll. In Organisationen bestimmen die Formalstruktur sowie die – teilweise in Konflikt dazu stehenden – organisationskulturellen Erwartungen, wie sich Organisationsmitglieder zu verhalten haben.

Durch diese Normen, Regeln, Strukturen und Kulturen – man verzeihe mir diese ungeordnete Aufzählung – entwickeln Liebespaare, Freundesgruppen und Organisationen einen hoch selektiven Blick. Sie beobachten einiges, besonders natürlich sich selbst. Aber vieles entzieht sich ihrer Observation. Sie entwickeln eine hohe Sensibilität für Bestimmtes und eine ausgeprägte Insensibilität für alles Übrige. Ein deutscher Automobilkonzern interessiert sich nicht für die Änderung der Agrarbestimmungen in Frankreich (und hat auch keine Routinen, um diese wahrzunehmen). Eine Internetfirma hat kein Auge für die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt für Reinigungsfachkräfte – außer sie bietet virtuelle Reinigungstätigkeiten an. Eine Firma, die keine Schichtarbeit nötig hat, entwickelt angesichts der fehlenden Notwendigkeit dazu keinerlei Gewohnheiten, um die neuesten Studien zur Belastung bei Nachtarbeit wahrzunehmen.

Diese Latenz in der Beobachtung hängt – und das ist ein wichtiger Unterschied zur Psychoanalyse – nicht an konkreten Menschen. Das Interessante beispielsweise bei der Betrachtung von Organisationen ist, dass sich die blinden Flecken in der Regel auch bei wechselndem Personal langfristig halten. Der Spruch „Wenn Siemens wüsste, was Siemens weiß“, mit dem auf das von Externen beobachtete verborgene Innovationspotenzial des Konzerns hingewiesen wurde, hat deshalb eine gewisse Weisheit.

Blinde Flecke können nur durch andere beobachtet werden

Bei der Observation lassen sich blinde Flecke nicht vermeiden – eine Erkenntnis, in der sich die Anatomie und die Soziologie einig sind. Die Unterscheidungen, die ein Beobachter nutzt, können vom Beobachter selbst nicht beobachtet werden. Sie sind, um den Gedanken fortzuführen, der blinde Fleck des Beobachters. Oder noch grundlegender mit Niklas Luhmann ausgedrückt: Die eigene Unterscheidung wird als blinder Fleck benutzt, der überhaupt erst die „Möglichkeit des Beobachtens organisiert und nur im Tausch gegen einen anderen Blindfleck ersetzt werden kann“.[1]

Dieses hohe Maß an Selektivität in der Beobachtung ist funktional, weil soziale Systeme sich nur so gegenüber ihrer Umwelt abgrenzen können. Organisationen – und natürlich auch Paarbeziehungen, Freundesgruppen, soziale Bewegungen und ganze Gesellschaften – können nur existieren, weil sie sich durch ihre Strukturen selbst einen hoch selektiven Blick ermöglichen und sich gerade mit den von ihnen gepflegten blinden Flecken gegen die Komplexität der Welt abschotten können. Siemens verschlief beispielsweise sowohl die Entwicklung der Faxgeräte als auch die Entwicklung der Datenübertragung über das Internet, weil das Management in diesen Anwendungsfeldern vorher erfolgreiche Lernprozesse etabliert hatte. Mit der Entwicklung von Faxgeräten wurde bei Siemens frühzeitig experimentiert. Sie hätten ohne große Schwierigkeiten auf den Markt gebracht werden können. Weil jedoch Siemens bei der Entwicklung des Telexgeschäfts erfolgreich war und die Lernprozesse dort besonders intensivierte, wurde das Geschäft mit den Faxgeräten anderen Unternehmen überlassen. Im Nachhinein mag man klagen und hätte es vielleicht gern etwas anders gemacht – aber letztlich kommt eine Organisation nicht ohne derartige blinde Flecke aus.[2]

[1] Niklas Luhmann: Kommunikationssperren in der Unternehmensberatung. In: Niklas Luhmann, Peter Fuchs (Hrsg.): Reden und Schweigen. Frankfurt a.M. 1989, S. 209–227, S. 217.

[2] Stefan Kühl: Sisyphos im Management. Die vergebliche Suche nach der optimalen Organisationsstruktur. Frankfurt a.M., New York 2015, 151f.

Stefan Kühl

Prof. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

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