Regelbrüche und Gesetzesverstöße sind aus einer organisationswissenschaftlichen Perspektive alles andere als überraschend. Sie finden sich – wenn man nur genau hinsieht – in jedem Unternehmen, jeder Verwaltung, jeder Polizei, jeder Armee, jedem Krankenhaus, jedem Ministerium. Organisationen werden mit widersprüchlichen Anforderungen konfrontiert, die nicht alle durch Entscheidungen auf der Formalebene gelöst werden können. Deswegen bilden sich in Organisationen kleine Schleichwege jenseits des offiziellen Ablaufs aus.
Der Fachbegriff für diese in jeder Organisation zu findende Form von Regelbrüchen lautet „brauchbare Illegalität“. Letztlich ermöglicht erst die brauchbare Illegalität, dass sich in Organisationen Regeln trotz ihrer Starrheit halten können. Regeln müssen von Zeit zu Zeit verletzt werden, damit sie als Regeln weiterexistieren können. Nur indem Organisationsmitglieder permanent situativ ausbalancieren, ob sie den formalen Strukturen entsprechend handeln oder ob sie informale Wege gehen, erreichen Organisationen überhaupt erst ihre schnelle Anpassungsfähigkeit.[1]
Nicht umsonst gilt der Dienst nach Vorschrift als eine der effektivsten Sabotageformen in Organisationen. Man erinnert sich beim Dienst nach Vorschrift an die überholten, aber nie offiziell aufgehobenen Regeln und blockiert durch deren Anwendung die Organisation. Man hält sich an die vorgeschriebenen Dienstwege und verweigert, zur schnellen Entscheidungsfindung Abkürzungen zu nehmen. Man lässt jeden Vorschlag prüfen, ob dieser auch mit den existierenden formalen Regeln abgestimmt wurde. Man besteht darauf, dass alle Regeln und Anweisungen buchstabengetreu von den Mitarbeitern ausgeführt werden. Die Organisation würde durch die strikte Orientierung an den formalen Strukturen komplett lahmgelegt werden.[2]
Regelbrüche sind immer dann prekär, wenn nicht nur gegen die formalen Bestimmungen der Organisation verstoßen wird, sondern dabei auch staatliche Gesetze gebrochen werden. Man denke an die Manipulationen an den elektronischen Fahrtenschreibern, um die Lenkzeiten für die LKW-Fahrer zu erhöhen, an die verbotene Überbrückung von Sicherungen von Produktionsmaschinen mithilfe von Drähten, um auch bei einem Schaden der Maschine die Produktion aufrechterhalten zu können, oder an die kleinen Gefälligkeiten gegenüber Betriebsräten, die, wenn sie denn öffentlich werden, vor dem Gesetz als Untreue zu werten sind. In solchen Fällen greifen bei Bekanntwerden nicht nur die Regeln der Organisation, sondern auch übergreifende staatliche Regelungen.
Solche Fälle von Regelverletzungen sind empfindlich gegenüber der Aufdeckung von innen oder von außen. Werden die Strafverfolgungsbehörden eingeschaltet, gibt es, jedenfalls für die Organisationen in der westlichen Welt, kaum noch Möglichkeiten, die dann einsetzende strafrechtliche Prüfung zu unterbinden. Das systematische Schmieren von Auftraggebern, das große Elektronikkonzerne praktizieren, um an große Aufträge für den Bau von Kraftwerken, U-Bahnen oder Flughäfen heranzukommen, geht mit dem Risiko einher, dass eine Aufdeckung dieser Regelverletzung Ermittlungen nicht innerhalb, sondern außerhalb der Organisation in Gang setzt.
Beim Bekanntwerden eines Regelbruchs wird immer wieder die Frage gestellt, welcher „Vollidiot“ entschieden hat, den Erfolg einer Organisation so leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Aber regelabweichende informale Prozesse in Organisationen bilden sich meist – und das wird häufig übersehen – nicht durch eine Entscheidung eines Top-Managers oder eines Gremiums aus. Sie schleichen sich langsam ein. In der Regel wird nicht irgendwann offiziell entschieden, zur Erreichung der Ziele auch formal oder gesetzlich verbotene Mittel einzusetzen. Man experimentiert zuerst mit kleinen, kreativen Abweichungen, dann werden diese zu einer bewährten Praxis, die gar nicht mehr auf ihre Rechtmäßigkeit hinterfragt wird. Es etablieren sich Routinen, ohne dass es jemals einen von oben abgesegneten Masterplan zum Regelbruch oder zum Gesetzesverstoß gegeben hätte.
Aber auch wenn sich diese illegalen Routinen langsam einschleichen, so ist das Wissen über die Regelbrüche in der Organisation doch weit verbreitet. Egal ob man sich Skandale in der Pharmaindustrie anschaut, die Vertriebsoptimierung durch Schmiergeldzahlungen in der Elektronikindustrie, die Vorstöße gegen Umweltschutzgesetze durch Automobilkonzerne oder den Untergang von Kreuzfahrtschiffen – immer stellt sich im Nachhinein heraus, dass das Wissen über die Regelbrüche und Gesetzesverstöße an ganz verschiedenen Stellen der Organisation vorhanden gewesen ist. Es ist dann nur eine Frage der internen Recherche, die Wissensspuren bis zum Top-Management nachzuvollziehen.
Die Frage, warum trotzdem die vielfachen Hinweise auf illegales Handeln in den Hierarchien versandet sind, ist einfach zu beantworten. Die großzügigen Gesetzesinterpretationen und die kleinen Regelabweichungen sind für die Organisation funktional gewesen und wurden daher geduldet. Gleichzeitig haben die Führungskräfte – jedenfalls wenn sie geschickt sind – darauf geachtet, dass sie von diesen Praktiken offiziell nicht in Kenntnis gesetzt wurden, weil sie sonst für die Abstellung dieser Regelbrüche verantwortlich gewesen wären, womit aber dann wiederum die Einhaltung der Effizienz-, Kosten- und Terminvorgaben schwieriger geworden wäre. „Das will ich gar nicht wissen“ ist die Kurzformel, mit der Führungskräfte ihre Haltung gegenüber Untergebenen zum Ausdruck bringen, wenn diese so naiv sind, ihre Vorgesetzten mit Hinweisen auf eine brauchbare Illegalität in der Organisation zu belasten.
[1] Siehe dazu E. Friedberg: Le pouvoir et la règle (wie Anm. 184), S. 153.
[2] Diese Regeln orientieren sich an einem Handbuch, das im Auftrag von William J. Donovan, Direktor des United States Office of Strategy Services, dem Vorläufer des CIAs, auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkrieges erstellt wurde, um der mit den USA sympathisierenden Kräften in feindlichen Ländern zu ermöglichen die Arbeit in Organisationen zu sabotieren. Siehe US Office of Strategic Services: Simple Sabotage Field Manual. Washington 1944, 28f. Siehe zum Dienst nach Vorschrift als Streiktechnik, auch Michel Crozier: Le phénomène bureaucratique. Paris 1963, 247ff.