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Der ganz formale Wahnsinn

Disruption: Zur Konstruktion von Zeitdiagnosen

  • Stefan Kühl
  • Mittwoch, 7. Dezember 2022
disruption

Zeitdiagnosen, die auf radikale Veränderungsbedarfe hinführen, sind häufig in aller Munde. Doch wer von notwendigem disruptiven Wandel spricht, hat meistens nur eines im Sinn: Eine Managementmode verkaufen.

Jede Generation von Manager*innen scheint das Gefühl zu haben, in einer besonders schnelllebigen Zeit aktiv zu sein, und Beraterinnen tun alles, um sie in diesem Gefühl zu bestärken. Sie erzählen Managern, dass sie in einer durch Dynamik und Komplexität geprägten „Dynaxity-Welt“ leben. Sie verkünden, dass sich diese auf „hyperflexible Zeiten“ einstellen müssen. Und weil sie zu glauben scheinen, dass Managerinnen Gedanken nur behalten können, wenn diese in Form von Abkürzungen kommuniziert werden, wird mit Kurzformeln wie „VUKA Welt“ – oder im Englischen „VUCA World “ – darauf hingewiesen, dass sie sich in einem zunehmend volatilen, unsicheren, komplexen und ambiguen Umfeld bewegen.[1]

Was Zeitdiagnosen auszeichnet

Die Zutaten dieser mehr oder minder gut gemachten Zeitdiagnosen sind immer die gleichen.[2] Es ist die Rede von einer zunehmenden Verknappung der Rohstoffe, einer wachsenden Gefahr durch terroristische Anschläge und regional begrenzter Kriege, einer Zunahme von Naturkatastrophen, einem drohenden Öko-Kollaps, einer Zunahme von Verschuldung, Verknappung der Ressource Zeit und einer wachsenden sozialen Ungleichheit. Durch die Globalisierung seien neue Konkurrenten entstanden. Dazu gehörten nicht nur wie früher Japan und die ostasiatischen Tigerstaaten wie Südkorea oder Taiwan, sondern besonders auch China und Indien. Diese würden sich die durch die Digitalisierung ergebenden neuen technischen Möglichkeiten häufig schneller erschließen als Unternehmen in Nordamerika oder Europa. Dabei sei die Herausforderung, dass sich die Nachfrage immer mehr zu hochdifferenzierten Produkten und Dienstleistungen verlagere, die gerade auch von der Konkurrenz aus Asien geliefert werden können. Kunden wollten zukünftig ein „persönliches“ Auto, Computer oder Handy, das sehr weitgehend den eigenen Ansprüchen entspricht und sich möglichst auch noch von allen anderen vergleichbaren Produkten unterscheidet. Es wird das Zeitalter der Disruption ausgerufen, in der aufgrund neuer technischer Entwicklungen und neuen Spielern innerhalb kurzer Zeit existierende Produkte, Dienstleistungen oder Technologien verdrängt werden.

Diese Zeitdiagnosen – ob sie nun in ihrer Dramatisierung stimmen oder nicht – haben die Funktion, Organisationen für neue Managementkonzepte zu sensibilisieren. Durch gesellschaftliche Verwerfungen seien, so der Tenor, Organisationen gezwungen, ihre Vorgehensweise bei kurz- und langfristigen Planungen, beim Investieren und beim Reinvestieren, bei der Einstellung und Entlassung von Personal und beim Zusammenwirken von Abteilungen und Hierarchien grundlegend umzustellen. Wer sich dem durch die disruptiven Veränderungen notwendigen „Prozess der schöpferischen Zerstörung nicht stelle“ – so die übliche apokalyptische Beschreibung – riskiere die „Strafe des Untergangs“.[3]

Zeitdiagnosen haben die Funktion, Organisationen für neue Managementkonzepte zu sensibilisieren

Während man spätestens mit dem Scheitern des Staatssozialismus sich in der Politik vielerorts nicht mehr traut, das Wort „Revolution“ in den Mund zu nehmen, werden die Promotoren von Managementmoden nicht müde, die Notwendigkeit einer wahrhaftigen „Revolution“ in Organisationen zu beschwören.[4] Managementgurus, Organisationsberaterinnen und auch manche Organisationswissenschaftler zögern nicht, von der „Notwendigkeit für eine Revolution“, einer „echten Revolution“ oder gar einer „Kulturrevolution“ zu reden und zu schreiben.[5] An das Management gerichtet, erscheinen „Regieanweisungen für Revolutionäre“, „Manifeste für Business Revolutionen“ und „Handbücher für eine Managementrevolution“.[6] Angesichts der Forderung im Managementdiskurs nach einer solchen „permanenten Revolution“ wären, so die Feststellung von Beobachtern, Leon Trotzki, Wladimir Iljitsch Lenin oder Mao Zedong „grün vor Neid“ geworden.[7]

Wer Moden vorantreiben will, muss von Revolution sprechen

Solchen dramatisierenden Zeitdiagnosen in der Managementliteratur ist gemein, dass immer gleich auch Lösungen in Formen von Personen, Stellen, Konzepten oder gleich ganzen Organisationen mitgeliefert werden. Die Verkündung einer zunehmend disruptiven Welt ermöglicht es in den Wirtschaftsmedien die „Disrupter des Jahres“ zu küren, in Organisationen „Chief Disruption Officer“ zu benennen, Kongresse zu veranstalten, in denen „Disruption Potentials“ entwickelt werden können, und Beratungsfirmen in „The Disruption Consultancy“ umzubenennen. Die Ausrufung einer aus „Volatility“, „Uncertainty“, „Complexity“ und „Ambiguity“ besonderen „VUCA Welt“ ermöglicht es Personen – oder auch ganzen Beratungsfirmen – mit Begriffen wie „Vision“, „Understanding“, „Clarity“ und „Agility“ auch gleich eine „VUCA Lösung“ auszurufen.

Soweit so nachvollziehbar. Es spricht nichts dagegen, dass in Organisationen zur Begründung von Veränderungsnotwendigkeiten eine dramatische Lage geschildert wird und dabei auf die von Beratern zur Verfügung gestellten Bilder und Begriffe zurückgegriffen wird. Zur eigenen Beruhigung kann man aber Managern aus der Perspektive einer historisch informierten Organisationswissenschaft mitteilen, dass das als Abgrenzungsfolie dienende Bild einer stabileren, sicheren, einfacheren und eindeutigeren Gesellschaft lediglich eine Fiktion gewesen ist. Ein kurzer Blick auf die Anforderungen an Kolonialverwaltungen im späten 19. Jahrhundert, die ersten Automobilunternehmen Anfang des 20. Jahrhunderts oder politische Parteien nach Ende des Ersten oder Zweiten Weltkrieges reicht aus.

[1] Auf die Angabe von Literaturhinweisen verzichte ich hier. Auffällig bei der Verwendung der VUKA-Formel ist, dass in Unternehmen eine Kurzformel übernommen wurde, die im US-amerikanischen Militär entwickelt worden ist, um die veränderte Lage nach dem Ende des kalten Krieges zu beschreiben. Dabei wird so getan, als wenn die vermeintliche politische Stabilität zwischen der Aufspaltung in die Lage der Nato und des Warschauer Paktes sich auch in einer Stabilität der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen von Unternehmen widergespiegelt hätten.

[2] Siehe nur beispielhaft John P. Kotter: Accelerate. Building Strategic Agility for a Faster-Moving World. Boston 2014, 3ff.

[3] Siehe hier nur beispielhaft von Horst Wildemann: Agilität – Das Gegenteil von Pflichterfüllung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (9.10.2017).

[4] Siehe dazu Stefan Kühl: Wenn die Affen den Zoo regieren. Die Tücken der flachen Hierarchien. Frankfurt a. M., New York 2015, S. 18.

[5] So Tom Peters: Thriving on Chaos. Handbook for a Management Revolution. New York 1988, 3ff.; Michel Crozier: L’entreprise à l’écoute: Apprendre le management postindustriel. Paris 1989, S. 21. oder Hubert Landier: Vers l’entreprise intelligente. Dynamique du changement et mutation du management. Paris 1991.

[6] So Noel M. Tichy: Regieanweisung für Revolutionäre. Unternehmenswandel in drei Akten. Frankfurt a. M., New York 1995.; Michael Hammer, James Champy: Reengineering the Corporation. A Manifesto for Business Revolution. New York 1993. und „Handbücher für eine Managementrevolution“ Tom Peters: Thriving on Chaos. Handbook for a Management Revolution. New York 1988.

[7] John Micklethwait, Adrian Wooldrige: The Witch Doctors. Making Sense of the Management Gurus. London 1996, S. 14. Siehe zur Übernahme der Revolutionsrhetorik in der Managementliteratur auch David Brooks: Bobos in paradise. The new upper class and how they got there. New York 2000, S. 101.

Stefan Kühl

Prof. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

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