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Der ganz formale Wahnsinn

Familien: Über den Kontrast zu Organisationen

  • Stefan Kühl
  • Montag, 28. November 2022
Familie

Einige Organisationen verstehen sich als eine große Familie. Vergleicht man beide soziale Systeme, zeigen sich jedoch fundamentale Unterschiede. Was unterscheidet Organisationen von Familien und warum sollten Organisationen nicht versuchen, eine große Familie zu sein?

Familien funktionieren ganz anders als Organisationen. Während Organisationen dadurch entstehen und erhalten bleiben, dass sie ihre Mitglieder aus einem in der Regel sehr breiten Kreis von Bewerbern rekrutieren und diese bei Nichtkonformität auch wieder entlassen können, basiert die Bildung von Familien darauf, dass neue Mitglieder des Systems in den zumeist gegengeschlechtlichen Partnerschaften entweder durch Geburt oder Adoption eines Kindes angliedert werden, die bei Nichtkonformität nur schwer zu entfernen sind. Vereinfacht ausgedrückt: In Organisationen wird man durch Entscheidungen über den Eintritt zum offiziellen Mitglied, in Familien – jedenfalls im Fall der Kinder – qua Geburt oder Adoption.

Familien können nur schwer ihre Mitglieder entfernen

Bei Elternschaften können Mitgliedschaften nicht einfach aufgekündigt werden. Kinder können nicht per Entscheidung ausgeschlossen werden, wenn sie sich nicht entsprechend den Ansprüchen der Eltern verhalten. Und auch die eigene Kündigung der Familienmitgliedschaft durch die Kinder selbst fällt schwer. Kinder sind sich dieser Unmöglichkeit des Ausschlusses durchaus bewusst und nutzen dies mit spektakulären Widerstandsaktionen gegen ihre Eltern aus – mit der besonderen Vorliebe, dies bei großen Familienfesten oder in den Warteschlangen vor den Kassen des Supermarktes zu tun. Das Motto lautet: „Was soll schon passieren, die können mich ja nicht einfach entlassen!“

Indes ist die Auflösung einer Mitgliedschaft bei Partnerschaften der Eltern nicht nur vorstellbar, sondern – jedenfalls in der modernen Gesellschaft – die Regel. Aber auch wenn man auf den ersten Blick den Eindruck bekommen kann, dass eine Beziehung – ähnlich wie die Mitgliedschaft in einer Organisation – „kündbar“ ist, muss doch der besondere Charakter von Partnerschaften im Auge behalten werden. In einer Beziehung ist es nur schwerlich möglich, beim Gegenüber Verhaltensweisen einzuklagen, indem man ihm beziehungsweise mit der Trennung droht. Wenn die Fortführung der Partnerschaft unter die Bedingung gestellt wird, dass im Haushalt regelmäßig geputzt, vorsichtiger Auto gefahren oder auf weitere Liebesabenteuer mit anderen Geschlechtspartnern verzichtet wird, hat man es bereits mit deutlichen Krisenerscheinungen zu tun.

Familien sind letztlich eine „riskante Kopplung von Partnerschaft und Elternschaft“, weil die Logik der Partnerschaft eine ganz andere als die der Elternschaft ist.[1] Man mag der Vorstellung anhängen, dass eine Partnerschaft durch die Produktion möglichst vieler „Liebesfrüchte“ vervollkommnet wird, aber spätestens wenn die Kinder da sind, bemerkt man, dass partnerschaftliche Erwartungen an Zweisamkeit und tiefen zwischenmenschlichen Austausch schmerzhaft durch den alltäglichen Trubel des Familienlebens verdrängt werden. Die Anwesenheit von Kindern führt, ob man will oder nicht, zu einem Systemwechsel: Aus einer Liebesbeziehung wird eine Familie, und deren jeweiligen Systemlogiken sind hochgradig gegensätzlich gebaut.

Persönliche Kommunikation geht die Familie etwas an

Gerade wegen der Fragilität der Mitgliedschaft zwischen den am Konzept der Partnerschaft festhaltenden Eltern ist heute in Familien Intimkommunikation nicht nur in einem im Vergleich zur vormodernen Gesellschaft überraschend hohen Maße erlaubt, sondern geradezu gefordert.[2] Intimkommunikation bedeutet nicht, dass die Kommunikation in Familien durch ein permanentes Liebesgesäusel geprägt ist. Dafür gäbe es empirisch wenig Plausibilität. Vielmehr besagt Intimkommunikation, dass „alles, was eine Person betrifft,“ prinzipiell „für Kommunikation zugänglich ist“. Derweil könne Geheimhaltung, so Niklas Luhmann, von Eltern, aber auch von Kindern praktiziert werden, „aber sie hat keinen legitimen Status“. Man könne in der Familie „eine Kommunikation über sich selbst nicht ablehnen mit der Bemerkung: das geht Dich nichts an“.[3]

Die Entstehung der Familie als eigenes System fand im Übergang zur modernen Gesellschaft statt. Erzieherische, ökonomische, religiöse und medizinische Funktionen in der modernen Gesellschaft werden, so das klassische Argument, zunehmend auf jeweils einige spezialisierte Organisationen in Form von Schulen, Unternehmen, religiösen Vereinigungen und Krankenhäusern übertragen, während die Familie vorrangig nur noch auf „gegenseitiger Zuneigung“, „mitfühlendem Verständnis“ und dem „Gemeinschaftsgefühl ihrer Mitglieder“ basiert.[4] Weil politische, religiöse und wirtschaftliche Funktionen zunehmend außerhalb der Familien erfüllt werden, braucht – und dieser Gedanke ist zentral – bei der Eheschließung auf die „Verwandtschaftszusammenhänge“ des jeweiligen Partners keine Rücksicht genommen zu werden.[5]

Häufig ohne dass dies explizit vermittelt wird, lernt man, dass Organisationen und Familien ganz unterschiedlichen Logiken folgen. Während Sokrates für die hierarchisch strukturierte Gesellschaft noch ganz selbstverständlich davon ausging, dass die Anforderungen an die Führung einer Familie und einer Armee ähnlich seien, weil es darauf ankomme, sich Untergebene „folgsam und gehorsam zu machen“, „die Schlechten zu bestrafen, die Guten zu ehren“ und bei Untergebenen „gute Gesinnung gegen sich zu erwecken“, würde eine solche Position eines Vater oder einer Mutter in der modernen Gesellschaft gelinde gesagt Irritation hervorrufen.[6] Der Jugendliche, der in einer Organisation wie in einer Familie behandelt werden möchte, wird vermutlich von seiner Umwelt ähnlich skeptisch betrachtet werden wie der Manager, der seine Familie ähnlich führen möchte wie eine Organisation.

Die Soziologie macht auf die Spannungen aufmerksam

Während in den Selbstbeschreibungen von Familien und Organisationen nicht selten die Vereinbarkeit der Mitgliedschaft im eigenen System mit der Mitgliedschaft in anderen Systemen betont wird – Stichwort „wir sind ein familienfreundliches Unternehmen“ –, hebt die Organisationswissenschaft eher die Spannungen hervor, die sich daraus ergeben, dass Personen den Anforderungen unterschiedlicher sozialer Systeme ausgesetzt sind. Während im Zuge der Ausdifferenzierung von Organisationen wie Armeen, Unternehmen und Schulen in den militärischen, erzieherischen und betriebswirtschaftlichen Reflexionstexten immer wieder darauf verwiesen wurde, dass die Mitgliedschaft in diesen Organisationen selbstverständlich mit einer Mitgliedschaft in einer Familie vereinbar sei, wird gerade in den soziologischen Beschreibungen das Spannungsfeld von Organisation und Familie dargestellt.

Die Spannungen zwischen Schulen und Familien über die Erziehungshoheit für Schüler, die Auseinandersetzungen zwischen Armeen und Familien über die Zugriffsmöglichkeiten auf junge Erwachsene und die Debatten in Unternehmen über „Work-Life-Balance“, in denen es in der Regel um die Ausbalancierung der Ansprüche von Organisationen und Familien geht, sind nur besonders prominente Beispiele, in denen die Spannungen thematisiert werden, die sich aufgrund der Ausdifferenzierung von Organisation und Familie ergeben haben.[7]

[1] Hartmann Tyrell: Das konflikttheoretische Defizit der Familiensoziologie: Überlegungen im Anschluß an Georg Simmel. In: Bettina Heintz (Hrsg.): Soziale und gesellschaftliche Differenzierung 2008, S. 315–337, hier S. 317.

[2] Klaus Gilgenmann: Romantische Liebe und Liebe zum Kind. Zur Differenzierung der Codierung von Partnerschaft und Elternschaft. In: Alois Herlth u.a. (Hrsg.): Abschied von der Normalfamilie? Partnerschaft contra Elternschaft. Berlin, Heidelberg 1994, S. 64–82, hier S. 66.

[3] Niklas Luhmann: Sozialsystem Familie. In: ders. (Hrsg.): Soziologische Aufklärung. Opladen 1990, S. 189–209, hier S. 193.

[4] Ernest W. Burgess, Harvey J. Locke: The Family from Institution to Companionship. New York 1945, vii.

[5] Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a. M. 1982, 183f.

[6] Zum Sokrates-Zitat siehe Xenophon: Sokrates 1789, 111f.

[7] Siehe dazu ausführlich Stefan Kühl: Gruppen, Organisationen, Familien und Bewegungen. Zur Soziologie mitgliedschaftsbasierter Systeme zwischen Interaktion und Gesellschaft. In: Bettina Heintz, Hartmann Tyrell (Hrsg.): Interaktion – Organisation – Gesellschaft revisited. Sonderheft der Zeitschrift für Soziologie. Stuttgart 2015, S. 65–85, 74f.

Stefan Kühl

Prof. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

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