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Gruppendynamik

Die personenbezogene Erwartungsbildung in gruppendynamischen Trainings 

  • Stefan Kühl
  • Dienstag, 5. März 2024

In Gruppen werden Erwartungen vorrangig anhand von Personen aufgebaut. Man kennt Djamila, Kim oder Mian – oder meint zumindest sie zu kennen – und orientiert das eigene Verhalten an der Einschätzung derer Persönlichkeiten. Man verleiht Geld, weil man sich darauf verlässt, dass Djamila dies garantiert zurückzahlen wird, kommt eine halbe Stunde zu spät zu einer Verabredung, weil man die Erfahrung gemacht hat, dass Kim nie pünktlich ist oder verschweigt relevante Informationen, weil man ahnt, dass diese bei Mian nicht sicher sind.  

Die „Erwartungen beziehen sich auf das, was einem konkreten Menschen als Erleben und Handeln zugerechnet werden kann“. Sie „lassen sich nicht ohne weiteres auf andere Menschen übertragen“. Wenn man Djamala kennt, dann kann man daraus nicht schließen, wie sich Kim oder Mian verhalten werden, sondern muss den Menschen durch eigene Interaktionserfahrungen, eigene Beobachtungen oder anhand von Erzählungen über ihn „persönlich“ begreifen.   

Daher ist es für die Erwartungsbildung in Gruppen nicht ausschlaggebend, ob sich der Mensch mit diesen an ihn geknüpften Vermutungen wohlfühlt oder nicht. Die „Orientierungsfunktion von Personalität“ – nicht nur in Gruppen, sondern auch in Familien und in Liebesbeziehungen – basiert auf entschiedenen „Stereotypisierungen“, die wie ein „Korsett“ wirken können. Djamila, Kim oder Mian sind halt so – da kann man nicht viel machen.   

Wie äußert sich diese personenorientierte Erwartungsbildung in gruppendynamischen Trainings?  

Personen als Orientierungspunkt der Erwartungsbildung in gruppendynamischen Trainings 

Der Anspruch gruppendynamischer Trainings besteht darin, dass sich Personen selbst und andere besser einschätzen können. Dies wird bereits an dem von Joseph Luft und Harry Ingham entwickelten Konzept zur „Verbesserung der Wahrnehmung“ deutlich, in dem aus kontrastiven Dimensionen „Dem Selbst bekannt/dem Selbst nicht bekannt“ und „dem anderen bekannt/dem anderen nicht bekannt“ ein Vierfelder-Schema gebildet wird. Das Ziel gruppendynamischer Trainings sei, durch bessere Kenntnisse von sich selbst und anderen das Wahrnehmungsspektrum in der Gruppe zu erweitern und gleichzeitig die dem selbst unbekannten blinden Flecke, etwa die geschützten Zonen des Einzelnen und die verborgenen Aspekte des Gegenübers, zu reduzieren. 

Letztlich dominierte in gruppendynamischen Trainings die Vorstellung, dass Personen nicht nur sich selbst und andere besser wahrnehmen können, sondern auf der Basis dieser Wahrnehmungen auch im Erwachsenenalter noch in die Lage versetzt werden, sich selbst zu verändern. Die Hoffnung sei, dass durch Einfluss von als Peers wahrgenommen Personen durch gruppendynamische Trainings neue Teilnehmer neue Verhaltensweisen ausprobieren, die auch über das Training hinaus Bestand haben können. 

In Studien ist immer wieder herausgearbeitet worden, wie stark gruppendynamische Trainings durch personenbezogene Erwartungsbildung geprägt sind. Es ist die Rede von einer Welt, in der „Männer und Frauen sitzen und darüber reden, wie sie es erleben hier zu sein und wie sie andere erleben, die ebenfalls anwesend sind“ und dieses „Reden“ seltsamerweise „fast nie fad“ wird. Es wird herausgestellt, dass gruppendynamische Trainings dazu führen, dass sich die Teilnehmer als Personen darstellen und dadurch für die anderen Trainingsteilnehmer berechenbarer werden.  

Die Teilnehmer eines gruppendynamischen Trainings werden ermutigt, ihre „Fassade“ fallen zu lassen und „so ehrlich wie möglich“ ihre Gefühle zu offenbaren. In den Übungen sollen dabei „positive Gefühle“ wie Anteilnahme, Einfühlungsvermögen und Liebe, aber auch „negative Gefühle“ wie Rivalität, Neid oder Hass mobilisiert werden und die Teilnehmer in die Lage versetzen, sich damit auseinanderzusetzen. Diese „Offenheit“ bei der Darstellung von Gefühlen würde, so die Vorstellung, zu aufwühlenden Konfrontationen und zwischenmenschlichen Konflikten führen, die den Teilnehmer nicht nur zur Einsicht bringt, dass ihre gewöhnlichen Umgangsformen mit Konfrontationen und Konflikten ungeeignet sind, sondern auch dabei helfen das Gegenüber als Person sehr genau einzuschätzen.  

Wie wird in gruppendynamischen Trainings die Erwartungsbildung über Personen hergestellt?  

Minimalstrukturierung als Ursache personenbezogener Erwartungsbildung 

Die personenbezogene Erwartungsbildung wird in gruppendynamischen Trainingseinheiten dadurch erreicht, dass den Teilnehmern andere Formen der Erwartungsbildung weitgehend entzogen werden. Das zu Beginn verkündete „Regelwerk“‘ ist knappgehalten und bietet mit dem einzigen Verweis auf die Selbstbeschäftigung der Gruppe verhältnismäßig wenig Halt für die Erwartungsbildung. Die Trainer nehmen sich von der ersten Sitzung an zurück und überlassen die Mechanismen der Erwartungsbildung weitgehend den Teilnehmern, indem sie ein „Pokerface“ aufsetzen und ihre „Kraft des wissenden Schweigens“ wirken lassen. 

In der Literatur wird diese Vorgehensweise als Prinzip der „Minimalstrukturierung“ bezeichnet. Der Grundgedanke ist, dass die vermeintlichen Erwartungen der Teilnehmer durch die Vorstrukturierung des Ablaufs in einem Training enttäuscht werden. Die Teilnehmer werden gleich zu Beginn mit einer Situation konfrontiert, in denen ihnen die üblichen Mechanismen der Erwartungsbildung entzogen werden und sie dazu zwingt, so die Auffassung der Gruppendynamiker, sich „einander zuzuwenden, neue Mittel und Wege zu erproben, um ihre Situation zu verändern und miteinander in einen Lern- und Entwicklungsprozess einzutreten“.  

Grundlegend für die Wirkung der „Minimalstrukturierung“ sei dabei die Einbettung in eine rigide Abfolge des gruppendynamischen Trainings: Start- und Endpunkte werden vorab fixiert und sind von den Teilnehmern nur schwer zu beeinflussen. Selbst wenn niemand am Verlassen eines gruppendynamischen Trainings gehindert werden kann, so ist die Struktur darauf ausgerichtet, das Abreisen von Teilnehmern zu entmutigen. Die unumstößlichen Vorgaben für die gruppendynamischen Trainings – etwa klare Zeitangaben, Vorgabe des Raumes oder Verbindlichkeit der Anwesenheit – verhindern das Auseinanderdriften oder gar Auseinanderfallen des Trainings. In gewisser Weise hat man es also bei einem gruppendynamischen Training mit einer „strukturierten Strukturlosigkeit“ zu tun. 

Das Setting eines Trainings lässt sich mit einer Interaktionssituation vergleichen, in dem ein Spielleiter ein unbekanntes Spielbrett mit Figuren in die Mitte legt. Da die Teilnehmer durch feste Zeitvorgaben innerhalb eines geschlossenen Raumes und der expliziten Erwartung einer Anwesenheitspflicht daran gehindert werden der Interaktion zu entkommen, müssen sie gezwungenermaßen ein Konzept des Spiels entwickeln. Die Interpretationsmöglichkeiten begrenzen sich hierbei auf die für die Spielleiter kalkulierbaren Varianten, weil der Stuhlkreis als Sitzordnung ein klar definiertes Ende bestimmt und nur explizite Auslegungen wahrscheinlich macht.  

Kurz: In gruppendynamischen Trainings wird durch die Minimalstrukturierung ein „soziales Vakuum“ geschaffen, das von den Teilnehmern gefüllt werden muss. Weil durch das Setting keine klare Rollen angeboten werden, nur sehr abstrakte Programme für das Verhalten existieren und auch kein verbindlicher Wertekanon vorab festgelegt wird, kann sich die Trainingsgruppe nur auf den Aufbau personenbezogener Erwartungen stützen. In gruppendynamischen Interaktionen sind die Teilnehmer also faktisch gezwungen sich als Personen zu präsentieren, weil keine anderen Formen der Erwartungsbildung zur Verfügung stehen.   

Die Aushandlung des Umfangs von personenbezogener Erwartungsbildung  

Unter Gruppendynamikern wird immer wieder diskutiert, ob das Ziel der gruppendynamischen Trainings eher auf das Erlernen der Mechanismen innerhalb einer Gruppe gerichtet sein sollte oder die gruppendynamischen Prozesse die Auseinandersetzung mit der eigenen Person stimulieren sollen. Im ersten Fall sind die Teilnehmer des gruppendynamischen Trainings das „Material“, an dem sie die Funktionsweisen von Gruppen verstehen lernen. Im zweiten Fall sind die durch das gruppendynamische Training erzielten Effekte eher das „Mittel“, durch das die Teilnehmer zu einem individuellen Lernprozess gebracht werden und die es ihnen ermöglicht „Grenzen seiner Fähigkeiten“ zu überschreiten, sowie bisher „verschlossene Kräfte und Eindrücke bewältigen“ zu können.  

Gruppendynamische Laboratorien, Sensitivity-Trainings und Encounter-Groups verfolgen unterschiedliche Interessen, weswegen die Grenzziehungen auch in der Praxis schwierig sind. Gerade wegen der weitgehenden Selbststeuerung der Interaktion durch die Gruppe selbst hängt es nicht vom vorher festgelegten Format ab, wie stark sich die Beobachtung auf die beispielhaften Überprüfungen der allgemeinen Dynamik einer Gruppe und wie stark auf die Thematisierung spezifischer personenbezogener Erwartungsbildung bezieht. Vielmehr wird in der Gruppe selbst ausgehandelt, wo die Schwerpunkte der Selbstbeobachtung liegen. 

In jedem Training gilt dabei die spannende Frage, wie ausgeprägt die Darstellung als Person in einer Gruppe erwartet werden kann. Anders als in Organisationen ist es in Gruppen nicht möglich, sich als Person in seiner Selbstdarstellung wenigstens teilweise hinter eine Rolle zurückzuziehen. Ähnlich wie in Freundeskreisen, Jugendcliquen oder Straßengangs löst es auch in gruppendynamischen Trainings Irritationen aus, wenn man sich nicht als Person zu erkennen gibt. Gleichzeitig kann es Gruppen aber auch überfordern, wenn Gruppenmitglieder die Selbstdarstellung als Person und sich mit all ihren Sorgen, Ängsten und Hoffnungen präsentieren. 

In gruppendynamischen Trainings wird durch die „Minimalstrukturierung“ eine für Gruppen typische Situation hergestellt, in der austariert wird, wie viel Selbstdarstellung als Person erwartet werden kann und wo der Gruppe ein Zuviel an Selbstdarstellung zugemutet wird. Ein zentraler Lerneffekt solcher Trainings besteht also darin, zu beobachten, wie in Gruppen auf die Erwartungen zur persönlichen Öffnung reagiert wird und wie mit der Überforderung bei als zu weitgehend empfundenen Selbstdarstellungen umgegangen wird. 

Zum Buch

Organisationen im Labor?

Anmerkung der Redaktion: Der vorliegende Text ist ein angepasster Auszug aus dem Buch “Organisation im Labor?”. Um den Lesefluss zu verbessern, ist er ohne Verweise und Literaturangaben erschienen. Bei Interesse schicken wir Ihnen gerne eine nicht angepasste Textversion zu.  

Autor
Stefan Kühl

Prof. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

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