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Gruppendynamik

Die „Intimisierung“ der Interaktion in gruppendynamischen Trainings  

  • Stefan Kühl
  • Dienstag, 12. März 2024

Zur stabilisierenden Konformität innerhalb einer Gruppe ist ein „Mindestmaß an Konsens“ der Themen notwendig. Für die Gemeinsamkeiten eignen sich dabei keine Inhalte, in denen „Konsens mit jedermann selbstverständlich ist“. Über unbestreitbare Tatsachen wie etwa, dass die Sonne gerade scheint, die Bäume anfangen zu grünen oder die Bahn immer zu spät kommt, lassen sich zwar vorzüglich in Alltagsinteraktionen mit Fremden gestalten, jedoch nur schwer in den Gruppen integrieren. 

Gruppen erfordern deswegen Themen, mit denen sie die internen Interaktionen am Laufen halten können. Luhmann spricht von der Notwendigkeit eines „Gruppenthemas“ – der Erforderlichkeit einer „Erlebnisthematik einer Gruppe“. Diese dient dazu, „die Sinngegenstände und Erfahrungen zu bezeichnen, auf die sich das Gruppenleben und -erleben bezieht“​​. Dabei wird klar, „dass sich nicht jedes Gruppenthema in gleicher Weise zur Erwartungsstabilisierung eignet“. Während unter Gruppendynamikern die Diskussion über die autopoietische Wende in der Systemtheorie sehr wohl als ein sinnvoller Beitrag zur geselligen Interaktion betrachtet werden kann, wird dieses Thema in einer Clique von Hooligans oder dem Meeting eines Rotary Clubs nicht unbedingt anschlussfähig sein. 

Wie gestaltet sich die Themensuche in gruppendynamischen Trainings?   

Die Suche nach thematischen Ankern in gruppendynamischen Trainings 

Auf den ersten Blick kann man beobachten, dass die Themenwahl zu Beginn einer gruppendynamischen Situation in einer fast schon außergewöhnlichen Weise minimiert wird. Die „Sachaufgabe“ der Trainingsgruppe sei, so die Aufgabenstellung, sich auf „das soziale Miteinander in der Gruppe zu konzentrieren“ – oder kurz: Das vorgegebene Thema ist die Gruppe selbst. 

Auf den zweiten Blick wird jedoch deutlich, dass diese Aufgabe so weit gefasst wird, dass in der Gruppe kein verlässlicher „Themenanker“ existiert. Die Formulierung des Zwecks, die Gruppe selbst zu beobachten, ist so abstrakt formuliert, dass es keinen thematischen Halt bietet. „Nirgends sonst“, so die Beobachtung gruppendynamischer Praktiker, werde in einem derart abstrakten Raum „ohne äußerlich erkennbaren Zweck“ kommuniziert. 
 
Der Effekt umfasst eine hohe thematische Verunsicherung in der Gruppe. Gerade in der Anfangsphase ist unklar, welche Themen legitim sind und welche nicht. Diese Verunsicherung ist für den Ablauf gruppendynamischer Trainings zentral, weil dadurch in der Gruppe das „Material“ produziert wird, welches in der Gruppeninteraktion reflektiert werden kann. Diskutiert werden in Trainings typischerweise Themen wie „Passivität oder Aktivität“ der Teilnehmer, „Erwartung und Erwartungsenttäuschung“ in Bezug auf das Training, sowie „Sinn und Unsinn“ des Lernarrangements.  

Erkennbar ist eine permanente Themensuche während der Trainings, weshalb ein häufig vorzufindender Themenanker dabei offensichtliche Unterschiede in der Gruppe abbildet. Die geschlechtsspezifischen Differenzen der Teilnehmer, die Generationszugehörigkeiten, die verbal zu erkennenden regionalen Herkünfte oder die beruflichen Tätigkeiten sind aus diesem Grund häufig gewählte Themen. Diese werden in der Regel von den Teilnehmern selbst gesucht und nicht selten scheinen die Beobachtungen von Geschlecht, Alter, Herkunft und Beruf ebenfalls als Schwerpunkte durch die Trainer eingebracht zu werden. 

Doch auch wenn diese offensichtlichen Unterschiede als anfängliche Anker dienen, so drohen sie sich doch im Laufe eines gruppendynamischen Trainings zu verbrauchen. Sofern lediglich über die allgemeinen Unterschiede – bezogen auf Geschlecht, Alter, Herkunft und Beruf – gesprochen wird, besteht die Gefahr, dass der Austausch nur über allgemeine Stereotype erfolgt. Stattdessen dienen entsprechende Unterschiede im Verlauf des Trainings zunehmend als Brücke, um Eindrücke über die jeweils andere Person auszutauschen und zu begründen.    

Der Effekt in den meisten gruppendynamischen Trainings ist eine schrittweise „Intimisierung“ in der Interaktion. Im Laufe des Trainings ergeben sich verstärkt Momente, in denen sich einzelne Teilnehmer gegenüber der Gruppe „öffnen“, indem sie über persönliche Erfahrungen berichten oder Geheimnisse offenbaren. Die „Intimisierung“ der Interaktion findet ihren Ausdruck in bedeutsamen Geständnissen von Gefühlen, die sich beispielsweise in Form von Tränen während der gruppendynamischen Sitzungen äußern.  

Wie wird diese kommunikative „Intimisierung“ in gruppendynamischen Trainings – gewollt oder ungewollt – erzeugt?  

Feedback als Mechanismus zur „Intimisierung“ der Trainingsgruppe 

Feedback gilt als „methodisches Allround-Mittel“ in gruppendynamischen Trainings. Bei Feedback handelt es sich um das „Äußern von Beobachtungen und Einschätzungen“ von Personen, die man normalerweise „für sich behält und zumindest gegenüber den Gemeinten nicht explizit anspricht“. Es handelt sich um Mitteilungen, die „im normalen Gespräch mit gutem Grund aus der Kommunikation ausgeschlossen sind“, weil man den „sozialen Zusammenhalt“, das „gute Klima“ und die „gute Beziehung“ zwischen den Beteiligten nicht gefährden möchte. Die Terminologie übernahmen Gruppendynamiker aus der frühen kybernetischen Forschung und wird dort als Begriff für eine Regeltechnik verwendet, mit dem sich „dynamische Systeme dadurch stabilisieren, dass sie ihre Ist-Werte laufend mit einem Soll-Wert vergleichen und im Fall von Abweichungen automatisch gegensteuern“. 

Für die Form der Rückmeldungen gibt es innerhalb des gruppendynamischen Trainings genaue Vorstellungen, weshalb es zunächst erstmal nur „beschreiben“ und nicht „bewerten“ soll. „Je mehr Details“ dabei hinzugefügt werden und „je konkreter“ die Beschreibungen ausfallen, „desto besser“. Das Feedback soll „nachprüfbar“ sein, in dem die Beschreibungen von anderen Teilnehmern des Trainings „korrigiert, verstärkt, modifiziert“ werden können und gleichzeitig „angemessen“ sein, also in „seiner Intensität und Vorbringungsart“ den „Grad des in der Gruppe bereits vorhandenen Vertrauens“ abbilden. Dadurch soll sichergestellt werden, dass der „Empfänger“ die konstruktive Rückmeldung auch akzeptiert und nicht sofort versucht Gegenargumente vorzubringen.  

In den Trainings werden verschiedene Methoden angewandt, mit denen die Reziprozität von Feedback eingeübt wird: Mitglieder werden auf einen „heißen Stuhl“ gesetzt und von allen anderen mit individuellen Eindrücken zu seiner Person konfrontiert. Die einzelnen Teilnehmer beschreiben sich gegenseitig mit Tierbildern, um so einen sinnbildhaften Eindruck vom jeweils anderen zu vermitteln. Es werden „Soziogramme“ erstellt, in denen die Beziehungsgeflechte zwischen den Teilnehmern visuell dargestellt werden. Zudem werden „Gruppenskulpturen“ gestellt, in denen über die Art der Körperhaltungen die Beziehungsgeflechte der Teilnehmer zueinander dargestellt werden können. 

In Organisationen bezieht sich das Feedback immer auf das situative Verhalten: Es wird kritisiert, dass man Aufgaben zu unpräzise erledigt, es an Engagement mangelt oder es im Verhalten zu Vorgesetzten an Respekt fehlen lässt. Damit wird aber nicht in Frage gestellt, dass man in anderen Rollen – als Elternteil, Liebhaber, Freund oder Parteigenosse – nicht eine ausgesprochen sorgfältige, engagierte und respektvolle Person sein kann. Weil die Erwartungsbildung in Gruppen über Personen stattfindet, muss das Feedback fast zwangsläufig zur ganzen Person verstanden werden. Aus diesem Grund existieren nur begrenzte Möglichkeiten, die Rückmeldungen als Reaktion auf ein Rollenverhalten zu verstehen.   

In gruppendynamischen Settings kann man beobachten, wie sich Feedbacks auf die ganze Person richten. Da diese nicht mit Verweis auf ein Verhalten in einer spezifischen Rolle abgemildert werden können, haben sich harmonisierende Formeln wie „ich bin OK, du bist OK“ oder „ich habe Dich gehört, aber ich bin nicht auf dieser Welt, um so zu sein, wie Du mich haben willst“ ausgebildet. Sie bilden einen kommunikativen Rahmen, in dem die personenbezogenen Rückmeldungen in gruppendynamischen Trainings zu ertragen sind und ihre Wirkung eingrenzen.    

Über das Austarieren des Intimisierungsgrades in Trainingsgruppen  

Die durch die Intimisierung der Kommunikation vermittelte „Nestwärmevermittlung“​​ stellt – darauf verweisen Befürworter der Gruppendynamik – einen starken Reiz dar. Die Rede ist davon, dass gerade die Trainings ermöglichen, möglichst viel „erleben“ zu wollen, sich mit Trainern zu streiten, sich in Teilnehmerinnen zu verlieben, in den Nächten mit der Gruppe tanzen zu gehen, Theater zu spielen und gemeinsam zu singen. Die Suchtwirkung, die in der Literatur über gruppendynamische Trainings wiederholt erwähnt wird, kann dabei auf die Effekte der schnellen Ausbildung einer intimen Interaktion unter Unbekannten zurückgeführt werden. 

Die Intimisierung der Interaktion in den Trainings kann, insbesondere laut Kritikern der Gruppendynamik, durchaus auch von Teilnehmern als Selbstoffenbarungszwang wahrgenommen werden. Die Möglichkeit sich als Person darzustellen, kann dabei nicht nur die „Freiheit von“ den Entfremdungserfahrungen bei der Interaktion in Organisationen, sondern auch als „Zwang zur“ Selbstoffenbarung gegenüber der Gruppe empfunden werden. Wer sich der Forderung nach Offenheit, Authentizität oder Spontanität entzieht, droht gegen die Erwartungen in der Trainingsgruppe zu verstoßen​​. In gruppendynamischen Trainings droht, so die Kritik, eine „Tyrannei der Intimität“. 

Abgrenzend zu dieser inzwischen eingespielten Debatte von Befürwortern und Kritikern der Gruppendynamik, wäre aus einer distanzierten soziologischen Beobachtung interessant, wie in den Trainings der Grad der Enthüllung der Teilnehmer und zugleich auch der Grad der Intimisierung austariert wird. In den gruppendynamischen Trainings kommt es nicht zu einer hemmungslosen Selbstöffnung der Teilnehmer, sondern bildet ein gemeinsames Verständnis über die akzeptablen und inakzeptablen Varianten persönlicher Öffnungen. 

Damit werden in den Trainings Effekte produziert, die für Gruppen allgemein charakteristisch sind. So beispielsweise in einer Freundesgruppe – dem Prototyp einer sich über Personenerwartungen reproduzierenden Gruppe – mendelt sich aus, wieviel Öffnung erwartet werden kann und wieviel Öffnung die Gruppe gefährdet. Damit unterscheiden sich die durch die Trainingssituation simulierten Gruppen dennoch grundlegend von Organisationen, in denen die formale Rolle einen Schutz gegenüber einem Selbstoffenbarungszwang bietet. 

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Organisationen im Labor?

Autor
Stefan Kühl

Prof. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

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