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Gruppendynamik

Zur Hoffnung, durch gruppendynamische Trainings etwas über Organisationen zu lernen

  • Stefan Kühl
  • Dienstag, 27. Februar 2024

Es fällt auf, wie stark sich die Hoffnungen in Bezug auf gruppendynamische Trainings verschoben haben. Nachdem Gruppendynamiker in der Anfangsphase den Anwendungsbereich der Trainings nicht genau spezifizierten, wurde in der gruppendynamischen „Sturm- und Drang-Zeit“ die Gesellschaft zum zentralen Bezugspunkt der Trainings erklärt. 

Die durch gruppendynamische Trainings angestoßene „Reifung durch Selbstkonfrontation“ und „Verbesserung der Selbstwahrnehmung“ sollte nicht nur den Einzelnen voran bringen, sondern durch die „Fundierung der Kooperation“ und „Neubegründung von Autorität“ die Grundlage für ein neues gesellschaftliches Zusammenwirken bieten. Gruppendynamische Trainings sollten, so die dominierende Vorstellung, dabei helfen, in einer „gegliederten Massengesellschaft“ das nötige Wissen für die „Rekonstruktion“ von Gruppen als „neuer Sozialkörper“ hervorzubringen. Sie sollten ihren Teil dazu beitragen, die durch die „hochentwickelten Industriegesellschaften“ erzeugten Probleme durch Schaffung eines neuen „Reflexions- und Kommunikationsvermögens“ in den Griff zu bekommen.  

Diese auf die Gesellschaft bezogenen „ideologisch und moralisch überspannten Ansprüche“​​ wichen mit der Zeit einer immer pragmatischeren Herangehensweise von Gruppendynamikern. Anstelle eines Mittels zur Veränderung von Gesellschaften, wurden sie zunehmend als Maßnahme zur Optimierung der Arbeit in der Organisation verstanden. Gruppendynamische Trainings wurden neben Verhaltensschulungen, Kommunikationstrainings und Teamentwicklungen immer mehr zu einem Instrument, mit denen Organisationen in ihrer Effizienz und Kreativität verbessert werden sollten. Nicht selten wurden die verschiedenen Formate in den konkreten Seminaren miteinander verwoben. 

Diese Einengung der Gruppendynamik auf eine „sozialhygienische Technologie“ für an Effizienzsteigerung orientierten Organisationen, wurde von Vertretern einer an Gesellschaftsveränderung ausgerichteten Gruppendynamik anfangs heftig abgelehnt. Der Mensch, so die Kritik, würde durch die Gruppendynamik zur gesteigerten Anlagemöglichkeit des eigenen „Affektkapitals“ gebracht werden und dadurch seinen „Tauschwert“ in einer kapitalistischen Gesellschaft erhöhen (so aus einer damals ausdrücklich antikapitalistischen Grundhaltung. Nichtsdestotrotz hat sich letztlich eine auf Verbesserung des Zusammenwirkens in Organisationen ausgerichtete Variante der Gruppendynamik durchgesetzt.  

Die mit gruppendynamischen Trainings verbundene Hoffnung war, dass diese nicht nur die Reflexionsfähigkeit des Einzelnen erhöhen und so zur Erweiterung des Verhaltensrepertoires beitragen, sondern auch Veränderungsprozesse in Organisationen erleichtern können. Dabei bestand die Erwartung, dass sich durch gruppendynamische Trainings sowohl die Effizienz als auch Zufriedenheit in Unternehmen, Verwaltungen, Schulen​​, Universitäten und Kirchen verbessern lassen.  

Nach einer kurzen Phase der Euphorie stellte sich jedoch schnell eine kaum zu überhörende Frustration über die begrenzte Rezeption gruppendynamischer Trainings ein. Mit Nachdruck wurde beklagt, dass bei den „gruppenrelevanten betrieblichen Entwicklungen“ die Gruppenexperten „an den Rand gedrängt“ werden und sich andersherum an den „Rand drängen lassen“. Die Gruppenexperten stellten das „Wissen nicht zur Verfügung“, bloß sei das Wissen auch nicht gefragt.   

Womit hängt diese vielfach beklagte Rezeptionsbereitschaft der Gruppendynamik in Organisationen zusammen?   

Die Gefahr einer falschen Systemreferenz  

Eine mögliche Erklärung für die fehlende Nachfrage aus Organisationen liegt darin, dass die Lerneffekte aus gruppendynamischen Trainings für Tätigkeiten in Organisationen begrenzt sind. Es ist ein Fehler, so schon die Beobachtung Luhmanns​​ auf der „Grundlage der eines zu allgemein gewählten Gruppenbegriffs“ die „Teams in Organisationen mit spontan gebildeten Intimgruppen vergleichen zu wollen“. Eine „äußerlich ähnliche Erscheinung“ wie zum Beispiel die Anzahl der Mitglieder, die Regelmäßigkeit der Interaktion oder die Kenntnis aller Personen würde, so Luhmann, nur dazu verleiten, unpassende Vergleiche zu ziehen. 

Sicherlich – in allen primär auf Rollenerwartungen basierenden sozialen Beziehungen und demnach auch in Organisationen – kann es zu einer ergänzenden Bildung von Personenerwartungen kommen. So könnte man im Falle einer Geschwindigkeitsüberschreitung versuchen, aus der Rollenperspektive eines Polizisten spezifische Personenmerkmale zu erspähen, um folgend Strafverminderungsstrategien abzuleiten. Gleichermaßen besteht die Beurteilung von Lehrern darin, dass man vor dem Hintergrund der fixierten Rolle des Schülers oder des Studenten unterschiedliche persönliche Verhaltensweisen beobachten könnte, um daran pädagogische Interventionen anzusetzen.  

Doch in all diesen sozialen Beziehungen dominiert die Rollenerwartung über der Personenerwartung. Bei allen Variationen der Ausübung ihrer Rolle sind Polizisten an erster Stelle Polizisten und Lehrer bleiben zuallererst Lehrer. Weitergehend basiert die Professionalität in ihrer Berufsausübung dieser Organisationsmitglieder maßgeblich darauf, dass sie selbst unter Druck nicht aus den Rollen fallen und ihre Gegenüber konsequent aus der durch die Organisation zugewiesenen Rollen betrachten. Konsequenterweise wird es deswegen innerhalb der Organisation als zu sanktionierender Fehler wahrgenommen, wenn die Personenerwartung gegenüber der Rollenerwartung überwiegt. Eine Polizistin, die eine zu persönliche Beziehung zu Straftätern aufbaut, muss sich den Vorwurf der Korruption gefallen lassen – eine Lehrerin mit freundschaftlichen Beziehungen zu Schülern den Vorwurf des Rollenmissbrauchs.  

Genau diese Einschränkungen personenbezogener Erwartungen durch rollenbezogene Erwartungen in Organisationen können durch gruppendynamische Trainings nicht simuliert werden. Aufgrund ihrer ausgeprägten Personenorientierung, der geringen Ausdifferenzierung von Rollen, der Unterbindung von verfestigten Führungsansprüchen und der Diffusität von Themen haben die durch gruppendynamisches Training inszenierten sozialen Gebilde keine Ähnlichkeit mit Organisationen in ihrer starken Fixierung auf formalisierte Rollenerwartungen.  

Organisationen werden auch nicht dadurch geschaffen, dass zwei oder mehrere Gruppen innerhalb eines gruppendynamischen Trainings gebildet werden. In vielen Fällen besteht die Funktion darin, dass sich Gruppen gegenseitig beobachten und dadurch die Dynamiken in ihrer Gruppe zu anderen in Beziehung setzen können. Dies kann den Effekt haben, dass sich wenigstens in Ansätzen auch sogenannte Intergruppen-Beziehungen in einem Training simulieren lassen (wenn auch nicht in der Konfliktvariante, die von der Forschergruppe um Sherif künstlich hergestellt wurde).  

Aber auch wenn mit Konzepten wie dem Organisationslaboratorium durch eine hohe Zahl von Teilnehmern versucht wird, mit Hilfe der Gruppendynamik Organisationen abzubilden, wird häufig dadurch ausschließlich die Bildung von Subsystemen in großen Gruppen simuliert. Die Simulation einer Organisation wird nicht erreicht, weil der zentrale Organisationsmechanismus der Formalisierung – also der Bindung von Mitgliedschaft an Erwartungen – durch das Setting nicht hergestellt wird.  

Das heißt nicht, dass Organisationen nicht künstlich inszeniert werden können.1 Dafür ist es aber nötig, die Ausbildung formaler Mitgliedschaftsbedingungen, die Ausdifferenzierung von Hierarchien und die Orientierung an von außen vorgegebenen Zwecken experimentell herzustellen​​. Es spricht vieles dafür, dass in prominenten sozialpsychologischen Experimenten wie dem Gehorsamkeitsexperiment von Stanley Milgram ​​​​​​​​und dem Stanford Prison Experiment von Philip Zimbardo​​​​​​ keine Effekte von Gruppen, sondern von Organisationen simuliert wurden. Der Fokus auf der Frage „Weitermachen oder Ausstieg“ bewirkt, dass die zentrale Mitgliedschaftsregel von Organisationen nachgebildet werden kann und das Verhalten der Testpersonen in Experimenten dem Verhalten von Mitgliedern in Organisationen auf diese Weise ähnlich wird​​. 

Diese Analyse mag gruppendynamische Praktiker frustrieren. Wenn in gruppendynamischen Trainings Gruppen und keine Organisationen simuliert werden, dann sind die Übertragungsmöglichkeiten der Lerneffekte auf Organisationen gering. Schlimmer noch – die Hoffnung, durch gruppendynamische Trainings etwas über die Arbeit in Teams – oder noch weitergehend in Organisationen allgemein – zu lernen, kann zu unpassenden Ansprüchen führen. Wenn die Teilnehmer in den gruppendynamischen Trainings versuchen würden, die gewonnenen Erkenntnisse unreflektiert auf ihre Tätigkeit auf Organisationen zu übertragen, sind Frustrationserfahrungen vorprogrammiert.  

Zur Nützlichkeit der Simulation von Gruppen 

Dies bedeutet aber nicht, dass in gruppendynamischen Trainings nicht real existierende soziale Systeme simuliert werden. Mit Freundeskreisen, Liebesbeziehungen und Familien gibt es in der modernen Gesellschaft verschiedene soziale Systeme, die durch eine Dominanz persönlicher Erwartungsbildung, geringer Bedeutung von Rollenerwartungen, fluktuierender Führung und einer Vielfalt von Themen gekennzeichnet sind. In gruppendynamischen Trainings finden sich deswegen viele der Elemente wieder, die man auch aus Freundschaftskreisen, aber auch von Liebesbeziehungen und Kleinfamilien kennt: die Ausbildung von Zusammengehörigkeit, das Bemerken des Fehlens von Gruppenmitgliedern, die Entstehung eigener Gruppennormen und aufkommende Schwierigkeiten der Gruppenmitglieder oder Fragen bezüglich sehr persönlicher Themen abzuweisen.2 Die gruppendynamischen Trainings kommen aufgrund ihrer Prinzipien – so die hier vertretene These – einer Simulation von verschiedenen Prozessen in Freundeskreisen, Liebesbeziehungen und Kleinfamilien sehr nahe. 

In Freundesgruppen, in Liebesbeziehungen und Kleinfamilien – und natürlich Trainings, in denen diese Systeme simuliert werden – dominieren personenbezogene Erwartungen über rollenspezifische Erwartungen. Das schließt nicht aus, dass es in diesen nicht auch an Rollen orientierte Vorstellungen geben kann. Man denke nur an die allgemein gepflegten Erwartungen, wie man sich als gute Liebhaberin, guter Freund oder gutes Elternteil zu verhalten hat. Dennoch fällt auf, wie vergleichsweise wenig Orientierung diese durch die Beobachtung anderer oder durch Zeitungen, Bücher oder Filmen konstruierten Rollenerwartungen bieten. Im Zweifel dominiert die Personenerwartung in Freundesgruppen, aber auch in Liebesbeziehungen und Kleinfamilien über die massenmedial verbreiteten Rollenerwartungen.  

Allein aufgrund der Dominanz der Personenerwartung gegenüber der Rollenerwartung ist es für Kleingruppen überhaupt möglich, dass sich personenbezogene Kommunikation als Schließungsmechanismus des sozialen Systems ausbildet. Anders als in Organisationen bildet sich die personenbezogene Kommunikation in Gruppen – darauf weist Luhmann hin – nicht zufällig aus, sondern sie kann „erwartet“ und sogar „verlangt“ werden. D​​as Mitglied einer Gruppe, das systematisch Auskünfte über andere Rollen verweigert, gerät in Rechtfertigungsschwierigkeiten, weil es gegen die Erwartung zur (wenigstens teilweisen) Preisgabe von personenbezogenen Informationen verstößt. Aufgrund der Tatsache, dass personenbezogene Kommunikation erwartet werden kann, kann sich die Gruppe als System über diese Kommunikationsform überhaupt erst reproduzieren. Die personale Orientierung hat zur Folge, dass in Gruppen eine gute „Personalkenntnis erforderlich“ ist, damit man „abschätzen kann, was der andere verstehen kann“ und was nicht​​. Gleichzeitig – so muss man ergänzen – trägt auch die Erwartung, dass in Gruppen persönlich kommuniziert wird dazu bei, dass überhaupt die erforderliche Personalkenntnis aufgebaut werden kann.   

Konkret: In gruppendynamischen Trainings kann man viel über das eigene Wirken in Freundescliquen, Pokerrunden oder Wohngemeinschaften lernen. Insofern haben Gruppenverfahren mit ihrem Personenbezug – gruppendynamische Trainings, besonders, aber auch gruppentherapeutische Verfahren – unbestreitbar ihre Berechtigung. Gerade im Vergleich zur Gruppentherapie, die sich aufgrund der Simulation personenbezogener Systeme erfolgreich als therapeutisches Verfahren etabliert hat, besteht die Tragik der Gruppendynamiker jedoch darin, dass Freundescliquen, Pokerrunden oder Wohngemeinschaften eher selten bereit sind, für die Förderung der Selbstreflexion ihrer Mitglieder in speziellen Trainings zu bezahlen. 

Zum Buch

Organisationen im Labor?

Anmerkung der Redaktion: Der vorliegende Text ist ein angepasster Auszug aus dem Buch “Organisation im Labor?”. Um den Lesefluss zu verbessern, ist er ohne Verweise und Literaturangaben erschienen. Bei Interesse schicken wir Ihnen gerne eine nicht angepasste Textversion zu.  

Autor
Stefan Kühl

Prof. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

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