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Der ganz formale Wahnsinn

Identifikation - Weswegen Distanz der Mitglieder zur Organisation hilfreich sein kann

  • Stefan Kühl
  • Mittwoch, 7. Dezember 2022
identifikation

Immer mehr Unternehmen gehen dazu über, ihre Mitarbeiter nicht mehr ausschließlich über finanzielle Anreize, Druck oder bestimmte geschickte Führungstechniken zu motivieren. Stattdessen werden Mitarbeiter angeregt, sich verstärkt mit „ihrem“ Unternehmen und mit „ihren“ Produkten zu identifizieren. Gerade die sogenannten Vorreiterunternehmen verkünden, dass „Geld allein nicht motiviert“, sondern ein gutes Arbeitsklima und eine Identifizierung der Mitarbeiter mit den Prozessen wichtig sind. Arbeitsaufgaben und Verantwortungsspielräume der Mitarbeiter werden so umfassend gestaltet, dass es diesen leicht fällt, sich mit den Zwecken der Organisation zu identifizieren. Sie sollen begreifen, dass es Spaß machen kann, in Selbstorganisation Qualitätswaagen herzustellen oder Fertigbackmischungen zu verkaufen.[1]

Immer mehr Unternehmen sind davon überzeugt, dass die Identifizierung der Mitarbeiter ihre Innovations- und Wandlungsfähigkeit steigert. Es besteht die Überzeugung, Mitarbeiter, die sich mit Märkten, Produkten und Prozessen identifizieren, hätten ein Eigeninteresse, diese so zu gestalten, dass sie möglichst effizient und innovativ sind. Organisationswandel zu innovativen und effizienten Prozessen, so die Hoffnung, stellt sich fast automatisch ein, wenn nur die Identifizierung der Mitarbeiter ausreichend stark ist. Mit visionärer Begeisterung wird im Management die Geschichte des Steinmetzes verbreitet, der auf die Frage nach seiner Tätigkeit nicht mit „ich behaue Steine“ oder „ich verdiene mein Geld“ antwortet, sondern stolz erzählt, dass „wir an einer Kathedrale“ bauen.

Bei dem Versuch, Mitarbeiter nicht nur über Geld zu motivieren, handelt es sich eigentlich um eine alte Idee. Schon kurz vor dem Zweiten Weltkrieg stellte der amerikanische Managementvordenker Chester I. Barnard fest, dass es nicht ausreiche, Mitarbeiter über Vergütungen in Form von Geld, Aufstiegschancen oder Statussymbole wie große Dienstwagen und besonders tiefe Teppiche an das Unternehmen zu binden. Vielmehr käme es nach Barnard darauf an, die Bedürfnisse und Nutzenfunktionen der Mitarbeiter so zu beeinflussen, dass neben der Vergütung bei Mitarbeitern das Gefühl entsteht, ihre eigenen Interessen stimmten mit den Interessen des Unternehmens überein.

Dabei müssen derartige Strategien nicht auf die rabiaten Methoden hinauszulaufen, an die Barnard dachte. Unternehmen sind nicht unbedingt darauf angewiesen, eine Identifikation ihrer Mitarbeiter mit den Zielen des Unternehmens darüber herzustellen, dass jedem kleinen Laufboten die Motive des Unternehmens eingeimpft werden, nur Mitarbeiter eingestellt werden, die eine zum Unternehmen passende Motivationsstruktur haben, oder gar Motivation durch die Entlassung unmotivierter Mitarbeiter erzeugt  wird.[2]

Ein modernes Management setzt vielmehr darauf, das Arbeitsumfeld der Mitarbeiter so zu verändern, dass sie sich mit ihrer Arbeit identifizieren können. Den Mitarbeitern wird stärkerer Marktkontakt gewährt, sodass sie die Auswirkung ihres Handelns beobachten können. Ihnen werden ganzheitliche Aufgaben gegeben, sodass es möglich ist, sich für ein Produkt oder einen Prozess verantwortlich zu fühlen. Ihnen wird Autonomie zugestanden, damit sie aus Fehlern lernen und Vorgehensweisen selbstständig ändern können.

Diese motivierende Umgestaltung des Arbeitsumfeldes wird durch Maßnahmen ergänzt, in denen Mitarbeiter über den Sinn von Handlungen und Wandlungen informiert werden. Unternehmen geben viel Geld dafür aus, dass ihre Mitarbeiter die Sinnhaftigkeit von Produkten und Prozessen erkennen. In Betriebszeitungen werden neue Produkte gepriesen, Erfolge gefeiert und neue revolutionäre Produktionsverfahren präsentiert. Unter einprägsamen Namen wie TOP, KKK oder SUPER wird versucht, Mitarbeiter für Wandlungsprozesse zu begeistern. In Videos präsentiert die Unternehmensleitung neue Unternehmensstrategien, hoffend, dass ihre Offenheit einen motivierenden Charakter auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben wird. Aber was steckt hinter der Idee, dass sich Mitarbeiter mit Produkten, Prozessen und dem Gesamtunternehmen identifizieren sollen?

Man geht davon aus, dass Unternehmen ihre Arbeit besser machen, wenn der Arbeitsprozess durch Eigeninteressen der Mitarbeiter an dem, was sie machen, „versteift“ und „stabilisiert“ wird. Es wird geglaubt, Wandlungsprozesse funktionieren dann besser, wenn die Identifizierung mit der Vorgehensweise nicht nur durch hohe Gehälter und Prämien, durch dicke Dienstwagen mit Teakholzausstattung oder Incentivereisen mit einem Popstar erkauft werden muss, sondern wenn diese als Teil des persönlichen Interesses der Mitarbeiter begriffen werden. Man geht von der Annahme aus, dass Menschen motivierter handeln, wenn sie von einer „Sache“ selbst fasziniert sind und sich deshalb mit den Werthaltungen und Normen des Unternehmens identifizieren können.

Der Versuch, dass sich Mitarbeiter mit Prozessen und Produkten identifizieren, zielt darauf ab, die nur begrenzte und eingeschränkte Einbeziehung der Mitarbeiter in Organisationen wenigstens ein bisschen aufzuheben. Menschen treten in der Regel nicht mir ihrer ganzen Person in Organisationen ein, sondern bieten nur ihre auf einen bestimmten Zweck begrenzte Arbeitskraft an. Der Versuch, dass sich Mitarbeiter stärker mit Prozessen und Produkten identifizieren sollen, dient dazu, das lediglich partielle Engagement der Mitarbeiter auszuweiten. Es wird versucht, den Mitarbeiter – in seinem Interesse und im Interesse des Unternehmens – stärker an die Organisation zu binden.

Auf den ersten Blick bietet diese Vorgehensweise auch für Unternehmen Vorteile. Wenn Mitarbeiter nur über Geld motiviert würden, müsste eine misstrauische Vorgesetze ständig jede Handlung kontrollieren. Vorgesetzte profitieren davon, wenn Normen, Werte und Grundhaltungen die Entlohnung in Form von Geld und Aufstieg ergänzen, weil sie eine stabilere Grundlage der Zusammenarbeit bieten als das reine Tauschprinzip von Arbeitskraft gegen Geld.

Aber es gibt eine ganz erhebliche Schattenseite, wenn sich Mitarbeiter mit bestimmten Prozessen oder Produkten identifizieren. Das Unternehmen büßt – und das mag auf den ersten Blick überraschend klingen – stark an Wandlungsfähigkeit ein. Es verliert Organisationselastizität, wenn sich die Mitarbeiter mit einem Produkt oder einem Prozess identifizieren. Für Mitarbeiter wird es dann schwer einzusehen, weswegen sie Veränderungen akzeptieren sollen, die nicht ihrem Selbstbild von Prozessen und Produkten entsprechen.

Das Dilemma für Manager besteht darin, dass sie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Regel nicht einzig und allein über Geld und Druck motivieren können, weil sie auf deren aktive Mitwirkung angewiesen sind. Gleichzeitig schränkt die Identifikation der Mitarbeiter mit bestimmten Produkten und Prozessen die Wandlungsfähigkeit der Organisation ein.[3] Gerade das, was eine starke Identifikation auslöst, verwehrt sich besonders gegen Wandel und kann nur unter Inkaufnahme von starker Demotivation der betroffenen Mitarbeiter verändert werden. Es ist die Stärke und gleichzeitig die Tragik der Identifizierung, dass man das, mit dem man sich identifiziert, nur unter hohen Verlusten ändern kann. Die Tragik für das Management ist, dass die Motivation über die Identifikation der Mitarbeiter mit Prozessen und Produkten so häufig in einen Gegensatz zur Wandlungsfähigkeit gerät; einen Gegensatz, der sich nicht ohne Weiteres auflösen lässt.

[1] Diese Überlegungen finden sich ausführlich in S. Kühl: Das Regenmacher-Phänomen (wie Anm. 74), 107ff.

[2] Chester I. Barnard: The Functions of the Executive. Cambridge 1938, 149ff.

[3] Siehe dazu N. Luhmann: Funktionen und Folgen formaler Organisation (wie Anm. 5), 89ff.

Stefan Kühl

Prof. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

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