Löhne stoßen deswegen auf großes Interesse, weil es bei den meisten Menschen einen „chronischen Mangel“ an Geld gibt.[1] Wenn man nicht Empfängerin einer großen Erbschaft ist, über lukrative Zinsen abwerfendes Kapital verfügt oder von der Vermietung von Häusern und Wohnungen leben kann, ist man – so schon die Beobachtung von Karl Marx – gezwungen, seine Arbeitskraft zu verkaufen, und das findet in den allermeisten Fällen durch den Verkauf dieser Ware an Organisationen statt.
Aus organisationswissenschaftlicher Perspektive ist der chronische Geldmangel in modernen Gesellschaften deswegen interessant, weil dies ermöglicht, Menschen dazu zu motivieren, Tätigkeiten zu vollziehen, die sie ohne die ihn Aussichtstellung – und in den meisten Fällen auch tatsächlich realisierten Zahlungen – von Löhnen nicht machen würden. Bewerber mögen sich in Assessment Centern noch so sehr als mit den Zwecken der Organisation hyperidentifizierte potentielle Vorzeigemitarbeiter präsentieren und das gesamte Vokabular der von der Mode der Purpose Driven Organization infizierten Personaler bedienen – allen Beteiligten ist zu jedem Zeitpunkt klar, dass die in Frage kommenden Arbeitnehmer letztlich ohne eine Entlohnung nicht in diesem Assessment Center sitzen würden.
Auf den ersten Blick unterliegt die Bestimmung des Lohns – jedenfalls in kapitalistischen Wirtschaftsordnungen – im Grunde genommen den gleichen Prinzipien wie die Bestimmung des Preises für Produkte und Dienstleistungen. Sicherlich – es mag staatlich verordnete Mindestlöhne geben, tarifrechtliche Vereinbarungen oder Deckelungen von Vorstandsgehältern. Letztlich wird aber der Lohn, ähnlich wie bei Butter, Haarschnitten oder Grippemedikamenten, über Angebot und Nachfrage bestimmt.
Wie auf allen Produkt- und Dienstleistungsmärkten herrschen auch auf Arbeitsmärkten nie die perfekten Bedingungen. Selbst wenn es überzeugten Anhängern der Marktwirtschaft gelingen würde, „Marktverzerrungen“ wie Mindestlöhne, Tarifvereinbarungen und Gehaltsdeckelungen abzuschaffen, würden sich Löhne nie als „natürliches“ Ergebnis eines Zusammenspiels von Angebot und Nachfrage ausbilden, weil die Verhandlungsmacht zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ungleich verteilt ist.[2] Es wird, allem Gerede von „gerechten Löhnen“ zum Trotz, immer gute Gründe geben, weswegen sich der eine Mitarbeiter oder die andere Mitarbeiterin durch die gezahlten Bezüge ungerecht behandelt fühlen wird.
Angesichts dieser Schwierigkeiten beschreiten Organisationen unterschiedliche Wege, um das Gehalt der Mitarbeiter bestimmen zu lassen. In vielen Verwaltungen werden Löhne nach einem an der Qualifikation orientierten strikten Stufensystem vergeben, in dem Mitarbeiter alle zwei Jahre auf ihrer jeweiligen Ebene etwas mehr Gehalt bekommen. In einigen Nichtregierungsorganisationen wird ein Einheitslohn gezahlt, der lediglich durch Kinderzuschläge erhöht werden kann. In vielen Unternehmen verhandeln die Mitarbeiter in einem von der Personalabteilung vorgegebenen Rahmen das Gehalt direkt mit ihren Vorgesetzen.
Interessant sind die Fälle, in denen Organisationen versuchen, über eine höchstmögliche Gehaltstransparenz einen Prozess des selbstorganisierenden Ausmendelns der Gehälter zu erreichen. Kritisiert wird dabei, dass selbst in vielen Organisationen, in denen sonst alle Kennzahlen allen Mitarbeitern zugänglich sind, bei den Löhnen plötzlich eine auffällige Intransparenz herrscht. Das Ziel ist es dann, den Transparenzanspruch in der Organisation auch auf Löhne auszuweiten und damit das typische Dogma à la „Über das Gehalt spricht man nicht – jedenfalls nicht in einem großen Kreis“ zu überwinden.
Die Gefahr ist jedoch, dass sich alle Organisationsmitglieder kollektiv in eine von vornherein vergebliche Suche nach „gerechten Löhnen“ begeben. Es werden immer ausgefeiltere Systeme zur Bestimmung der Löhne entwickelt, immer aufwendigere Abstimmungsrunden über die Gehälter eingeführt oder immer mehr Gremien gebildet, die ein für alle zufriedenstellendes Lohnmodell einführen sollen. Die Transparenz in der Gehaltsfrage droht dabei allerdings zunehmend Aufmerksamkeit auf sich und gleichzeitig von anderen für die Organisation relevanteren Themen abzuziehen.
[1] Dazu Niklas Luhmann: Zweckbegriff und Systemrationalität. Frankfurt a.M. 1973, 140f.
[2] Karl Polanyi: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Wien 1977, 194ff.