Die Versuche, historische Entwicklungen von Gesellschaften in Kartenform zu bannen, konzentrierten sich bisher vorrangig auf die Darstellung von Staaten, Religionen und Wirtschaftsprozessen. Im geschichtswissenschaftlichen Kartenwerk werden fast ausschließlich die Ausbildung (und das Verschwinden) von Staaten, die Verbreitung von Weltreligionen und die Expansionen wirtschaftlicher Produktionszentren und Handelsprozesse dargestellt. Das Ordnungsschema von historischen Atlanten scheint sich an Funktionssystemen zu orientieren – mit deutlichen Präferenzen für die gesellschaftlichen Teilbereiche Politik, Religion und Wirtschaft.[1] Wie sähe aber ein historischer Weltatlas der Organisationen aus?
Meine Vermutung ist, dass die Darstellung erst im 14. oder 15. Jahrhundert beginnen und zunächst mit einigen wenigen Karten auskommen würde. Für das 19. Jahrhundert würde das Kartenwerk sicherlich stärker an Umfang gewinnen und zum Beispiel die Diffusion des an Humboldt orientierten Universitätsmodells nach Nordamerika oder die Verbreitung bestimmter industrieller Produktionsprozesse aufzeigen können. Für das 20. Jahrhundert würde das Kartenmaterial vermutlich eine fast explosionsartige Vermehrung des Strukturierungsmusters der Organisationen nachweisen können.
Über die Jahrhunderte setzten sich in immer mehr sozialen Feldern Organisationen als dominierendes Strukturierungsmuster durch. Während sich diese ursprünglich als Ordnungsmuster auf das Feld der Religion und des Staates beschränkten, sind heutzutage Areale wie die der Wirtschaft, der Erziehung, der Wissenschaft, des Sports oder des Tourismus maßgeblich durch Organisationen bestimmt. Begriffe wie „Organizational Revolution“, „Entstehung des Managerialismus’“ oder „Organisationsgesellschaft“ sind Versuche, die Erfolgsgeschichte des sozialen Gebildes auf einen Begriff zu bringen.
Als Standarderklärung für diese „Erfolgsgeschichte“ dient in der Regel der Verweis auf die Überlegenheit von Organisationen – und ganz besonders von Unternehmen – als Strukturierungsform von kollektiven Handlungen. In diesem Erklärungsansatz sind sich die betriebswirtschaftlich orientierte Institutionenökonomie und der politökonomisch orientierte Marxismus überraschend ähnlich. In beiden Erklärungsmodellen erscheint die Organisation als ultima ratio einer effektiven und effizienten Strukturierung von Arbeit. Die globale Durchsetzung der Organisation als Strukturierungsmuster ist aus dieser Perspektive dann lediglich der Sieg einer nach zweckrationalen Gesichtspunkten überlegenen Systemform.
Aber diese zweckrationalen Erklärungsmuster für die Expansion von Organisationen können viele Fragen nicht beantworten: Wie lässt sich die Ausweitung in Ländern, Regionen oder Sektoren erklären, in denen sich die Anforderungen nicht grundlegend verändert haben? Wie kommt es, dass sich in Staaten der sogenannten Dritten Welt komplexe Verwaltungsgeflechte ausbilden, obwohl die Wirtschaft nach wie vor vorrangig auf Subsistenzproduktion ausgerichtet ist? Warum kommt es zu einer zunehmenden Bürokratisierung beispielsweise religiöser Tätigkeiten, obwohl sich auch hier die Anforderungen nicht grundlegend verändert haben?[2]
Die Wurzeln der Organisationsbildung liegen in der Zeit des frühen Christentums. In dem Moment, in dem sich die frühe christliche Kirche zu einer religiösen Vereinigung entwickelte, die ihre Mitglieder unabhängig von askriptiven Kriterien wie Familienzugehörigkeit, Schichtzugehörigkeit oder ethnischen Wurzeln rekrutierte, waren erste Merkmale moderner Organisationsbildung zu beobachten. Mit der Ablösung der Politik und des Rechts von der Religion – und wichtiger noch mit deren Ablösung aus gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen – im England des späten 17. Jahrhunderts bildeten sich auch in diesen Feldern Organisationen aus, die zunehmend autonom über ihre Mitgliedschaft verfügen konnten. Mit der Industrialisierung differenzierte sich die Lohnarbeit als eine spezifische, von allen anderen Erwartungen befreite Rolle aus. Gearbeitet wurde nicht mehr vorrangig in der Familie, sondern die Familienmitglieder gingen getrennt unterschiedlichen Arbeiten nach.[3]
Der Mechanismus, über den sich die Organisationen anfangs besonders verbreitet haben, lässt sich als „Filialgründung“ bezeichnen. Die Prozedur der „Filialgründungen“ kann prototypisch erneut bei religiösen Organisationen beobachtet werden. Kirchen und Klöster verbreiteten über die Bildung von Subeinheiten nicht nur ihren religiösen Einfluss, sondern trugen auch maßgeblich dazu bei, dass sich ein bestimmtes Organisationsmuster ausdehnen konnte. Während dieser Ablauf anfangs auf Europa beschränkt war, dehnte sich der Diffusionsprozess mit der „Entdeckung“ neuer Kontinente auf Amerika, Asien und Afrika aus. Ein weiterer Hergang der „Filialgründung“ lässt sich bei den Handelskooperationen feststellen, die sich im 16. und 17. Jahrhundert bildeten und bereits viele Merkmale moderner Organisationen aufwiesen. Weil sich die größten Profite im Fernhandel erzielen ließen, bauten Handelskooperationen häufig militärisch gesicherte Zweigstellen in Amerika, Asien und Afrika auf. Es wurden nicht nur – wie noch beispielsweise im Venedig des 14. oder 15. Jahrhundert – vertrauenswürdige Verwandte in die Ferne geschickt, sondern es bildeten sich mit der Hudson Bay Company, der Royal African Company, der British East India Company oder der Verenigde Oostindische Compagnie große Handelsunternehmen aus, die über eine Vielzahl von Niederlassungen verfügten und so das Muster Organisation verbreiteten. Man kann sich die Expansion dieses Strukturierungsmusters wie einen Prozess der Zellteilung vorstellen. Die entstehenden Filialen funktionierten wie Zellen, die sich von der Hauptzelle abtrennten, ohne aber den Kontakt zu ihr zu verlieren. Mit dem Ende des Kolonialismus verlor das Filialmodell seine zentrale Bedeutung, ohne aber gänzlich zu verschwinden.
Nach Ende der Kolonialisierung spielte die „Kontaktinfektion“ eine zunehmend wichtige Rolle. Das Prinzip: Organisationen bilden sich deswegen aus, weil sie am besten mit anderen Organisationen kommunizieren können. Eine solche Kontaktinfektion kann man beispielsweise bei der Entstehung der öffentlichen Verwaltung in Entwicklungsländern beobachten. Häufig wird übersehen, dass das Prinzip der öffentlichen Verwaltung besonders in den Ländern Afrikas, aber auch in vielen Ländern Asiens ein neues Prinzip war. In vielen Staaten – besonders in Afrika und Asien – bildeten sich die Rudimente einer eigenständigen Verwaltung erst in den letzten Jahren der kolonialen Herrschaft aus. Es spricht vieles dafür, dass dieser Typus in Entwicklungsländern deswegen gebildet wurde, weil nur diese adäquate Ansprechpartner für Organisationen aus dem Okzident waren. Bei Unternehmen führten die zunehmend globaler werdenden Wertschöpfungsprozesse dazu, dass die Leistungen durch Zulieferer erbracht werden mussten. Es spricht einiges dafür, dass diese Zulieferer sich nicht nur deswegen als Unternehmen etablierten, weil dies die effizienteste Wertschöpfungsform war, sondern weil auch die Auftrag gebenden Unternehmen am besten mit Unternehmen kommunizieren können. Auch die explosionsartige Vermehrung von Nichtregierungsorganisationen im 20. Jahrhundert kann zumindest teilweise mit dem Phänomen der Kontaktinfektion erklärt werden. In letzter Konsequenz können sowohl die Organisationen des Westens als auch des Südens nur schwierig mit amorphen Gebilden wie „der Zielgruppe der verarmten Frauen“, der „Bewegung der Landlosen“ oder gar der „Zivilgesellschaft“ kommunizieren. Die Entstehung der NGOs ist deswegen häufig mit der „Nachfrage“ bereits existierender Organisationen nach handlungsfähigen Zusammenschlüssen zu erklären.
Man darf das Bild der Kontaktinfektion nicht als einen passiven Prozess verstehen, in dem ein „Organisationsvirus“ über das gesellschaftliche Gebilde hereinbricht. Weil es sich bei Arbeitstechniken, Koordinationsmethoden und Strukturierungsformen nicht um kleine Lebewesen handelt, die einen „sozialen Körper“ befallen, läuft die Kontaktinfektion im Sozialen immer über einen aktiven Aneignungs- bzw. Ansteckungsprozess. Eine Idee, Arbeitsform oder Technik muss, so schon der Ethnologe Bronislaw K. Malinowski, von dem einen oder andren Akteur aktiv aufgegriffen werden. Anders könnte sich eine Idee nicht in einem sozialen System verbreiten.[4]
[1] Für eine ausführliche Fassung mit umfassenden Literaturhinweisen siehe Stefan Kühl: Organizations in World Society. On the Role of Foreign Aid in the Diffusion of Organizations. In: Boris Holzer, Fatima Kastner, Tobias Werron (Hrsg.): From Globalization to World Society. London 2015, S. 258–278. Für eine ausführliche deutsche Fassung siehe ders.: Von Filial- zu Kontaktgründungen. In: Revue für postheroisches Management (2009), 5, S. 86–91.
[2] Siehe dazu Gili S. Drori, John W. Meyer, Hokyu Hwang: Introduction. Globalization and Organization. In: dies. (Hrsg.): Globalization and Organization. World Society and Organizational Change. Oxford 2006.
[3] T. Parsons: Das System moderner Gesellschaften (wie Anm. 104), 100ff.
[4] Bronislaw K. Malinowski: The Life of Culture. In: Grafton Elliot Smith, Bronislaw Malinowski, Herbert J. Spinden (Hrsg.): Culture. The Diffusion Controversy. London 1928.