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Der ganz formale Wahnsinn

Kultur - Weshalb Kulturprogramme häufig nur zur Kaschierung der faktischen Organisationskultur führen

  • Stefan Kühl
  • Mittwoch, 7. Dezember 2022
kultur

Organisationskultur ist gestaltbar – das ist ein übereinstimmendes Credo der Managementliteratur zur Organisationskultur.[1] Häufig werden „sinnvermittelnde Maßnahmen“ eingesetzt, durch welche den Mitarbeitern die „Mission“ ihrer Organisation nahegebracht werden soll. Die Beteiligung der Mitglieder an der Entwicklung eines Kulturleitbildes wird angestrebt, um gemeinsam über Veränderungen der internen Kultur zu reflektieren. Die „Anreizsysteme“ sollen so ausgerichtet werden, dass gleichzeitig Werte wie „Kundenorientierung“, „Kollegialität“, „Innovationsbereitschaft“, „Qualitätsbewusstsein“, „Konfliktbewältigung“ und „Gemeinschaftssinn“ befördert werden. Eine „Rotation von Subkulturträgern“ soll zur „Förderung der internen Kenntnis und Akzeptanz der subkulturellen Struktur“ beitragen. Eine „interdisziplinäre Lerngruppenzusammensetzung“ soll als „Maßnahme der Personalentwicklung“ dazu dienen, um die propagierten Werte in der Organisationskultur zu verankern.[2] Der Fantasie sind bei den Vorschlägen zur Gestaltung der Organisationskultur allem Anschein nach keine Grenzen gesetzt.

Dem Management wird eine zentrale Rolle bei diesem Prozess zugeschrieben. Manager würden – so die Vorstellung – dadurch, dass sie die Werte glaubwürdig vertreten und modellhaft vorleben, die Kultur der Organisation prägen. Dies kann auf unterschiedliche Weise gelingen: Über die Fragen, die sie ihren Mitarbeitern stellen, über die wichtigen Probleme, derer sie sich annehmen, sowie über die Themen, über die sie mit ihnen sprechen – all dies (und sicherlich noch viele weitere Initiativen) seien Wege, um einen unmittelbaren Einfluss auf die Organisationskultur nehmen zu können. Dabei sei es, so die Forderung in der Managementliteratur, sinnvoll, dass die Manager zwischen den verschiedenen Bereichen der Organisation rotieren, um so eine einheitliche Kultur im Gesamtgefüge zu etablieren. So könnten auch „Manager ohne Portfolio“ – „Culture Evangelists“ – ernannt werden, deren Aufgabe es sei, Fragen aufzuwerfen, Überzeugungen kritisch zu hinterfragen und neue Ideen vorzuschlagen.

Bei allen Ansätzen zur Gestaltung der Organisationskultur handelt es sich letztlich um die Reaktivierung einer alten Steuerungsfantasie – dem Traum des Managements, die informalen Netzwerke, die verdeckten Anreizstrukturen und impliziten Denkschemata so zu gestalten, dass sie die Organisation insgesamt erfolgreicher machen. Mit dem Begriff der Organisationskultur können Manager somit einerseits den klassischen Steuerungsvorstellungen abschwören, aber andererseits doch die Fiktion einer wenn auch schwerer zugänglichen Lenkung von organisationalen Ordnungen aufrechterhalten.[3] Weil die Organisationskultur eine „kollektive Programmierung des Geistes“ ermögliche, ließen sich, so der Eindruck im Management, Organisationen auch bei zentrifugalen Kräften durch Dezentralisierung einheitlich ausrichten. Weil sich über die Organisationskultur die „Herzen, die Seele und der Geist“ managen ließen, bräuchten sich Manager die Organisationen nicht mehr über hierarchische Weisungen und präzise Programmierungen zusammenzuhalten. Letztlich gebe es keine effizientere Steuerung als eine ausgeprägte, konsistente Organisationskultur.[4]

In der Außendarstellung werden Organisationskulturprojekte in der Regel als große Erfolge gefeiert. Es wird dabei so getan, als ob die wohlklingenden Wertekataloge, die im Rahmen des Kulturprozesses erstellt worden sind, in die innere Struktur eingesickert wären. Gerade die für derartige Verfahren verantwortlichen Handelnden geben sich überzeugt, dass die Formulierung einer neuen attraktiven Zielkultur zu einer faktischen Veränderung des Handelns in der Organisation führen würde bzw. bereits geführt hat. Hinter vorgehaltener Hand wird dann aber häufig über die Wirkungslosigkeit der Vorhaben geklagt.

Letztlich haben die von oben initiierten Kulturprogramme mit ihrer harmonistischen-humanistischen Prosa vorrangig Effekte auf der Schauseite der Organisation. Die Tatsache, dass Schauseitenmanagement von Organisationen betrieben wird, ist an sich nicht problematisch. Mitarbeiter haben für die lebensnotwendige „Scheinheiligkeit“ ihrer Organisation sowohl im Außen- als auch im Innenverkehr in der Regel Verständnis. Dabei wissen Mitglieder aller Hierarchiestufen sehr genau, dass sich sowohl die Organisation als Ganzes als auch einzelne Abteilungen „aufhübschen“ müssen, um gegenüber der Öffentlichkeit gut dazustehen, qualifiziertes Personal auf dem Arbeitsmarkt anlocken zu können und um von anderen Organisationen als respektabler Kooperationspartner wahrgenommen zu werden. Aber Kulturprozesse sind genau für eine solche Art von Schauseitenmanagement nicht geeignet, weil sie sich vom Anspruch her vorrangig nach innen und nicht nach außen richten.

Das Hauptproblem dieser durch Steuerungshoffnungen getriebenen Kulturprozesse ist jedoch ein anderes – die Kaschierung der faktisch existierenden Kultur einer Organisation durch die von oben verordneten Kulturprogramme, die alle auf die Erarbeitung einer idealisierten „Zielkultur“ hinaus laufen. Die Kultur der Organisation solle, so die entsprechende und im Vorlauf bereits angedeutete Vorstellung, in der Aktivierung von positiv aufgeladenen Werten wie „Kundenorientierung“, „Mitarbeiterzufriedenheit“, „Qualitätsbewusstsein“, „Ergebnisverantwortung“, „Innovationsbereitschaft“, „Kommunikationsbereitschaft“, „kollegiale Arbeitsweise“, „Konfliktbewältigungsfähigkeit“ und „Gemeinschaftsgefühl“ bestehen.[5] Aber gerade die schnelle Einigung auf eine aus Wohlfühlformeln bestehende „Zielkultur“ einer Organisation verunmöglicht den Zugriff auf das faktisch existierende Innenleben. 

In der Beraterszene wird die Geschichte eines großen Automobilkonzerns kolportiert, der sich aufgrund eines „Mea Culpa Programms“ nach einem besonders schwerwiegenden Gesetzesverstoß zu einem Kulturwandel verpflichtet hat. Für diesen Kulturwandel wurden weltweit Kulturverantwortliche identifiziert und auf eine entsprechende Reise – eine „Culture Journey“ – zu als vorbildlich geltenden Unternehmen geschickt. Während die parallel laufenden Veränderungen der Formalstruktur vorrangig von männlichen Mitarbeitern getragen wurden – allein schon deswegen, weil auf den verantwortlichen Stellen in der Fertigung und Montage als auch in der Forschung und Entwicklung fast ausschließlich Männer tätig waren –, waren die von der Bereichsleitung ernannten Kulturverantwortlichen fast ausschließlich Frauen. Diese Form von thematisch sehr begrenzter Frauenförderung sagt nicht nur sehr viel über die Kultur des Automobilkonzerns aus, sondern die Zuteilung der „harten Themen“ an Männer und der „weichen Themen“ an Frauen war auch Ausdruck davon, wie ernst die Organisationsspitze diesen Kulturprozess genommen hat. Der dadurch geschaffene „blinde Fleck“ verunmöglichte es, diesen Ausdruck von Geringschätzung wahrzunehmen, geschweige denn ihn überhaupt zu thematisieren. Im Rahmen des Kulturprozesses wurden derweil die immer gleichen wohlklingenden Werteformel produziert – Authentizität in der Kommunikation, Vertrauen im menschlichen Umgang, aufrichtige Verständigung miteinander, verlässliche Kooperation, Sachlichkeit in Konflikten. An die faktisch existierende Kultur, also die alltäglichen Praktiken in Fertigung und Montage sowie in Forschung und Entwicklung, wurden die Kulturverantwortlichen aber gar nicht erst herangelassen.[6]

Das grundlegende Probleme einer Arbeit an der Organisationskultur ist, dass es keinerlei Gewissheit gibt, wie solche Programme bei den Mitarbeitern verfangen werden. Organisationskulturen bilden sich als informale Handlungsnormen durch Wiederholung und Imitation aus. Und die so eingespielten Handlungsnormen lassen sich nicht durch einen an allgemeinen Werten orientierten Leitbildprozess verändern. Aber welche Möglichkeiten hat das Management dann überhaupt, die Organisationskultur zu beeinflussen?

Die Anwort mag im ersten Moment paradox klingen. Der einzige Hebel des Managements, die Organisationskultur zu verändern, liegt in der Veränderung der Formalstruktur. Nicht so, wie es sich ein steuerungsbegeistertes Management vielleicht wünschen mag: dass mit der Verkündung der neuen formalen Struktur auch gleichzeitig die passende Veränderung der Organisationskultur mitangeregt werden kann. Sondern vielmehr dadurch, dass jede Veränderung in den offiziellen Berichtswegen, jede Verkündigung eines neuen offiziellen Ziels, jede Einstellung, Versetzung oder Entlassung Auswirkungen darauf hat, wie die Arbeit informal in den Bereichen, Abteilungen oder Teams koordiniert wird.[7]

[1] Dieser Beitrag basiert auf einer ausführlichen Ausarbeitung in Stefan Kühl: Organisationskulturen beeinflussen. Eine sehr kurze Einführung. Wiesbaden 2018.

[2] Ich habe nur beispielhafte Zitate eines bekannten Kulturberaters herausgegriffen. Knut Bleicher: Strukturen und Kulturen der Organisation im Umbruch: Herausforderungen für den Organisator. In: Zeitschrift Führung & Organisation 2 (1986), S. 97–106, hier S. 105.

[3] So N. Luhmann: Organisation und Entscheidung (wie Anm. 147), 239f.

[4] Die Aussage über die kollektive Programmierung des Geistes ist von Geert Hofstede: Culture´s Consequences. International Differences in Work Related Values. Beverly Hills, London 1980, S. 13. Vom Managen des Herzens, der Seele und des Geistes schreibt Stanley A. Deetz, Sarah J. Tracy, Jennifer Lyn Simpson: Leading Organizations Through Transition. Communication and Cultural Change. Thousand Oaks, London, New Delhi 2000, S. 1. Die Vorstellung, dass es keine effizizientere Steuerung gibt als die Organisationskultur ist von Klaus Doppler, Christoph Lauterburg: Change Management. Den Unternehmenswandel gestalten. Frankfurt a.M., New York 2002, S. 452.

[5] Mats Alvesson: Understanding Organizational Culture. London 2013, S. 202.

[6] Siehe dazu S. Kühl: Organisationskulturen beeinflussen (wie Anm. 167), 40f.

[7] Das Argument habe ich an verschiedenen Stellen ausgearbeitet. Siehe nur beispielhaft Stefan Kühl: Organisationskultur. Eine Konkretisierung aus systemtheoretischer Perspektive. In: Managementforschung 18 (2018), 7-35; Stefan Kühl: Jenseits von zweckrationalen Steuerungsfantasien im Management. In: Maja Apelt, Ingo Bode, Raimund Hasse (Hrsg.): Handbuch Organisationssoziologie. Wiesbaden 2019, S. 1–19. Auf diesen Überlegungen

Stefan Kühl

Prof. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

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