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Der ganz formale Wahnsinn

Persönliches: Wenn gute Beziehungen wichtiger als formale Vorgaben sind

  • Stefan Kühl
  • Montag, 30. Januar 2023
persoenliches

Die weltweite „Erfolgsgeschichte“ der Organisation basiert auf der evolutionär ungewöhnlichen Trennung von Rollen in der modernen Gesellschaft.[1] Die Rolle als Organisationsmitglied ist institutionell von allen anderen Rollen dieser Person getrennt. Einerseits bedeutet dies, so schon Niklas Luhmann, dass ein organisationsexterner Status nicht ohne Weiteres in die Organisation übertragen werden kann: „Väter, Erstgeborene, Hausbesitzer oder Mittelstürmer haben in der Organisation auf Grund dieses externen Status keine besonderen Rechte“, obgleich „hoher Status in der Außenwelt durchaus Prestige, Beziehung und Einfluss einbringen kann“. Andererseits erlaubt erst diese Trennung zwischen Rollen, dass „unangemessene Ansprüche zurückgewiesen werden können“. Mit dem Eintritt in eine Organisation geht das neue Mitglied die Verpflichtung ein, in seiner Rolle als Organisationsmitglied von den aus anderen Zusammenhängen entstehenden persönlichen Verpflichtungen zu abstrahieren. Dies ermöglicht einem Organisationsmitglied, Ansprüche zurückzuweisen, wenn „man im Dienst als Verwandter, Logenbruder, Parteigenosse oder Urlaubs­bekannter angesprochen wird“.[2]

Veranstaltungshinweis

Live-Podcast am 23.02.

Diese Rollentrennung wird dadurch gestützt, dass von Mitgliedern einer Organisation eine vollständige und nicht nur graduelle Unterwerfung unter die Regeln des sozialen Systems erwartet wird. Die Mitgliedsrolle basiere, so Luhmann weiter, auf einer eindeutigen Grenzdefinition, nämlich „darauf, dass sich feststellen lässt, welche Erwartungen formalisiert und in die Mitgliedsrolle aufgenommen sind, dass sichtbar ist, wo das Handeln vom Dienstlichen ins Persönliche oder vom Persönlichen ins Dienstliche umschlägt“. Diesen formalen Erwartungen muss sich ein Organisationsangehöriger immer unterwerfen. Bei jeder Kommunikation innerhalb einer Organisation fragt sich ein Mitglied, ob es sich gerade den formalen Erwartungen entsprechend verhält oder nicht und ob es mit einer Ablehnung der Angelegenheit die gesamte Mitgliedschaft aufs Spiel setzt. Die Frage, die gerade bei problematischen Anforderungen im Raum steht, lautet: „Kann ich Mitglied bleiben, wenn ich diese und jene Zumutung offen ablehne?[3]

Erst durch diese Ablösung der Rollenerwartungen von den an das Mitglied adressierten persönlichen Anforderungen konnte die Organisation eine Autonomie als eigenständiges soziales System ausbilden, rechtlich gesprochen also zu einer „juristischen Person“ werden. Sie gewährleistete, dass für das Eingehen einer Beziehung mit der Organisation nicht das Ansehen der Kontaktperson als relevant angesehen wurde, sondern man davon ausgehen konnte, dass ein Organisationsmitglied die Organisation vertritt. Die Ausbildung von Organisationen als juristische Personen stellte weiterhin sicher, dass eine Organisation nicht mit dem Tod eines Spitzenmitglieds zusammenbrach, sondern allgemein davon ausgegangen werden konnte, dass die Organisation mit einem neuen Amtsinhaber vielleicht nicht mehr die völlig gleiche, aber eine recht ähnliche war. Sie ermöglichte schließlich auch, dass die Organisation Verpflichtungen eingehen konnte, die auch den Wechsel eines Amtsinhabers überstehen konnten.[4]

Aus dieser Perspektive kann eine Besonderheit der Organisationen in vielen Entwicklungsländern in der mangelnden Abschottung gegenüber anderen Rollen gesehen werden. Für die Kommunikationswege lässt sich beispielsweise zeigen, dass diese häufig nicht dem im Organigramm festgeschriebenen Dienstweg folgen, sondern anhand von familiären, ethnischen oder freundschaftlichen Netzwerkstrukturen funktionieren. Derartige Prozesse sind auch für westliche Organisationen ausführlich beschrieben worden. In diesen Fällen ist es jedoch üblich, dass im Konfliktfall der formal vorgeschriebene Kommunikations- und Entscheidungsweg über die informellen Kommunikations- und Entscheidungs­wege obsiegt und die sich auf informalen „Abwegen“ befindlichen Mitarbeiter ein Bekenntnis zur Formalstruktur ablegen müssen. In Organisationen in Entwicklungsländern wird diese Notwendigkeit häufig nicht gesehen. Auch im Konfliktfall fühlen sich Mitarbeiter im Recht, wenn sie sich auf eingespielte, aber nicht offiziell abgesegnete Trampelpfade berufen.

Es scheint geradezu die Besonderheit von Organisationen in Entwicklungs­ländern zu sein, dass sie zu einer nur graduellen Inklusion von ihren Mitgliedern fähig sind. Der Angestellte einer Stadtverwaltung mag nicht, wie formal festgeschrieben, jeden Tag in seiner Behörde erscheinen, aber es ist ungeschriebene Regel, dass man wenigstens drei Tage pro Woche vor Ort ist. In ländlichen Gegenden Westafrikas ist der Lehrer vielleicht nicht wie vorgeschrie­ben zu den Unterrichtszeiten im Klassenraum, aber er hält sich an die informelle Norm, dass er in der Zeit die Schüler mit zu lösenden Aufgaben versorgt. In der Organisationsforschung wird dieses Phänomen als „konkurrierende informelle Institution“ bezeichnet.[5]

Die externen Erwartungshaltungen, zum Beispiel von Verwandten oder Freunden, sind dabei häufig stärker als die Erwartungshaltungen der Organisation selbst und führen zu Korruption, persönlicher Bereicherung oder Patronage. Empirisch sind diese Phänomene für Organisationen in verschiedenen Regionen herausgearbeitet worden. Im Nahen und Mittleren Osten wird die starke Rolle von Netzwerken als „Wasta“ bezeichnet. Gemeint sind damit als Selbstverständ­lichkeit vorausgesetzte Gefälligkeiten zwischen Verwandten sowie Unterstüt­zungen zwischen Freunden und Bekannten, wobei darauf geachtet wird, dass das „Wasta-Konto“ der Beteiligten langfristig ausgeglichen wird und Gefälligkeiten, die von Personen, zu denen keine Kontakte bestehen, mit Naturalien eingefordert werden. In Mittel- und Südamerika wird dieses Prinzip als „Confianza“ bezeichnet. Es handelt sich um Vertrauensbeziehungen, in denen eine illegal erbrachte Leistung nicht sofort entgolten, sondern lediglich langfristig ausgeglichen wird. Das Prinzip der „Guanxi“ in China beschreibt ein über längere Zeit etabliertes Netzwerk von Individuen, über das Personen versuchen, an Dienstleistungen oder Produkte zu gelangen. Weil das Guanxi-Prinzip quer zu den Formalstrukturen von Organisationen verläuft, besteht ein fließender Übergang zum Phänomen der Korruption.

Aus wissenschaftlicher Perspektive entstehen alle diese Phänomene aus einer spezifischen Situation in Entwicklungsländern: der nur begrenzten Ausdifferenzierung der Organisationen. Die Anforderungen der Organisationen an ihre Mitglieder sind nur schwach formalisiert. Es ist nicht gelungen, die Anerkennung der formal geäußerten Erwartungen zur Mitgliedschaftsbedingung zu machen. Es besteht kaum eine kausale Verbindung zwischen dem, was ein Organisationsmitglied tut, und der Frage, ob es in der Organisation verbleiben kann oder nicht. Das Problem hierbei liegt in dem Umstand, dass Organisationen mit nicht oder nur sehr begrenzt autonom steuerbaren Mitgliedschaften einen Verlust ihrer formalen Steuerungskapazitäten hinnehmen müssen.[6]

[1] N. Luhmann: Organisation und Entscheidung, S. 280.
[2] Eine umfassende Ausarbeitung mit ausführlichen Literaturangaben findet sich in S. Kühl: Organizations in World Society.
[3] N. Luhmann: Funktionen und Folgen formaler Organisation, S. 65.
[4] Ebd., 43 und 40.
[5] Siehe dazu N. Luhmann: Soziale Systeme (wie Anm. 255), 430f.
[6] Hans-Joachim Lauth: Informal Institutions and Democracy. In: Democratization 7 (2000), S. 21–50, hier S. 25.

Autor
Stefan Kühl

Prof. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

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