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Der ganz formale Wahnsinn

Programme - Warum gute Fußballer selten auch gute Schiedsrichter sind

  • Stefan Kühl
  • Mittwoch, 7. Dezember 2022
programm

Als der langjährige deutsche Nationalspieler Lothar Matthäus gefragt wurde, ob er sich vorstellen könnte, nach seiner Karriere als Fußballspieler Profischiedsrichter zu werden, offenbarte er mal wieder seine Fähigkeit, auch komplexere Sachverhalte auf den Punkt zu bringen. „Schiedsrichter kommt für mich“, so Matthäus, „nicht in Frage, schon eher etwas, was mit Fußball zu hat.“

Ganz unrecht hat er nicht, gibt es doch viele Profifußballer, die nach ihrer aktiven Karriere Fußballtrainer, Vereinsmanager, WM-Organisator oder Fußballkommentatorin werden, aber keinen einzigen, der sich zum Schiedsrichter mausert. Wie kommt das? Liegt es lediglich daran, dass die 3000,- oder 4000,- Euro, die ein Profischiedsrichter pro Spiel erhält, ein Pappenstiel im Vergleich zu den Zinsen ist, die ein Fußballprofi auf seine Rücklagen enthält? 

Eine mögliche Antwort kann man bei James March und Herbert Simon finden – zwei Wissenschaftler, die eigentlich nicht im Verdacht standen, jemals einen Ball weiter als 10 Meter getreten zu haben. Die beiden Organisationsforscher haben für Unternehmen, Verwaltungen und Universitäten festgestellt, dass die dort tätigen Mitarbeiter durch ganz unterschiedliche Regeln geprägt sind. Die einen sind Spezialisten für Zweckprogramme – für die kreative Wahl von Mitteln, um ein angestrebtes Ziel zu erreichen –, während die anderen eher Experten für Konditionalprogramme sind und darauf spezialisiert sind, bestimmte Impulse zu identifizieren, mit denen sie dann auf ein genau festgelegtes Instrumentarium reagieren.[1]

Fußballer sind – ähnlich wie Basketballer, Handballer oder Baseballspieler – Spezialisten für eine kreative Wahl von Mitteln, um das sehr genau vorgegebene Ziel – Gewinn des Spiels – zu erreichen. Um die dafür notwendigen Tore zu erzielen, kann sich ein Spieler im Rahmen der Regeln vieles einfallen lassen: Er kann den Ball über einen Doppelpass ins Tor tragen, den Ball über den Torwart heben oder mit einem knallharten Direktschuss in die linke Ecke die Gegner überraschen. Mit hervorragender Technik, guter Kondition und taktischem Gespür kann man es zu einem sehr guten Spieler bringen, zur Weltklasse wird man aber erst, wenn man ein untrügliches Gespür für die richtige Wahl der Mittel hat.

Die Logik des Trainers oder Managers ist von der Logik des Fußballers nicht weit entfernt. Auch hier geht es um die kreative Wahl von Mitteln, um eine Fußballmannschaft zum Erfolg zu führen. Klar – der Trainer ist in den neunzig Minuten des Spiels zur körperlichen Passivität verdammt, aber vor, während und nach dem Spiel besteht die Arbeit des Trainers vorrangig darin, für das Ziel des Spielgewinns eine Vielzahl von entsprechenden Strategien zu entwickeln, zu erproben und in ihrer Anwendung zu perfektionieren. 

Aber Schiedsrichter ticken grundsätzlich anders – und das ist gut so. Eine Ausrichtung der Unparteiischen an der Logik des Fußballers oder Trainers hätte auch für das internationale Schiedsrichterwesen verheerende Auswirkungen. Wir brauchen uns nur vorzustellen, wenn ein Schiedsrichter das Ziel „möglichst reibungsloser und inspirierender Ablauf des Spieles“ vorgegeben bekäme und er seine Professionalität vorrangig darin sehen würde, seinerseits einfallsreiche Mittel zu finden, um das Ziel zu erreichen. Er würde der Gastmannschaft einen Elfmeter versagen, weil dies Unruhe in den Zuschauerrängen auslösen würde. Er könnte das Spiel vorzeitig abpfeifen, weil er das Ziel eines für alle befriedigenden Fußballmatches bereits nach 75 Minuten erfüllt sieht.[2]

Nein, Schiedsrichter sind perfektionierte Wenn-Dann-Maschinen: wenn Foul im Strafraum, dann Elfmeter; wenn Notbremse als letzte Frau oder letzter Mann, dann rote Karte. Die Aktivität eines Schiedsrichters besteht einzig und allein darin, im Laufe eines Spieles permanent nach Impulsen zu recherchieren, die laut Regelbuch eine Reaktion verlangen. Man darf die Schwierigkeit dieser Aufgabe nicht unterschätzen. Schiedsrichter ähneln an dieser Stelle Richtern, bei denen die Feststellung eines Tatbestandes ebenfalls eine komplizierte und wegen ihrer Komplexität häufig auch leicht kritisierbare Angelegenheit ist.

Man kann also nicht sagen, wer die schwierigeren Aufgaben hat – die Fußballprofis oder die Schiedsrichter. Aber Matthäus hat vollkommen Recht, wenn er darauf hinweist, dass die Funktionsweise eines Schiedsrichters ganz und gar nichts mit der Erfahrungswelt eines Fußballprofis zu tun hat.

[1] J. G. March, H. A. Simon: Organizations (wie Anm. 100), S. 141.

[2] Siehe zu Schiedsrichtern aufschlussreich Dietrich Zur Nedden, Michael Quasthoff: Pfeifen. Vom Wesen des Fußballschiedsrichters. Göttingen 2006.

Stefan Kühl

Prof. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

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