Skandale wegen Regelverletzungen oder Gesetzesbrüchen sind Wachstumsprogramme für die Compliance-Abteilungen – den Spezialisten für Regeltreue in Organisationen. Bei Bekanntwerden eines Skandals fordern die gleichen Politiker, die über Jahre kreative Gesetzesinterpretationen geduldet haben, in Talkshows, dass sich Organisationen strikt gesetzeskonform zu verhalten haben. Lobby-Organisationen für mehr Transparenz beklagen öffentlich die Schwächen der bestehenden Compliance-Systeme und fordern, dass die Spezialisten für die Regeleinhaltung nicht nur die Annahme von Geschenken und die Abrechnung von Spesen überwachen, sondern auch die Einhaltung von Umweltschutzstandards, Menschenrechten und Produktionsbedingungen kontrollieren sollten. Und skandalgeschüttelte Organisationen kommen dieser Aufforderung zum Ausbau der Compliance-Abteilung gerne nach, weil dadurch kostengünstig die Legitimität der Organisation wieder aufgebaut werden kann.[1]
Aber dabei gibt es ein Problem. Die Mitarbeiter der Compliance-Abteilungen haben als Spezialisten für die Einhaltung von Regeln kaum Verständnis für die Funktionalität von alltäglichen Regelabweichungen. Compliance-Abteilungen sind für die Schauseite der Organisation notwendig, sie bekommen deswegen aber von den anderen Abteilungen auch immer nur eine Schauseite präsentiert. Die Anwesenheit von Mitarbeitern aus der Compliance-Abteilung führt bei Workshops, in denen über die realen Arbeitsprozesse gesprochen werden soll, automatisch zu Zensurmechanismen, die man sonst nur bei dem Besuch von Top-Führungskräften beobachten kann. In den Compliance-Abteilungen sitzen deswegen in der Regel die Mitarbeiter, die am wenigsten wissen, was im Unternehmen gerade los ist.
Nach einem Skandal erstellen Organisationen – nicht selten getrieben durch die Abteilung für Compliance – immer neue formale Regeln, allerdings ohne das bestehende Regelwerk grundlegend zu überarbeiten. Und selbst da, wo die formalstrukturellen Regeln überarbeitet werden, komme es, so die Beobachtung, fast nie zu einem Ausdünnen des Regelwerkes, sondern eher zu einem „Vergenauern“. Es würden immer mehr Regelspezifikationen, Auslösebedingungen und Ausnahmeregeln definiert, um endlich „Klarheit“ zu schaffen. Der Effekt wäre dann, dass die Formalstruktur der Organisation anfängt „nach innen“ zu wuchern.[2]
Organisationswissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass die Detaillierung der formalen Regeln, die Zuweisung von klaren Verantwortlichkeiten und die damit verbundenen weitreichenden Protokollierungspflichten zu einer erheblichen Verschärfung der üblichen Pathologien bürokratisierter Organisationen führen. Bei Polizeien führt die Erhöhung der Dokumentationspflichten und eine damit verbundene verstärkte Überwachung durch Vorgesetzte dazu, dass Polizisten sich auf „Papierkriege“ konzentrieren. In Universitäten führt die Bestrebung, Mauscheleien bei der Besetzung von Professuren oder Rektoraten durch detailliertere Regeln und die Herstellung eines hohen Maßes an Transparenz zu verhindern, zu einem Anwachsen der auch öffentlich einsehbaren Dokumentationen.[3]
Diese Auswirkungen der Verfeinerung des formalen Regelwerkes sind besonders bei durch Skandale erschütterten Organisationen zu beobachten. Anfangs leiden die Organisationen an den durch die Gerichte angeordneten Strafzahlungen, dem Weggang der für die Gesetzesverstöße verantwortlich gemachten Führungskräfte und dem Reputationsverlust in der Öffentlichkeit. Diese Effekte schleichen sich aber aus, weil sich die Verfahren vor Gerichten klären, neue Führungskräfte eingearbeitet werden und die massenmediale Aufmerksamkeit nicht zuletzt durch Skandale anderer Organisationen nachlässt. Immer deutlicher treten dann aber die Auswirkungen des verfeinerten formalen Regelwerkes und der verstärkten Regelüberwachung zutage: Die Organisation hat an Schnelligkeit in der Entscheidungsfindung eingebüßt und Flexibilität ist verloren gegangen. Die Delegitimierung jeder Form von Regelabweichung und Regelverletzung führt, so Sebastian Barnutz und Sven Kette, zu einer „unbrauchbaren Legalität“, sodass gar ein „Scheitern nach Vorschrift“ droht.[4]
Die Herausforderung besteht darin, die brauchbaren Illegalitäten so zu managen, dass bei ihrem Bekanntwerden eine Organisation nicht daran zerbricht.[5] Voraussetzung dafür ist aber auch, dass zugestanden wird, dass keine Organisation auf die alltäglichen Regelabweichungen verzichten kann und auch nicht jeder beobachtete Regelbruch sofort zu einer Bestrafung der Verantwortlichen und der Abschaffung der Regelabweichung führen muss. In den meisten Organisationen mangelt es jedoch am Wissen, wie man in Einzelgesprächen und Beobachtungsinterviews die informalen Prozesse erhebt, wie das Wissen so aufbereitet wird, dass es nicht gleich vom Immunsystem der Vorgesetzten abgestoßen wird, und wie man die Prozesse wenigstens teilweise in Workshops besprechbar und damit auch veränderbar macht. Das ist aber nötig, damit das Management signalisieren kann, welche „innovativen Wege“, „großzügigen Regelinterpretationen“ und „Ausnahmen von der Regel“ akzeptiert und erwartet werden und welche zu weit gehen. Letztlich scheitern Organisationen nicht an ihren alltäglichen Regelabweichungen, sondern an dem unprofessionellen Management ihrer brauchbaren Illegalitäten.
[1] Die Überlegungen habe ich erstmals am Beispiel des Abgasskandal bei Volkswagen ausgearbeitet. Stefan Kühl: An VW wird das Falsche kritisiert. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (29.9.2015).
[2] Sven Kette, Sebastian Barnutz: Compliance managen. Eine sehr kurze Einführung. Wiesbaden 2019, S. 57.
[3] Siehe für die klassische Studie Frank Anechiarico, James Jacobs: The Pursuit of Absolute Integrity. How Corruption Control Makes Government Ineffective. Chicago 1996.
[4] Ebd.
[5] Siehe dazu auch Marcel Schütz, Richard Beckmann, Heinke Röbken: Compliance-Kontrolle in Organisationen. Wiesbaden 2018.