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Gruppendynamik

Die Entmutigung von Rollendifferenzierung in gruppendynamischen Trainings

  • Stefan Kühl
  • Montag, 26. Februar 2024

Im Gegensatz zu Organisationen kann man sich in Gruppen als Person nicht hinter eine Rolle zurückziehen. Unter dem Prinzip Rolle versteht man ein „Bündel von Erwartungen“, die sich an das Verhalten der Träger von Positionen knüpfen. Es geht also um Erwartungen, die „ein Mensch ausführen kann“, die „aber nicht auf bestimmte Menschen festgelegt sind“, sondern durch „verschiedene, möglicherweise wechselnde Rollenträger“ wahrgenommen werden. Hier wird von Erwartungen gegenüber Einzelpersonen abstrahiert.   

Während in Organisationen derjenige begründungspflichtig ist, der Auskünfte über das Verhalten anderer Rollen außerhalb der Organisationsrolle haben will, ist bei Gruppen derjenige begründungspflichtig, der keine Informationen über andere Rollen als die in der Gruppe eingenommene geben will. Das hat zur Konsequenz, dass die Ausdrucksweise von Gefühlen in Gruppen häufig verlangt und erwartet wird, während diese in Organisationen häufig sorgsam unterdrückt werden muss.

Wie verhält es sich mit der Ausbildung von Rollenerwartungen in gruppendynamischen Trainings?

Die begrenzte Ausdifferenzierung von Rollen in gruppendynamischen Trainings

Die Teilnehmer eines gruppendynamischen Trainings nehmen eine Rolle ein – nämlich als aktiver Teilnehmer der gruppendynamischen Situation. Dadurch werden eine ganze Reihe von Verhaltenserwartungen festgelegt: die Teilnehmer treffen sich zu den angegebenen Zeitpunkten in einem Seminarraum, verlassen ihn zu den vorgegebenen Zeiten und nehmen gemeinsam die Mahlzeiten im Hotel ein. Sie erklären sich mit den in der Ausschreibung dargestellten Zielen des Trainings einverstanden, sie akzeptieren die Spezifikationen, die ihnen von den Trainern zu Beginn gegeben werden und zeigen eine Bereitschaft, sich erst einmal auf das so geschaffene Setting einzulassen.

Auf den ersten Blick mag die Rolle der Teilnehmer eines gruppendynamischen Trainings der von Luhmann dargestellten Mitgliedsrolle in Organisationen ähneln. Die Mitgliedsrolle ist, so Luhmann, von anderen Rollen im System dadurch gekennzeichnet, dass sie als „Prämisse für Eintritts- und Austrittsentscheidungen fungiert“. Das Mitglied einer Organisation entscheidet selbst in ein System einzutreten und in ihm zu verbleiben und bindet sich dadurch an eine Vielzahl von Erwartungen, die im System an ihn herangetragen werden.

Bei näherer Betrachtung wird jedoch ein grundlegender Unterschied deutlich – denn in Organisationen dient die Mitgliedsrolle dazu, eine Vielzahl von weiteren Rollen festzulegen. Das Mitglied wird einer Abteilung zugeordnet, in eine Hierarchie eingefügt und mit abzuarbeitenden Programmen konfrontiert.

Kurz: Die Mitgliedsrolle wird in Organisationen also mit einer Vielzahl von zusätzlichen Rollenanforderungen aufgeladen, während dieser explizite Mechanismus in gruppendynamischen Trainings systematisch unterbunden wird, indem von den Teilnehmern keine über die Mitgliedsrolle hinausgehenden Rollenerwartungen eingefordert werden.

Das bedeutet, dass in gruppendynamischen Trainings keine Sicherheit durch vorweg definierte Rollen geboten wird. Die Trainer, die sich als einzige in einer Rolle mit klaren Verhaltenserwartungen befinden, enttäuschen dabei durch die initiale Distanz, dass sie den Teilnehmern in der Situation auch nur minimale Rollensicherheit anbieten. Sie stellen keine Agenda auf, verweigern sich ein Thema vorzugeben, verteilen keine Redebeiträge und greifen bei Konflikten nicht ein. Die Gruppe wird auf sich selbst zurückgeworfen.

Wie kommt es, dass es in gruppendynamischen Trainings – und in Gruppen im Allgemeinen – selten zu einer Ausdifferenzierung von Rollen kommt?

Das „Hier-und-Jetzt“-Prinzip als Treiber für die geringe Rollendifferenzierung

Eine Grundregel in gruppendynamischen Trainings ist das „Hier-und-Jetzt“-Prinzip. Das „Hier-und-Jetzt“-Prinzip geht davon aus, dass sich die Mitglieder einer Gruppe auf die „Kontrolle, Einschätzung und das Verstehen der konkreten Realität ihrer unmittelbaren Erfahrungen in der Gruppe“ konzentrieren sollen. Erforscht wird von den Gruppenmitgliedern unter Einschluss und Anleitung der Trainer das Geschehen im „Hier und Jetzt“. „Jeder wird ermutigt, zugleich als Beobachter und Teilnehmer, als Diagnostiker und als Handelnder, als Planer, Ausführender und Auswertender, als Theoretiker und als Praktiker, als ein Gefühl Ausdrückender und als Kritiker ihres Ausdrucks, als Helfender und als Klient zu fungieren“.

Das „Hier-und-Jetzt“-Prinzip wird von Gruppendynamikern ausdrücklich mit der Verhinderung von Rollenbeziehungen begründet. Die „Begegnung zwischen Menschen“ wird, so die Überlegung, erst dadurch ermöglicht, dass zwischen „den Beteiligten keine distanzierenden Rollenbeziehungen“ existieren“. Das Lernen über sich selbst soll bei „konkreten Selbst- und Situationserfahrung“ ansetzen und nicht bei verschwommenen Erinnerungen, sowie anderen Rollenerfahrungen oder theoretischen Konzepten. Der „Hier-und-Jetzt“-Prinzip steht insofern dem „Da-und-dort“-Prinzip gegenüber, in dem ein Training eher der Reflexion des Rollenverhaltens außerhalb der Gruppe dient.

Selbstverständlich gehen die Teilnehmer mit einem Vorwissen über ihre unterschiedlichen Rollen in das Training. Sie kennen rollenspezifische Verhaltenserwartungen, die außerhalb des Trainings an sie herangetragen werden. Doch genau die Bedeutung dieser außerhalb des Trainings bedeutsamen Rollen, wird durch das zu Beginn des Trainings verkündete „Hier-und-Jetzt“-Prinzips reduziert und die Bezugnahme auf Rollen außerhalb des Trainings von Trainern – und irgendwann auch anderen Teilnehmer – entmutigt.

Zur Ausbildung von Figuren in gruppendynamischen Trainings

Während in Organisationen aus der allgemeinen Mitgliedschaftsrolle eine Vielzahl formal spezifizierter Erwartungen definiert werden, die sich mit dem Verweis auf den möglichen Verlust der Mitgliedschaft auch durchsetzen, bilden sich in Gruppen in der Regel nur allgemeine Werte wie der faire Umgang miteinander, die Pflege von Geheimnissen oder die Verteidigung der Gruppen gegen Anfeindungen aus. Das erklärt, weswegen wir in gruppendynamischen Trainings kaum die Ausbildung klarer formaler Rollen, dafür aber die Entstehung vielfältiger Figuren beobachten können.

Mit dem Begriff der Figuren bezeichnet Heinrich Popitz eine Verhaltenserwartung, die gegensätzlich zur Rolle mit einer konkreten Person verbunden wird. Der Unterschied zwischen Figuren und Rollen besteht darin, dass ihnen das „normative Gewicht“ fehlt. Die einzelnen Figuren, die sich in Gruppen ausbilden gehören, so Popitz, zwar zum „Erwartungsbild“, werden „aber nicht mit einem verbindlichen Durchsetzungsanspruch belastet“. 

In gruppendynamischen Trainings lässt sich die Ausbildung verschiedener „Gruppen-Figuren“ beobachteten: Eine Person die zu viel redet, aber die Gruppe nicht voranbringt, wird dadurch zum „Watschenmann“ oder „Prügelknaben“ der Gruppe. Es entstehen „Mutterfiguren“ oder „Beichtväter“, die sich als Seelsorger für die persönlichen Probleme der anderen Teilnehmer präsentieren und jemand, der die Stille nicht aushält, droht schnell zum „Alleinunterhalter“ zu werden.

Die Figuren entspringen in den gruppendynamischen Trainings jedoch keinesfalls aus dem „Nichts“. Die Illusion, dass sich die Figuren aus der „Individualität der Beteiligten“ ergeben, liegen, so Popitz, bereits in den meisten Fällen schon als „standardisierte Verhaltensmuster“ parat. Da Personen im Laufe ihres Lebens immer wieder an der Bildung von Gruppen beteiligt sind, sie die Funktionsweisen anderer Gruppen beobachten und über massenmediale Einflüsse eine Vorstellung ihrer Dynamik erhalten, gibt es einen „relativ großen Bestand an Erfahrungen“, anhand denen sich Gruppen in ihrer Ausdifferenzierung von Figuren orientieren.

Dadurch können „Figuren“ einige – für die Existenz der Gruppe – wichtige Funktionen darstellen, wie die Integration, die Außenvertretung oder die Führung und diese auf einzelne Gruppenmitglieder verteilen. Dabei könne sich, laut Popitz, das Zusammenspiel der Gruppe „so auf die einmal vorgenommene Verteilung“ immer stärker „einrasten“. Die Erwartungshaltung steigt, dass in der Gruppe „eine bestimmte Person“ erneut diese einmal von ihr angenommen „Gruppen-Figur“ spielen wird.

Figuren wie die „Mutterfigur“, die „Beichtväter“, der „Watschenmann“, der „Prügelknabe“ oder „Alleinunterhalter“, können sich auch in Organisationen ausbilden und besitzen gerade in der informalen Erwartungsstruktur von Organisationen vielfach wichtige Funktionen, die ihre Bedeutung jedoch durch formal bestimmte Rollen überlagert. Da in Gruppen keine formalen Rollen zur Verfügung stehen, übernehmen Figuren eine wichtige Funktion. Ein zentraler Lerneffekt gruppendynamischer Trainings besteht darin, genau diese Ausbildung von Figuren als „Sonderform“ personenbezogener Erwartungsbildung zu beobachten und zu reflektieren.

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Organisationen im Labor?

Autor
Stefan Kühl

Prof. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

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Kommentar (1)

  1. Felix Schiedner sagt:

    Interessant! Meine Erfahrungen im Gruppendynamischen Seminar liegen schon etwas zurück. Ich empfand das damals als anspannend und künstlich, mit einer starken Tendenz Gewinner und Verlierer zu erzeugen. Da ich mich darauf vorbereitet hatte kam ich gut dabei weg – immerhin gehören Tränen dazu, sonst war’s ja nichts. Ich fands komisch, eine Teilshme war auch ein Standard im damaligen Team, trotzdem habe ich wohl erlebt, erfahren und gelernt.

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