Systemtheoretiker sind überrascht, wenn Praktiker das Konzept der Selbstorganisation für sich entdecken – schließlich ist es die grundlegende Strukturierungsform einer jeden Organisation. Organisationen stehen verschiedene Mechanismen der selbstorganisierten Entscheidungsfindung zur Verfügung: Neben Abstimmungen, Konsensfindung und Ausmauscheln gehört in vielen Organisationen auch die Strukturierung über Hierarchie dazu.
„Aber Nein!“, rufen die Praktiker angesichts dieser systemtheoretischen Verwendung des Begriffs, „so verstehen wir Selbstorganisation nicht“. Es ginge bei Selbstorganisation darum, dass Teams, Bereiche oder Abteilungen ohne hierarchische Eingriffe von außerhalb und ohne Ausbildung einer eigenen Hierarchie zu Entscheidungen kommen. Selbstorganisation umfasst also, anders als bei den Systemtheoretikern, gerade nicht hierarchische Steuerung, sondern wird von Praktikern vielmehr als das Gegenteil verstanden.
Auch Selbstorganisation findet in einer Struktur statt
Zugestanden – jede und jeder kann Worte so bestimmen, wie sie oder er es möchte. Aber das Wuchern des Begriffs der Selbstorganisation verdeckt, dass Selbstorganisation in den meisten Fällen im Rahmen einer hierarchisch strukturierten Organisation zu finden ist. Sicherlich – es gibt „selbstorganisierte Organisationen“, die komplett auf Hierarchien verzichten. Man denke an ländliche Kommunen, politische Basisorganisationen oder selbstverwaltete Betriebe. In den meisten Fällen werden jedoch „Inseln der Selbstorganisation“ in Form von sich selbststeuernden Teams oder teilautonomen Gruppen in eine hierarchische Grundstruktur eingepasst. Diese Einbettung in eine hierarchische Grundstruktur führt zu Effekten, die in der Begeisterung für Selbstorganisation häufig übersehen wird.[1]
Das Spezifische einer hierarchischen Grundstruktur ist, dass jedes Thema bei Bedarf von unten auf eine höhere Ebene gezogen werden kann. Zwar mögen die sich in der Hierarchie weiter oben befindlichen Verantwortlichen nur in Ausnahmesituationen zu der Maßnahme greifen, weiter unten verortete Verantwortung an sich zu ziehen, doch behalten sie sich immer das formale Recht vor, jede weiter unten angesiedelte Entscheidungssituation und sonstige Problembereiche zur „Chefsache“ zu erklären. Selbst wenn Entscheidungen selbststeuernden Teams oder teilautonomen Gruppen überlassen werden, kann die nächste höhere hierarchische Ebene auf ihr einklagbares Weisungsrecht zurückgreifen und die Entscheidungsfindung wieder zurücknehmen.
Diese Eingriffe der Hierarchie geschehen nicht aus böser Absicht, sondern hängen mit der Verantwortungszurechnung in hierarchisch strukturierten Organisationen zusammen. Weil in Hierarchien jedes Thema nach oben gezogen werden kann, kann sich keine Chefin dadurch aus der Affäre ziehen, dass sie auf die Verantwortung der ihr untergebenen Einheiten verweist. Sie würde sich sofort den Vorwurf einhandeln, dass sie in einer Krisensituation nicht von ihren hierarchischen Eingriffsmöglichkeiten Gebrauch gemacht habe. Ein Verweis darauf, dass die Entscheidung nicht von ihr, sondern von ihren „selbstorganisierten Mitarbeitern“ getroffen wurde, würde nicht als Entschuldigung akzeptiert werden. Auch der Hinweis auf die Unkenntnis einer Situation wäre nicht legitim, solange die Entscheidung in ihrem Aufgabenbereich getroffen wurde.
Die Verantwortung bleibt letztendlich beim Vorgesetzen
Entgegen des Postulats in der Managementliteratur lässt sich mit guten Gründen behaupten, dass die Verantwortung der hierarchisch vorgesetzten Führungskraft durch die Einrichtung von selbststeuernden Einheiten nicht reduziert wird. Die Manager behalten letztendlich die Verantwortung für die Entscheidungen, die von selbstorganisierten Teams, autonomen Profitcentern oder gar rechtlich selbstständigen und räumlich entfernten Netzwerkunternehmungen getroffen werden. Daraus entstehen dann sowohl Rechte als auch die Notwendigkeit für Führungskräfte, in die sich selbststeuernden Einheiten einzugreifen.
Für die Manager entstehen in den selbststeuernden Einheiten deswegen permanent Fragen, ob sie es jetzt selbst machen können, ob die Vorgesetzten eingebunden werden sollen oder sie es gar selbst entscheiden müssen. Bei den Mitarbeitern in den selbststeuernden Einheiten entsteht der Eindruck, dass man selbst entscheiden darf, aber immer unter Vorbehalt. Die eigene Entscheidung scheint immer nur so lange in Ordnung zu sein, wie sie der Vorstellung der Führung nicht grundsätzlich widerspricht.
Die Lösung, die Praktiker für dieses Problem vorschlagen, ist simpel. Die selbststeuernden Teams und teilautonome Einheiten müssten sich mit der nächsthöheren hierarchischen Ebene verbindlich über Entscheidungskompetenzen verständigen. Das ist dann aber alles andere als originell. Seit es moderne Organisationen gibt, hat es immer schon eine solche Verteilung von Entscheidungskompetenzen über verschiedene hierarchische Ebene gegeben. Selbst in der klassischen bürokratischen Organisation wurden dabei – schon aus Entlastungsgründen – immer auch Kompetenzen von oben nach unten abgegeben. Diese Dezentralisierung von Entscheidungskompetenzen änderte aber nichts daran, dass die hierarchische Grundstruktur einer Organisation es höheren Ebenen ermöglicht, in die Selbstorganisationsprozesse weiter unten einzugreifen.
[1] Siehe zum Folgenden – basierend auf einer empirischen Studie – S. Kühl: Sisyphos im Management (wie Anm. 41), 38ff.