Sehr häufig bilden Organisationen überschüssige Reserven aus – organisatorische Fettpolster oder auch „Slack“, die nicht dem eigentlichen Arbeitszweck dienen und aktuell nicht von der Organisation nachgefragt werden. Eine Armee hält sich Ersatzteile für Panzer auch dann vorrätig, wenn kein militärischer Konflikt bevorsteht. An zentralen Bahnhöfen unterhalten staatliche Verkehrsbetriebe Pools von Technikern, die komplizierte Fehlerquellen beseitigen können, auch wenn deren Qualifikationen nur selten nachgefragt wird. Ein Landkreis erklärt sich bereit, Krankenhausbetten zu finanzieren, die nicht permanent gebraucht werden, um auf eine Katastrophe oder eine Pandemie eingestellt zu sein.[1]
Genau dieser Slack steht immer wieder in der Kritik. Fettpolster einer Organisation werden als unnötige Kostentreiber oder als Verschwendung gebrandmarkt. Auf vielfältige Art wird versucht, den organisatorischen Slack zu reduzieren. Mit viel gepriesenen Wunderpillen wie etwa der Gemeinkostenwertanalyse werden Fettpolster ausgemacht und herausgesaugt. Mit Einstellungstop und Cost-cutting wird dem Unternehmen eine „radikale Hungerkur“ verordnet. Wenn alles nichts hilft, werden im Rahmen von Outsourcing-Strategien ganze, als zu fettlastig angesehene Unternehmensteile „amputiert“.[2]
Viele Organisationen, die konsequent auf Verschlankung – Lean Management – setzen, handeln sich mit dem Abbau von organisatorischen Fettpolstern jedoch erhebliche Probleme ein. Die Puffer und Ressourcen helfen, Konflikte zu vermeiden, weil sie Organisationen davon entlasten, alle Ziele in einer Organisation auf einen Nenner zu bringen. Konflikte werden dadurch gedämpft, dass die Organisation überschüssige Ressourcen zur Verfügung stellt, sodass unterschiedliche, auch entgegengesetzte Bedürfnisse befriedigt werden können. Umfangreiche Zwischenlager verhindern, dass Konflikte zwischen dem Produktionsbereich und dem Vertrieb aufkommen. Große finanzielle Ressourcen verringern das Risiko, dass gleichzeitig auftretende Ansprüche von verschiedenen Abteilungen nicht erfüllt werden können.[3]
Ein weiterer Grund, Ressourcen und Polster aufzubauen, liegt in dem Umstand, dass sich dadurch etwaige Fehler nicht direkt bis tief in die Organisation durchschlagen. Für einige Unternehmen mag es sinnvoll sein, dass man bei einem kleinen Fehler an einem Produkt per „Reißleine“ gleich das ganze Fließband so lange lahmlegt, bis dieser Fehler behoben ist. Für viele Betriebe kommt es jedoch darauf an, das eigene Produktionssystem über Puffer so zu gestalten, dass man eine bestimmte Anzahl von Fehlern im System ertragen kann. Bestimmte Organisationen müssen verhindern, dass jeder Ausnahmefall in einem geregelten Prozess gleich zum Zwischenfall wird. Durch Puffer und Reserven lose gekoppelte Organisationen sind im wahrsten Sinne des Wortes toleranter gegenüber Fehlern.
Besonders unter Innovationsgesichtspunkten können Fettpolster eine zentrale Funktion in Organisationen erfüllen: Ein Unternehmen, welches sich perfekt einer bestimmten Marktsituation angepasst hat und die ganze Organisation auf die effiziente Bedienung dieser Marktnische ausrichtet, kann ein grundlegendes Problem bekommen, wenn sich die Marktsituation ändern. Es sind keine überschüssigen Ressourcen mehr vorhanden, mit dem es sich auf neue Gegebenheiten effektiv einstellen kann. Das Unternehmen ist zwar aufgrund des Abbaus von Ressourcen, Puffern und Fettpolstern an die Marktsituation angepasst, aber eben nicht mehr anpassungsfähig.
Das heißt, dass es gerade in Umweltsituationen, in denen eine hohe Flexibilität von Organisationen gefragt ist, notwendig ist, kurzfristig personelle, finanzielle, materielle und intellektuelle Ressourcen mobilisieren zu können. Sie können den nötigen Spielraum zur Erprobung von Neuem schaffen. Sie können die entscheidende Reserve für Innovation und Wandel darstellen. Fettpolster erschaffen und stellen in Organisationen einen Überschuss an Zeit und Ressourcen zur Verfügung, der dafür genutzt werden kann, Neues auszuprobieren. Organisationen schaffen sich Reservate, in denen bewusst Verschwendung herrscht. Man hofft, dass die Zeit von den freigestellten Mitarbeitern für etwas Sinnvolles genutzt werde.[4]
Aber die starke Betonung des Nutzens von Puffern und Ressourcen in Form von Konfliktdämpfung, Fehlerfreundlichkeit, Vorbereitung auf Überlast und Förderung von Innovation darf nicht davon ablenken, dass wir es bei den Puffern und Fettpolstern mit einem organisatorischen Dilemma zu tun haben. Der bewusste Einbau von Reserven ist in letzter Konsequenz eine Aufforderung zur organisatorischen Selbstbehinderung. Unternehmen entwickeln einen gewissen organisatorischen Schlendrian, hoffend, dass sie dadurch eine Reserve für den Fall haben, dass plötzlich neue Anforderungen an sie herangetragen werden. Organisationen legen sich Fettpolster an, lassen Redundanzen in ihren Prozessen zu, alles in der Hoffnung, dass die Mitarbeiter diese Ressourcen für Innovationen, Flexibilität und Wandel nutzen. Anders ausgedrückt: Organisationen setzen auf eine schlampige Gestaltung von Arbeits- und Entscheidungsprozessen, um dadurch über gute Möglichkeiten zu verfügen, mit zukünftigen Problemen zurechtzukommen.[5]
Die Produktion von Reserven und das Zulassen von Fehlern stellt sich so dar, als wenn man Kaffee- und Teepausen einrichtet, nur damit sich die Mitarbeiter ohne Zwang und Ziel informal treffen, in der Hoffnung, dass die Mitarbeiter diese Chancen dazu nutzen, Innovationen auszuhecken. Es ist, als ob man zur Schaffung von Innovationen und zur Ermöglichung von Wandel Unternehmensgebäude mit langen Fluren, geräumigen, fehleranfälligen und langsamen Liften und nur wenigen, häufig verstopften Toiletten ausstattet – hoffend, dass die Mitarbeiter die so entstehenden Kontaktmöglichkeiten für kreative Prozesse nutzen.[6]
Organisatorische Selbstbehinderung durch Schlampigkeit und Schlendrian kann dazu führen, dass die Reserven zur Entwicklung von Innovation genutzt werden – muss es aber nicht. Organisationen sind eben nicht in der Lage darüber zu verfügen, wofür die Fettpolster, die Puffer und Reserven genutzt werden können. Es ist möglich, dass die Kaffeepausen, die langen Flure, die geräumigen und langsamen Lifte und wenigen Toiletten zur Folge haben, dass die Mitarbeiter Kreativität entwickeln, es kann aber ebenso dazu führen, dass die Mitarbeiter von Kaffeepause zu Kaffeepause eilen, entnervt gegen die Liftwände trommeln, sich abends nicht mehr auf die langen Flure trauen und das Benutzen der Toiletten zum alptraumartigen Erlebnis wird.[7]
[1] Erste Überlegungen von mir dazu finden sich in S. Kühl: Von der Suche nach Rationalität zur Arbeit an Dilemmata und Paradoxen (wie Anm. 140), 309f. Ausführlichere Ausarbeitungen in Hinblick auf das Konzept des Lean Managements in S. Kühl: Das Regenmacher-Phänomen (wie Anm. 74), 138ff.
[2] Siehe dazu Ralph D. Stacey: Managing Chaos. Dynamic Business Strategies in an Unpredictable World. London 1992, S. 25.
[3] James G. March: Eine Chronik der Überlegungen über Entscheidungsprozesse in Organisationen. In: ders. (Hrsg.): Entscheidung und Organisation: Kritische und konstruktive Beiträge. Wiesbaden 1990, S. 2–23, hier S. 8.
[4] R. M. Cyert, J. G. March: A Behavorial Theory of the Firm (wie Anm. 163), 36ff.
[5] K. E. Weick: Der Prozeß des Organisierens (wie Anm. 77), 352f.
[6] So eine Aussage, von Niklas Luhmann, die auf einem intensiven Studium der informalen Kommunikationsstrukturen im Hauptgebäude der der Universität Bielefeld aufgrund von engen Gängen und verknappten Toiletten beruht. Siehe N. Luhmann: Organisation und Entscheidung (wie Anm. 147), S. 358.
[7] Siehe zum „Fettpolster-Dilemma“ ausführlich S. Kühl: Das Regenmacher-Phänomen (wie Anm. 74), 138ff.